Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.01.2002. Die FAZ macht uns auf ein Buch von Andre Glucksmann aufmerksam, das dem Westen Selbsthass vorwirft. Die NZZ hat den den Roman von Saddam Hussein gelesen und beschreibt seinen Einfluss auf die irakische Literatur. In der SZ macht man sich Sorgen um das pakistanische Militär und die taz stellt eine Kommerzialisierung der chinesischen Kulturpolitik fest.

FAZ, 14.01.2002

Jürg Altwegg verweist auf das neue Buch des französischen Philosophen Andre Glucksmann, "Dostojevski a Manhattan", das sich nach dem 11. September kritisch mit Francis Fukuyama und Samual Huntington auseinandersetzt und die Prinzipien des antitotalitären Denkens auf die Ereignisse anwenden will: "Die gesamten Resultate der französischen Vergangenheitsbewältigung sind in seine engagierte Analyse eingeflossen. Die Bereitschaft, vor dem Horror nicht die Augen zu verschließen. Der Antitotalitarismus gegen jegliche Ideologie und Religion. Die Überwindung des schlechten Gewissens des Westens, dessen Selbsthass sich in der Dritte-Welt-Ideologie manifestiert hatte. Schließlich die Pflicht zur Einmischung, zum militärischen Eingreifen, bevor sich das Schlimmste ereignet. Mehr als den Krieg der Kulturen fürchtet Glucksmann eine 'schleichende Nihilisierung' der ganzen Welt.

Droht eine Ossifikation der Berliner Politik? Die rot-rote Koalition in Berlin hat sich gebildet, als erstes wurde die Schließung des Theaters des Westens und die Degradierung der Universitätsklinik des Westens zum Kreiskrankenhaus beschlossen. Johan Schloemann berichtet von Protesten dagegen und fürchtet eine Degradierung der Freien Universität insgesamt: "Wer aus historischen Gründen die Freie Universität als 'Volluniversität' betrachtet, wird ihrem Präsidenten recht geben, wenn er erklärt, die Schließungspläne seien 'auch eine Attacke auf die FU insgesamt, ein Substanzverlust, der ihr eine Zweitrangigkeit' zuweise."

Weitere Artikel: Eva Menasse berichtet, wie Jörg Haider nach einem Gerichtsurteil, das eine bessere Berücksichtigung der slowenischen Minderheit in Kärnten verfügte, rechtspopulistische Stimmung macht gegen den Richter. Ganzseitig dokumentiert wird eine Umfrage des Internetmagazins Edge.org, in der sich die Größen der Dritten Kultur die Fragen selbst stellen und erläutern, warum sie sie stellen. Im Aufmacher versucht Patrick Bahners die Stimmung im Land und der CDU nach der Nominierung Edmund Stoibers als Kanzlerkandidat zu ergründen. Und Hannes Hintermeier macht uns mit "Stoibers Stamm" bekannt. Ebenfalls auf Seite 1 des Feuilletons bekundet Walter Berschin Zweifel an der These, dass die Schriften der Roswitha von Gandersheim erst um 1500 gefälscht worden sein sollen.

Ferner berichtet Siegfried Stadler aus Dresden, wo sich Protest dagegen regt, dass zwar die Frauenkirche, aber nicht die darin befindliche Silbermannorgel originalgetreu wiederaufgebaut werden sollen. Auf der Medienseite vergleicht Paul Ingendaay Dieter Wedels Fernsehsechsteiler "Die Affäre Semmeling" mit den viktorianischen Romanen eines Anthony Trollope. Michael Hanfeld fragt: "Wer ist Kandidat für die ZDF-Intendanz und wer nicht?" Und Rainer Herrmann berichtet vom "bizarren Medienkrieg" zweier türkischer Familienclans. Wilfried Wiegand schreibt zum Tod des französischen Regisseurs Henri Verneuil. Hans-Dieter Seidel gratuliert dem Schauspieler und Regisseur Michael Gwisdek zum Sechzigsten. Auf der letzten Seite berichtet Verena Lueken über Plagiatsvorwürfe gegen den populär-patriotischen Historiker des Zweiten Weltkriegs Stephen Ambrose. Und Jordan Mejias gedenkt des Broadway-Musicals "Fantastick", das nach 42 Jahren Laufzeit endgültig abgesetzt wird.

Besprochen werden "Viel Lärm um nichts" am Hamburger Thalia Theater, die Uraufführung von Tankred Dorsts Stück "Die Freude am Leben" in Bonn, ein Konzert des Bassisten Lonnie Plaxico, der sich auf Deutschlandtournee befindet und ein Musical über Nico in Darmstadt.

TAZ, 14.01.2002

Martin Ebner verkündet eine neue chinesische Kulturpolitik. Vorbei sei die Zeit, "da die chinesische Regierung ihre Untertanen aufforderte, alte Vasen, Statuen und andere bourgeoise Erbstücke zu Sammelstellen für nutzlose Objekte zu bringen". Kulturelle Kommerzialisierung heiße jetzt die Devise, die China zum Kulturland Nummer eins machen soll: "Schanghai vertreibt die Schwerindustrie aus dem Stadtzentrum und versucht, die Angestellten der umworbenen Finanz- und Hightech-Branchen mit attraktiven Freizeitangeboten bei Laune zu halten. Peking investiert Millionen in Theater, Bibliotheken und Kunsthallen. Weil es Touristen weniger in Hochhausschluchten und mehr zu schwungvoll gebogenen Ziegeldächern zieht, hat die Hauptstadt nach jahrelangen Betonorgien 25 Altstadtviertel unter Schutz gestellt. Der letzte vorhandene Innenhof aus der Ming-Zeit wurde allerdings abgerissen, um Platz zu machen für die Olympiade." Bisher ist es tatsächlich noch nicht so gut um die Kulturnation (hier mehr) bestellt. "Auf eine Million Chinesen kommt nur ein Museum; in dem riesigen Land kümmern sich nur rund 60.000 Menschen hauptberuflich und meist schlecht bezahlt um das Kulturerbe."

Doch, doch: Kunst ist Ware. Brigitte Werneburg fasst die die aktuelle Ausgabe der Texte zur Kunst zusammen, in der eine Verschiebung des Kunstmarktes von Galerien hin zu Auktionshäuserns konstatiert wird. Lilli Brand erzählt die unglaubliche Liebesgeschichte des Berliner Taxifahrers Donat. Und Klaus Modick widmet sich in einer ganzseitigen Besprechung Walter Kempowskis (hier mehr) Tagebuch aus dem geschichtsträchtigen Jahr 1989 "Alkor" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und schließlich Tom.

SZ, 14.01.2002

Der Journalist Tariq Ali macht sich Sorgen über die Auswirkungen des amerikanisch-afghanischen Krieges auf das Militär in Pakistan: "Die Preisgabe der Taliban wird für viele pakistanische Armeeangehörige schwer zu schlucken sein, zumal auf der unteren Befehlsebene, wo der religiöse Einfluss am stärksten ist. Aber auch eher säkular gesinnte Offiziere sind unzufrieden. Dass die Taliban die Macht in Kabul übernahmen, war der einzige Sieg, den die pakistanische Armee je zu verzeichnen hatte." Zur Kompensation könnten die pakistanischen Generäle einen Krieg mit Indien um Kaschmir anzetteln, fürchtet Ali, der für ein "autonomes Kaschmir" plädiert, "das seine Souveränität mit Indien und Pakistan und sogar mit China teilt".

Willi Winkler befasst sich aus gegebenem Anlass in seiner Heimatkunde mit Bayern und stellt fest, dass die Effizienz der bayrischen Verbrechensbekämpfung schon vor mehr als 200 Jahren die deutschen Beobachter beeindruckte: "Wilhelm Ludwig Wekhrlin (1739 bis 1792), aus Botnang im Schwäbischen gebürtig und deshalb jeder Sympathie unverdächtig, widmete sich liebevoll dem Volkscharakter: 'Der Baier ist falsch, grausam, abergläubisch, und verwegen. Nirgendwo trifft man mehr Räder, Galgen und Schergen an, als in Baiern. Hier sind die Landstraßen auf beeden Seiten mit Galgen bepflanzt, so wie sie in policierten Ländern mit Maulbeerbäumen bepflanzt sind. Man muß gestehen, die Criminal-Gerechtigkeit des Landes ist scharf, kurz und exakt.'" Wie ein Fallbeil.

Weitere Artikel: Am Mittwoch eröffnet das Deutsche Historische Museum eine Ausstellung über den Holocaust, die erste überhaupt in Deutschland. Der Historiker Hans Mommsen (mehr hiergeht der Frage nach, warum die Shoah nur zögernd zum Gegenstand öffentlicher Ausstellung gemacht worden ist. H.G.Pflaum erinnert an den verstorbenen Regisseur Henri Verneuil. Der frühere Hamburger Wirtschaftssenator Thomas Mirow begutachtet Dieter Wedels "Affäre Semmeling" von kompetenter Seite aus, findet die ZDF-Serie aber überhaupt nicht realitätsnah.

Besprochen werden: die Uraufführung von Tankred Dorsts neuem Stück "Die Freude am Leben" (leider gar nicht gut) und Yasmina Rezas neue Komödie "Drei mal Leben"im Münchner Cuvillies-Theater (schon besser), eine Ausstellung von Richard Prince im Museum für Gegenwartskunst in Basel, die Roboterschau "Ex machina" im Kölner Museum für Angewandte Kunst sowie das Jugend-Konzert der Münchner Philharmoniker mit James Levine und Bücher, darunter Barabra Lambauers Porträt des Chefarchitekten der französischen Kollaboration, des Botschafters Otto Abetz.

FR, 14.01.2002

Den amerikanischsten unter den französischen Cineasten nennt Peter W. Jansen den Regisseur Henri Verneuil, der am Wochenende in Paris starb: "Selten ist ein Filmregisseur von seinem Format und Erfolg ähnlich verachtet worden, hauptsächlich, indem man ihn einfach nicht beachtete. Sie entdeckten Mankiewicz und Fuller, Preminger und Sirk, und sie liebten das amerikanische Kino, die jungen Kinowächter der Nouvelle Vague, aber wehe, in Frankreich versuchte jemand so zu filmen wie in Hollywood. So ist Henri Verneuil lange nicht hinzu addiert worden zum buchungswerten Kino des Landes, nicht mit eingeschrieben worden in die Filmgeschichte der Nation."

In weiteren Artikeln würdigt der Satiriker Mathias Wedel Angela Merkels Selbstverbrennung als Kandidaten-Kandidatin, berichtet Eva Schweitzer von der nachgeholten Geburtstagsparty der New York Times (laut Schweitzer die einzige Zeitung in den USA von Rang, die Stellung gegen die Militärgerichte bezieht).
 
Besprechungen widmen sich Goethes "Clavigo" mit vertauschten Geschlechterrollen am Zürcher Schauspielhaus und politischen Büchern, darunter Desmond Tutus Buch über die Wahrheitskommission in Südafrika "Keine Zukunft ohne Versöhnung" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 14.01.2002

Wenigstens ein Politiker, der der Literatur noch so viel Einfluss zutraut, dass er selbst Romane schreibt. Wadih Saadah hat den neuesten Roman von Saddam Hussein gelesen und gibt uns einen kleinen Einblick in seinen großartigen Entwurf: "In 'Die unbezwingbare Zitadelle' verliebt sich der Baath-Aktivist Sabah in eine Kurdin, der er auf der Universität begegnet. Sabah wird vor die Wahl zwischen der Geliebten und der 'Zitadelle', dem über Generationen vererbten Wohnsitz der Familie, gestellt. Für den Vorschlag der jungen Frau, sich in den Besitz der Zitadelle zu teilen, hat er kein Musikgehör: 'Nein zu dem Gefühl . . . Nein zu der Liebe, die zum Zusammenbruch der Zitadelle führen könnte.' Auch hier ist der politische Subtext offensichtlich. Saddam nimmt die Bemühungen Irans aufs Korn, die kurdische Bevölkerung im Norden des Iraks zu einer Sezession zu bewegen, und von den Kurden heisst es unverblümt, sie seien 'Sezessionisten, welche die Tore Kurdistans für Spione und Kollaborateure öffnen'." Die irakischen Schriftsteller sind derart begeistert von diesem Werk, berichtet Saadah, dass sie nun selbst reihenweise Romane nach diesem Muster schreiben.

Simone Wille hat die iranische Künstlerin Shirin Neshat (Bilder) in New York besucht, wo sie sich mit ihren beiden Kulturen und dem Bild der Frau im Islam beschäftigt: "Das Bild der Frau, das sie uns zeigt, ist nicht das von unterdrückten, bedauernswerten Individuen, sondern, ganz im Gegenteil, sie zeigt Frauen als Siegerinnen. Die eine Meinung kennt nur die Vorstellung der armen, unterdrückten Frauen und ist irritiert, während eine andere nichts von siegreichen verschleierten Frauen wissen will. Für die einen kritisiert sie zu sehr, und für die anderen trägt sie zu viel Romantik auf.."

Weiteres: Rolf Niederer schreibt zum Tod des Filmregisseurs Henri Verneuil. Alfred Zimmerlin schreibt zum Tod des Schweizer Komponisten Edward Staempfli. Besprochen werden die Ausstellung "Ausgeträumt" in der Wiener Sezession, Mozarts Azione sacra "La Betulia liberata" in Luzern, die Mies-van-der-Rohe-Ausstellung im Alten Museum Berlin.