Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.02.2002. In der SZ äußern sich Carl Friedrich von Weizsäcker und Michael Frayn über die neuen Dokumente zur "Friedensmission" Werner Heisenbergs - sie sollte wohl vor allem verhindern, dass eine Atombombe auf Deutschland fällt. Die FAZ porträtiert Rupert Murdoch. Die NZZ fragt: Muss der Alexander-Fest-Verlag wirklich aufgelöst werden und antwortet: Ja. In der taz hören wir, was Punk ist.

SZ, 08.02.2002

Im Streit um die soeben veröffentlichten Dokumente aus dem Bohr-Nachlass und um die Frage, was die deutschen Atomphysiker Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker bei Niels Bohr im besetzten Kopenhagen September 1941 zu suchen hatten (die SZ berichtete gestern über die Hintergründe) glaubt sich Ulrich Kühne "einer abschließenden Deutung der damaligen Ereignisse" nahe. Im Interview mit Carl Friedrich von Weizsäcker scheint sich herauszustellen, dass "die 'Friedensmission' Heisenbergs – der weltweite Verzicht aller Physiker auf den Bau der Atombombe – durchaus eine eigennützige Grundlage (hatte): die reale Angst, den Krieg durch die alliierte Atombombe zu verlieren". Oder, wie der Physiker sich ausdrückt: Es galt zu erreichen, "dass nicht eine Bombe auf uns fällt". Zusätzlich gibt es ein Gespräch mit dem Autor Michael Frayn (mehr hier) über sein nun von der Wirklichkeit eingeholtes (Erfolgs-)Stück "Kopenhagen".

Der israelische Historiker Moshe Zimmermann berichtet von einer in Israel infolge von Wehrdienstverweigerungen geführten Debatte über die Moral der Besatzungspolitik und meint, dass der Streit auch prinzipiell ums Widerstandsrecht in einer Demokratie geht. "Das sollte auch dem deutschen Außenminister bewusst sein, wenn er nächste Woche in Israel die Vertreter des Militärestablishments, Sharon, Ben Eliezer und Peres, trifft. Man erwartet von dem grünen Politiker Fischer eine andere Haltung zur Kriegsdienstverweigerung als von George W. Bush."

Weitere Artikel: Verena Auffermann erzählt, wie Patrick Roth als Poetikdozent in Frankfurt Hollywood und die griechische Mythologie zusammenführt, Wolfgang Koydl nervt der Fahnenfluch in den USA. Schließlich liefert die SZ noch Glückwünsche zum 70. des Filmkomponisten John Williams (mehr hier).

Besprechungen gibt es zu der Ausstellung "Paris, Hauptstadt der Künste 1900-1968" in der Londoner Royal Academy, zu Leander Haußmanns "Sommernachtstraum" am Berliner Ensemble, zur Berlinale-Retrospektive "European 60s" und Filmen von Paul Greengrass ("Bloody Sunday") und Zhang Yimou ("Happy Days"), die beide im Berlinale-Wettbewerb laufen (siehe dazu auch unsere ständig aktualisierte Kolumne "Außer Atem"), ferner zu Brett Ratners zweitem "Rush Hour"-Film mit Jackie Chan, zu Edward Saids bisher nur auf Englisch erschienenen Essays aus den Jahren 1967–1988 sowie zu zwei Romanen von Charles-Louis Philippe in neuer Übersetzung (auch in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 08.02.2002

Kaum gerät Kirchs Imperium in Bedrängnis, erscheint es als eine Art Nationalheiligtum, das nun vor einem noch dunkleren Magnaten gerettet werden muss: Rupert Murdoch. Gina Thomas zeichnet aus gegebenem Anlass ein Porträt. "Gewiss mischt sich Murdoch hier und da auch ins Redaktionsgeschäft ein, in Sachen, die ihm besonders am Herzen liegen. Aber der Eindruck, dass er den Mitarbeitern in seinem Konzern ständig vorschreibt, wie sie sich zu verhalten haben, trügt. Murdoch sucht sich meist Chefredakteure aus, die ihm nach dem Munde reden, ohne dass er mit der Faust auf den Tisch hauen muss." So etwas darf in Deutschland nicht passieren!

Weiteres: Der Historiker Wolfgang J. Mommsen fürchtet "äußerst bedenkliche Auswirkungen auf die geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschungsdisziplinen", falls die von forschungsministerin Edelgard Bilmahn geplante Juniorprofessur tatsächlich eingeführt wird. Hanno Rauterberg berichtet über die von der SZ aufgebrachten Gerüchte, die neue Hamburger Kultursenatorin Dana Horakova sei einst ein IM des tschechischen Geheimdienstes gewesen - der Vorwurf lässt sich offensichtlich nicht erhärten. Verena Lueken berichtet über den Streit, den die vom New Yorker Jüdischen Museum für März geplante Ausstellung "Mirroring Evil: Nazi Imagery/Recent Art" schon jetzt auslöst. Joseph Hanimann hat einem Videovortrag des Architekten Peter Eisenman zugehört, wo er einen Neubauentwurf auf den Hügeln vor Santiago de Compostela vorstellte. Lorenz Jäger gratuliert Klaus Theweleit zum Sechzigsten. Heike Hupertz informiert uns, dass Kim Catrall aus der Fernsehserie "Sex and the City" einen an die Männer adressierten Sexratgeber geschrieben hat, der die amerikanischen Bestsellerlisten anführt: Hier ein Kapitel aus "Satisfaction - The art of the female orgasm".

In Carl Zuckmayers Geheimdienstkolumne geht es um G.W. Pabst. Stefanie Flamm war bei der Trauerfeier für Hildegard Knef. Jürg Altwegg meldet, dass nun auch Paris, neben Angoulême, ein Comicfestival haben will. Von Andreas Rossmann erfahren wir, dass Gerard Mortiers Ruhr-Triennale im Jahr 2003 mit Racines "Phedre" in der Regie von Patrice Chereau und mit Isabel Adjani in der Titelrolle eröffnet wird. Vladimir Putins Jugendorganisation "Iduschtschie wmeste" wurde jüngst durch literarische Säuberungsaktionen bekannt. Nun will sie einen Schritt weiter gehen und alle Mitglieder ausschließen, die mit der Aktion nicht einverstanden waren, meldet Kerstin Holm. Pia Reinacher gratuliert der Lyrikerin Erika Burkart zum Achtzigsten. Kerstin Holm hat sich auf eine Reise ins Kunstmuseum von Kasan begeben. Dieter Bartetzko schreibt zum 500. Geburtstag der Lucrezia Borgia, der in ihrer Geburtsstadt Ferrara ausgiebig gefeiert wird. Dietmar Dath denkt über Genie und Wahnsinn bei Mathematikern nach. Und Christian Schwägerl begleitet Forschungsministerin Edelgard Bulmahn auf Dienstreise ins Biotech-Valley bei Boston.

Auf der Berlinale-Seite bespricht Michael Allmaier Paul Greengrass' Film "Bloody Sunday". Michael Althen unterhält sich mit Bertrand Tavernier über seinen neuen Film "Laissez-passer", der heute Nachmittag im Wettbewerb läuft - der Film handelt vom französischen Kino unter deutscher Besatzung. "Nichts ist leicht gewesen in jenen Jahren, nichts nur schwarzweiß - und man tut sich keinen Gefallen, wenn man da vorschnell moralische Urteile über die Leute fällt." Bert Rebhandl schreibt über osteuropäische Filme in der Sechziger-Jahre-Retrospektive. Und Peter Körte bringt Impressionen vom Eröffnungsempfang der Berlinale im Paul-Löbe-Haus.

Besprochen werden eine Werkschau des Architekten Oscar Niemeyer in Paris, das Scottish Folk Festival in Frankfurt, Leander Haußmanns Berliner "Sommernachtstraum" ("kein Taumel, keine Orgie, kein Albtraum. Bloß eine schleimig ausgewalzte Altmännersommerphantasielosigkeit", schreibt Irene Bazinger) und die "Falsches-Leben"Theatershow im "Prater" der Berliner Volksbühne.

Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht's um eine neue CD der Gruppe Sneaker Pimps, um einspielungen von Mussorgskys "Bildern einer Austellung", um eine CD des Techno-Projekts Drexciya und um den präzisen Bass der Sofa Surfers.

TAZ, 08.02.2002

Thomas Winkler liefert ein Porträt des Punkrockers Brett Gurewitz, dem Gründer und Gitarristen von Bad Religion (mehr hier und vor allem hier), und fragt ihn, als einen, der es wissen muss, was er schon immer wissen wollte: Was eigentlich ist Punk? So allgemein kann Gurewitz das auch nicht beantworten. Aber er erklärt, dass Bad Religion und ihr Punkrock nach den Ereignissen vom 11. September wieder eine gewisse Verantwortung hätten, weil viele Bands, Künstler und andere öffentliche Figuren, die die Regierung bisher kritisiert hätten, verstummt seien. Wenn man gerade das aufgebe, so Gurewitz, gebe man die positiven Aspekte der Demokratie auf. Da staunt Winkler nun aber: "Im Jahre 2002 kann selbst ein solches Bekenntnis zu westlichen Werten in eine Idee von Punkrock integriert werden. Komische Sache, das. Sid Vicious und sein Hakenkreuz-T-Shirt werden in ihrem gemeinsamen Grab rotieren." Hier noch was zum Hören (real player).

Weiteres: David Lauer stellt ein Buch über den Erkenntniswert von Bildern und Musik vor (Matthias Vogels "Medien der Vernunft"), Arno Frank hat schon die passende Musik zum Frühling parat: The Bees. Auf den Berlinale-Seiten der taz berichtet Dorothea Hahn über den Streit, den Bertrand Taverniers Film "Laisser-passez" in Frankreich ausgelöst hat. Es geht um Filmemacher während der deutschen Okkupation, um Kollaboration und Widerstand. Der Film läuft heute mittag im Wettbewerbsprogramm der Berlinale. Und die Tagesthemen widmen sich der Kirch-Pleite und den möglichen Rettern (hier).

Schließlich Tom.

NZZ, 08.02.2002

"War das wirklich nötig?", fragt Joachim Güntner und meint damit die Auflösung des Alexander-Fest-Verlags, dessen Gründer ja nun Chef bei Rowohlt wird. Ja, es war wirklich nötig antwortet er selbst: "Alexander Fest war nicht nur der Kopf, er war auch Gesellschafter seines kleinen Verlages und damit am Umsatz beteiligt. Bliebe er dies, zusätzlich zu seiner künftigen Aufgabe als Rowohlt-Verleger, entstünde nahezu zwangsläufig eine Dauerbeobachtung durch scheele Blicke. Würden sich, und sei es auch nur zufällig, unter dem Fest-Label die besonders erfolgreichen Titel akkumulieren, müsste die Stuttgarter Konzernzentrale argwöhnen, der Verleger denke vor allem an jene Umsätze, die ihm selbst in besonderem Masse die Tasche füllen. Ebenso unerquicklich wäre die Situation mit den Mitarbeitern. Ständig gäbe es wache Aufmerksamkeit, wenn nicht Eifersucht unter den Lektoraten." Klingt ziemlich realistisch.

Weiteres: Franz Haas malt anhand der neuen Nummer der italienischen Zeitschrift MicroMega (die leider nicht im Netz ist) über den zehnten Jahrestag der "Mani pulite" und Nanni Morettis "Ohrfeige" an die italienische Linke ein düsteres Bild der Stimmung im Land. Rolf Urs Ringer stellt uns den Komponisten und Dirigenten Francesco D'Avalos vor. Elsbeth Pulver schreibt zum achtzigsten Geburtstag der Lyrikerin Erika Burkart. Besprochen wird die Ausstellung "Bali - Insel der Götter" in Basel.

FR, 08.02.2002

In der FR gibt Martina Meister Hildegard Knef das letzte Geleit und stellt, doppelt traurig, fest: "So ist das wohl oft mit den Stars, die ihre letzten Lebensjahre vergessen, manchmal auch verlassen und verarmt im Schatten des längst verblassten Glanzes verbringen. Wenn sie abtreten, versammelt sich noch ein letztes Mal die alte Fangemeinde und tut so, als wäre sie immer präsent gewesen. Erst am Ende wollen dann plötzlich alle geben, was sie sich, die Knef, ein ganzes Leben lang wünschte. Die roten Rosen, auf denen ihr Leben nicht gebettet war, nun regneten sie auf ihren Sarg."

Zur Berlinale: Daniela Sannwald stellt Dokumentarfilme aus dem Forum der Berlinale vor, und Heike Kühn schreibt über Zhang Yimous Tragikomödie "Happy Times", die außer Konkurrenz im Wettbewerb gezeigt wird.

Außerdem: In einem weiteren Artikel von Martina Meister erfahren wir, was eine Diskussionsveranstaltung des Potsdamer Einsteinforums und der DFG über die Stammzellenforschung am Rande auch zutage förderte: dass nämlich das Bedürfnis nach öffentlicher emotionaler Entladung stärker ist als das nach sachlicher Information zum Thema. Gunnar Lützow shoppt weiter und verrät diesmal, wo man in London überall Schnick Schnack dritten Grades kaufen kann, und Stephan Hilpold berichtet vom versuchten Neuanfang am Wiener Schauspielhaus (die Wiener selbst sind eher skeptisch).

Besprochen werden Leander Haußmanns "Sommernachtstraum" am Berliner Ensemble und eine Ausstellung über die Legende vom "ewigen Juden" im Pariser Musee d'art et d'histoire du judaisme.