Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.02.2002. Daniel Cohn-Bendit lobt in der taz den "Baader"-Film von Christopher Roth. Die SZ schnürt ein Dossier zur deutschen Bombe. Die NZZ stand auf der Kairoer Buchmesse vor leeren Regalen. Und in der FAZ hält der britische Schriftsteller Robert Harris Slobodan Milosevic für einen tapferen Kerl.

TAZ, 15.02.2002

In den Tagesthemen überrascht die taz mit einem Gespräch zwischen Christopher Roth, dessen RAF-Film "Baader" heute auf der Berlinale zu sehen ist, und Daniel Cohn-Bendit. Es geht um das Verhältnis Fiktion und Wirklichkeit, dessen Ausbalancierung im Film Cohn-Bendit für gut gelungen hält: "Da sind Emotionen, da sind Gefühle, er ist aber nicht schlüssig aus der Realität abgeleitet. Schlüssig wird nur gesagt, es gibt hier Waffen, es gibt Zerstörung, es gibt eine Beteiligung dieser Gesellschaft, die die Augen schließt bei Vietnam, es gibt die RAF und den 2. Juni. Das ist der Rahmen." Mehr episch erzählt als dokumentarisch eingefangen sei zum Beispiel auch, dass "Baader immer mit Mao-Tse-tung-Zitaten rumgelaufen (ist) und uns völlig kirre gemacht (hat). Ich finde die Geschichte im Film sehr schön dargestellt." Hört man dann Roth dazu, wirkt alles Theoretisieren eher überflüssig: "Ich habe mich schon mit Leuten getroffen und recherchiert. Aber irgendwann habe ich das einfach über den Haufen geworfen, mir ein eigenes Bild gemacht und eine eigene Geschichte erzählt, weil ich die Realität dann nicht mehr so interessant fand."

Weiteres aus der Kultur: Andreas Busche spiegelt sich in Gwyneth Paltrow in Bobby und Peter Farrellys neuem Film "Schwer verliebt" und Andreas Hartmann sieht im aktuellen Album von den Sofa Surfers ("Encounters") einen "Anschlag auf die Kuschelecke". Auf den Berlinale-Seiten der taz feiert Diedrich Diedrichsen die "Coquettes".

Schließlich noch Tom.

SZ, 15.02.2002

In der SZ erklärt Rainer Stephan, was er an der durch Günter Grass' neues Buch "Im Krebsgang" angestoßenen Vertriebenendebatte faul findet: Interessant sei das Thema allemal, nur irritiere die Tatsache, "dass diese scheinbar auch politisch hochexplosive Auseinandersetzung - und schon darin erweist sich ihr Phantomcharakter - in den Feuilletons verhaftet bleibt, ohne die Ebenen der realen Politik auch nur annähernd zu erreichen". Zudem erkennt Stephan eine Tradition in der Behandlung des Vertriebenenthemas - von Arno Schmidt, Siegfried Lenz, Walter Kempowski und Alexander Kluge über Leonie Ossowskis Schlesientrilogie bis hin zu Arno Surminskis Roman "Sommer 44" und W.G.Sebald - die, wie er schreibt, all jene der Ignoranz oder eines schlechten Erinnerungsvermögens überführte, die Grass jetzt als Tabubrecher feierten.

Nächstes Debattenthema: die deutsche Bombe. Die SZ hat ein Dossier geschnürt. Lauter amerikanische Historiker und Wissenschaftsforscher geben sich den Griffel in die Hand, darunter: Mark Walker ("Die Uranmaschine"), der Bohrs und Heisenbergs Versionen über das Stockholmer Treffen für kompatibel hält, "wenn man akzeptiert, dass beider Erinnerung mit der Zeit verblichen ist". Paul Lawrence Rose, der auf dem bereits in seinem Buch "Heisenberg und das Atombombenprojekt der Nazis" niedergelegten Standpunkt besteht, die Bohr-Briefe entlarvten Heisenbergs Rechtfertigung des Nazisieges über Europa und seine Versuche, nach dem Krieg die historischen Darstellungen zu verändern (hier kann man einen Artikel aus der NY Review of Books nachlesen.). Und Thomas Powers ("Heisenberg's War: The Secret History of the German Bomb"), der, ganz im Gegensatz zu Rose, der Meinung ist, dass die Briefe weniger verraten, warum Heisenberg zu Bohr reiste, als vielmehr die Wut, "die Bohr damals und auch noch später gespürt hatte".

Weitere Artikel: Patrick Barton schreibt über eine handfeste Finanzkrise bei Guggenheims in New York, Jens Bisky berichtet von einer Diskussion in Berlin, auf der Edelgard Bulmahn ihren Standpunkt in der Hochschuldebatte verteidigte, Joachim Hentschel schwärmt vom "neuen Dylan" Ryan Adams, der doch ganz er selbst ist, Eva-Elisabeth Fischer hat sich die fünfte Tanzplattform Deutschland in Leipzig angesehen, Jonathan Fischer beklagt den Tod des Countrysängers Waylon Jennings.

Und im Berlinale-Teil gibt es Besprechungen zu "Sobibor" von Claude Lanzmann, zu "Sur mes levres" von Jacques Audiard und "Kriegerin des Lichts" von Monika Treut (beide hier) sowie Norbert Grobs Eindrücke von der Theoriebegleitveranstaltung "Framing Reality", die gestern versuchte, das Verhältnis Film und Realität zu bestimmen: "Ein utopisches Moment wurde da beschworen, als könne sich in Filmen etwas ganz Besonderes enthüllen, durch jede Fiktion hindurch, ein Augenblick noch unentdeckter, noch ungesehener Realität, der entwirrt, erhellt, klarstellt." Schön wär's ja.

Besprochen werden außerdem die Arnold Böcklin-Ausstellung in der Neuen Pinakothek München, Peer Boysens musikalische Inszenierung von Mozarts "La clemenza di Tito" in Innsbruck, Smetanas "Die verkaufte Braut" am Staatstheater Braunschweig. Schließlich Bücher: der Code Napoleon als Faksimile-Nachdruck, ein Roman mit einem Antiquar als Helden und eine Neuauflage des Debütromans von Dacia Maraini (auch in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

NZZ, 15.02.2002

Pannen und Debatten hat Mona Naggar auf der Kairoer Buchmesse erlebt. Aus irgendwelchen Gründen wurde die Bücher aus Syrien und dem Libanon im Hafen von Dumyat festgehalten und nicht abgefertigt. So "standen die Bücherregale vieler großer libanesischer und syrischer Verlage leer." Debattiert wurde auf der Buchmesse vor allem über den islamischen Fundamentalismus. "Das Schlagwort Selbstkritik war auf verschiedenen Diskussionsforen zu hören. Sayyid Yasin vom staatlichen Ahram-Zentrum für strategische Studien etwa kritisierte den bisherigen Umgang der arabisch-islamischen Gesellschaften mit radikalen Phänomenen ... Leider wollte Yasin bei späterer Nachfrage auf Details nicht eingehen. Der Wissenschafter, der sich zur Loyalität mit Präsident Mubarak bekennt, käme dann natürlich nicht umhin, die Versäumnisse der ägyptischen Regierung zu erwähnen. "

Naomi Bubis berichtet über das "Kinneret Covenant", ein Grundsatzdokument für das Leben in einem jüdisch-demokratischen Israel. Verfasst wurde es von "sechzig Persönlichkeiten aus verschiedensten Gesellschaftsbereichen" Israels. "Diskutiert wurde über zentrale Fragen, die sich jeder Israeli stellt: Wer sind wir? Wofür kämpfen wir? Ist ein jüdischer Staat mit demokratischen Prinzipien zu vereinbaren? Wird Israel in 50 Jahren noch existieren? Die Verfasser geben sich versöhnlich, die Aussagen bleiben oberflächlich, umgehen eine tiefere Auseinandersetzung mit heiklen Themen." Dennoch, so Bubis, hat das Dokument "Signalfunktion", weil es von Rechten wie Linken unterzeichnet wurde.

Weitere Artikel: Patricia Benecke begutachtet die Londoner Theaterszene im neuen Jahr und findet nur scheingoldenes Mittelmass. Joachim Güntner hat die Nase voll von Michel Houellebecq, dem auf seiner Lesereise so wohlwollend zugehört wird: "Jeder andere Autor würde von der weit eher linksliberal denn reaktionär wirkenden Zuhörerschaft für das, was Houellebecq Lobendes zum Sextourismus oder Lästerliches zum Islam äussert, schrille Pfiffe ernten. Nicht so in diesem Fall. Wer möchte sich schon gern als moralisierender Gutmensch blamieren? Das könnte ja den mühsam erworbenen Durchblicker-Status kosten!"

Besprochen werden eine Ausstellung zur Geschichte der Roboter im Kölner Museum für angewandte Kunst und Filme auf der Berlinale: im Wettbewerb, im Forum und beim Kinderfilmfest.

FR, 15.02.2002

Die FR druckt einen Text des Yale-Politologen und Rechtswissenschaftlers Bruce Ackerman (ungekürzt und im Original hier). Darin gibt Ackerman Ratschläge für den Schutz der Bürgerrechte in Zeiten des Terrors und warnt: "Die Verteidiger der Freiheit müssen, um einen Zyklus der Repression zu verhindern, eine realistische Position einnehmen, die kurzfristige Notmaßnahmen erlaubt, aber dauerhafte Restriktionen begrenzt. Vor allem müssen wir die Politiker warnen, momentane Panik auszunutzen, um die Freiheit dauerhaft einzuschränken." Fest steht für Ackerman außerdem, "dass wir nur dann zu einer durchdachten Antwort kommen, wenn wir die herrschende Rhetorik kritisieren." Als weitere Mittel nennt er: "Kreatives juristisches Denken" und eine "Rechts-links-Koalition gegen die Freunde der Autorität", über nationale Grenzen hinweg.

Außerdem: Kerstin Grether erklärt, dass Nu Metal, die aktuelle Inkarnation des Rock, bereits in die Phase der Historisierung eintritt (Na und? Es lebe der Rock 'n' Roll!), Elke Buhr berichtet Bühnenreifes vom Streit um das Lissitzky-Erbe, und Marcia Pally empfiehlt uns die Berlinale-Kur: Richard Eyers' "Iris", die Geschichte von Iris Murdochs fortschreitender Alzheimer-Erkrankung, und Ron Howards "A Beautiful Mind" über Genie und Schizophrenie angucken und sich dann freuen: "Ich kann zwar keine Telefonnummern in mein Handy programmieren und keinen Videorecorder richtig einstellen, aber es könnte alles noch viel schlimmer sein: Das ist Therapie durch Kunst."

Besprochen schließlich wird die Ausstellung "Davaj - Russian Art Now" im Berliner Postfuhramt sowie von der Berlinale: zwei Filme aus der Shoah-Foundation (Andrzej Wajdas "I Remember" und "Children from the Abyss" von Pavel Chukhrai), Wes Andersons "The Royal Tenenbaums", Costa-Gavras' "Amen" und Wim Wenders' BAP-Film (alle drei hier).

FAZ, 15.02.2002

Die FAZ hat einen Text aus dem Telegraph übernommen, in dem der britische Schriftsteller und Journalist Robert Harris (mehr hier) eine "heimliche Sympathie für Slobodan Milosevic" bekennt. Er vergleicht ihn mit Hermann Göring, der sich in der Haft erstaunlich gut erholt hatte und seinen Prozess "eindrucksvoll" nutzte, um "sich als Opfer einer 'Siegerjustiz' darzustellen". Harris zitiert einen britischen Geheimdienstoffizier, der über Göring sagte: 'Er mochte ein Mörder sein, aber er war auch ein tapferer Kerl.' So ähnlich beurteilt Harris wohl auch Milosevic, der dem Internationalen Gerichtshof einen "einsamen, trotzigen, aussichtslosen Kampf" liefert. Ist das jetzt ein Beispiel für britischen Sportsgeist?

Einen "prominenten Platz" in Milosevics Verteidigungsstrategie nimmt übrigens ein Dokumentarfilm von "Monitor", "Deutschlands Spitzenclub in der Weltliga des investigativen Journalismus" ein, wie Matthias Rüb auf der Medienseite spitz berichtet. In dem Film von Jo Angerer und Mathias Werth wurde behauptet, dass es vor den Nato-Angriffen auf das Kosovo keine gravierenden Übergiffe der serbisch-jugoslawischen Streitkräfte gegeben habe. "Dass er bei seiner Verteidigungsstrategie dem WDR-Beitrag einen so prominenten Platz eingeräumt hat, kann kein Zufall sein: Er hat die weltanschauliche Verwandtschaft gespürt."

Joseph Croitoru berichtet über eine Gruppe von israelischen Reservisten, die erklärt hat, "künftig den militärischen Einsatz in den besetzten Gebieten" zu verweigern. "Es scheint weniger die Existenz der Siedlungen zu sein, gegen die sie ankämpfen, als der Umstand, dass sie als Reservesoldaten diese verteidigen und sich somit auch an der tagtäglichen Erniedrigung des palästinensischen Volkes aktiv beteiligen müssen.". Croitoru bezweifelt jedoch, dass dies der Anfang einer neuen Friedensbewegung in Israel ist. "Während heute das Militär relativ geringe Verluste zu beklagen hat, wird die Zivilbevölkerung auch im israelischen Kernland immer häufiger Opfer palästinensischer Gewalt."

Weitere Artikel: Guillaume Paoli stellt eine Erscheinung der besonderen Art vor: den Cargo-Kult, "wobei Cargo ein Sammelbegriff für Schiffs- bzw. Flugzeugladungen von Importwaren ist - ein Warenkult also". Als Beispiel dient Paoli der "John-Frum"-Tag (mehr hier), der jeden 15. Februar auf der pazifischen Insel Tanna (Vanuatu Republik) gefeiert wird. Siegfried Stadler berichtet über die geplante "Zwangsverheiratung" der Theaterhäuser in Weimar und Erfurt, "wobei diese Vernunftehe zweier Dreispartenhäuser wahrscheinlich mehr Geld kosten wird als sie einspart." Jörg Magenau hat bei den Berliner Brechttagen erstaunliches über Brechts Religiosität gehört. Georg Imdahl geißelt den Museumskatalog des Mönchengladbacher Abteibergmuseum, der sich "unverblümt" als 'Werbemittel für Galerien' ausgibt. Edo Reents schreibt den Nachruf auf den Countrysänger Waylon Jennings und Andreas Rosenfelder den Nachruf auf den Schauspieler und Sprecher Hans Paetsch.

Die Äußerung des stellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD Ludwig Stiegler, der die CDU aufgefordert hat, dem NPD-Verbotsantrag zuzustimmen, weil deren 'Vorläuferparteien' geholfen hätten, Hitler an die Macht zu bringen, wird gleich zwei Mal kommentiert: Lorenz Jäger meint, die SPD sollte sich entschuldigen. Und Michael Jeismann schreibt: "Hier bleibt ein Narr nicht nur närrisch, sondern hier wird ein Politiker gefährlich."

Auf den Berlinale-Seiten berichtet Mark Siemons über eine Podiumsdiskussion zum Thema "Fiktion und Realität" mit Andreas Veiel, Harun Farocki und Slavoj Zizek und Christopher Roth. Michael Allmaier empfindet für Wim Wenders BAP-Doku gerade mal "lauwarme Sympathie", und Hans-Dieter Seidel hat Almut Gettos Film "Fickende Fische" gesehen, "dem auf den ersten Blick spekulativen Titel zum Trotz, ein Film der verhaltenen Töne, der niemals zudringlichen Beobachtung, der in jeder Szene spürbaren Zuneigung zu den Figuren."

Besprochen werden eine Ausstellung von Katharina Sieverding im Dialog mit Goethe in der Casa di Goethe in Rom, eine Ausstellung des französischen Historienmaler Pierre Puvis de Chavannes im Palazzo Grassi, eine Ausstellung von "soldatischen Basteleien und anderen Trouvaillen" im Musee de la Croix Rouge, das Stuttgarter "Eclat"-Festival, die Filmkomödie "Schwer verliebt" (mehr hier) mit Gwyneth Paltrow und Bücher, darunter Hans Melderis' Studie über Richard Wagner und die modernen Naturwissenschaften (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).
Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite werden Aufnahmen von Edgar Elgar, Guillaume de Machaut und Parole Trixi besprochen sowie eine "fulminante Jazz-Hommage" an Federico Mompou.