Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.02.2002. Robert Menasse schreibt in der SZ, warum Österreich nicht mehr zu retten ist. Die NZZ erkennt in der Debatte um die neue Grass-Novelle "Zeitgeisterei", die FAZ setzt die Preußen-Debatte fort und die FR erklärt zum 200. Geburtsttag von Victor Hugo, was ihm zum Nationalhelden prädestinierte.

FAZ, 23.02.2002

In ziemlich drastischen Worten spricht sich der Historiker Hans-Ulrich Wehler ("Nationalismus") gegen ein "Bundesland Preußen" aus: "Leichen widersetzen sich der Wiederbelebung, und jede Form der politischen Nekrophilie ist abartig." Hauptgrund ist für ihn Preußens Unfähigkeit zur Demokratie: "Die Entscheidung fällt in der Arena der politischen Herrschaft. Unfähig zur Demokratisierung, liegt Preußen als Hegemonialstaat des Kaiserreichs bis 1918 wie erstarrt da... Bei der Verteidigung ihrer Privilegien geht die Machtelite im Juli 1914 sehenden Auges das Risiko des Großen Krieges ein... Der Preis: ein vierjähriger Weltkrieg, in mancher Hinsicht der Hexenkessel, in dem alles Elend Europas in der Folgezeit entsteht. Erst Niederlage und Revolution durchbrechen die preußische Verkrustung. Aber um die verhasste Republik in einen autoritären Staat zurückzuverwandeln, intrigieren die preußischen Machteliten 1932 bis 1933 erfolgreich, um das Charisma des 'Großen Trommlers' für sich auszunutzen."

Weitere Artikel: Georg Imdahl resümiert eine Tagung über Provenienzforschung (das heißt die Suche nach von Juden geraubter Kunst in den Museumsbeständen) in deutschen Museen. Michael Gassmann teilt mit, dass das umstrittene Plakat zu Costa Gavras' Verfilmung des "Stellvertreters" in Frankreich hängen bleiben darf - traditionelle Katholiken hatten dagege geklagt. Der Kunstsammler Heinz Berggruen erinnert sich in einer kleinen Schnurre an den Papierwarenladen seines Vaters in Berlin. Lorenz Jäger schreibt zum 100. Gebutstag der Literaturwissenschaftler Richard Alewyn und Max Kommerell. "dsch" annonciert ein Kolloquium der Dominikaner über ihre Rolle in der Inquisition, das sicherheitshalber aber hinter verschlossenen Türen stattfindet. Gerhard R. Koch schreibt zum 60. Geburtstag des Hamburger Choreografen John Neumeier.

Joseph Croitoru wirft einen Blick in osteuropäische Zeitschriften und stellt fest, dass man sich dort immer mehr für die Geschichte der jüdischen Minderheiten interessiert. Thomas Wagner schreibt zum achtzigsten Geburtstag des britischen Malers Richard Hamilton (Bilder). Verena Lueken meldet, dass der amerikanische Supreme Court die Entscheidung der amerikanischen Regierung von 1998, das Copyright auf bis zu 120 Jahre auszudehnen, nun doch noch einmal überprüfen wird. Stephan Templ meldet, dass die Tschechen bei der Renovierung von Mies van der Rohes berühmter Villa Tugendhat in Brünn den Rat der Familie Tugendhat aufs unhöflichste ausschlägt.

Auf der Medienseite schildert Souad Mekhennet Reaktionen auf den Tod des Wall-Street-Journal-Journalisten Daniel Pearl, der von pakistanischen Islamisten bestialisch ermordet wurde. Gerhard Stadelmaier bespricht einen Fernsehfilm über Claus Peymanns Stuttgarter Zeit. Und Heike Hupertz meldet, dass die Olympiade ein voller Erfolg für das amerikanische Fernsehen ist.
Und auf den Literaturseiten bespricht Tilman Spreckelsen Christa Wolfs Erzählung "Leibhaftig": "Hier geht es um Leben und Tod."

Besprochen werden ein Nietzsche-Spektakel von FM Einheit in Frankfurt, der Film "The Deep End" und der Film "Collateral Damage" mit Arnold Schwarzenegger,

In Bilder und Zeiten, auf traurigem Zeitungspapier gedruckt, erinnert Wilfried Wiegand an Victor Hugo, der 200 Jahre alt würde. Reinhard Kaiser erzählt die Geschichte des Komponisten Edwin Geist, der vor den Nazis nach Litauen emigrierte und dessen Werk erst jetzt wiederentdeckt wird. In der Frankfurter Anthologie stellt Ruth Klüger ein Gedicht von Christian Morgenstern vor - "Die Behörde":

"Korf erhält vom Polizeibüro
Ein geharnischt Formular,
wer er sei und wie und wo..."

NZZ, 23.02.2002

"Zeitgeisterei" erkennt Joachim Güntner in der jüngsten deutschen Debatte um Günter Grass' Novelle "Im Krebsgang" und das Schicksal der Vertriebenen: "Historisierung der NS- Vergangenheit, Pluralisierung der Geschichtsbilder, Aufwertung detaillierter empirischer Forschung gegenüber dem moralischen Urteil, Hebung des deutschen Selbstgefühls auf eine 'partnerschaftliche' Höhe im Verhältnis zu anderen Nationen, Abschied vom Pazifismus und vom negativen Nationalismus. Manchem wird diese Aufzählung vielleicht bereits genügen, um den mentalen Status quo der Berliner Republik im neuen Jahrhundert umrissen zu finden, aber die Diskussion über das Buch von Günter Grass belehrt uns darüber, dass zur deutschen 'Normalisierung' ein weiteres Element gehört: der Eintritt in die internationale Opferkultur." Vermissen wir wirklich den negativen Nationalismus?

Weiteres: Beatrix Langner bespricht Christa Wolfs neue Erzählung "Leibhaftig". Ekkehard W. Stegemann schreibt zum 100. Geburtstag des Theologen Oscar Cullmann. Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Omega Suites" der Fotografin Lucinda Devlin in Koblenz und eine Pariser Ausstellung über die Parkanlagen von Paris.

Literatur und Kunst präsentiert gleich drei Artikel zum 200. Geburtstag Victor Hugos. Karlheinz Stierle erinnert an den Lyriker: "Im Blick auf die lyrische Dichtung seit Baudelaire ist diejenige Hugos, auch wenn ihre Kühnheiten zur unerschöpflichen Inspirationsquelle werden sollten, zutiefst unzeitgemäß. Unzeitgemäß und dennoch unüberholt. Ja, vielleicht ist es gerade diese Unzeitgemäßheit, diese kraftvolle, ungebrochene Selbstbehauptung, die ihr, allen vorschnellen Totsagungen zum Trotz, ihre Zukunft sichert." Es schreiben außerdem Ute Stempel über "Victor Hugos Leben und Werk", und Marc Zitzmann über Hugos Paris.

Ferner erinnert Roman Luckscheiter an die Liszt-Gattin nd Salonlöwin Marie d'Agoult. Bepsorchen werden einige Bücher, darunter Colin McGinns "Das Gute, das Böse und das Schöne" und Ernst Jüngers politische Publizistik. (Siehe unsere Bücherschau morgen ab 11 Uhr.)

SZ, 23.02.2002

Warum Österreich nicht zu retten ist, obwohl Haider gar nicht mehr Kanzler werden will, erklärt der österreichische Schriftsteller Robert Menasse in einem Beitrag. Der Unterschied zwischen Haider und Schüssel auf der einen, Haider und Gusenbauer auf der anderen Seite, so Menasse, sei "lediglich der zwischen einem Populisten und solchen Populisten, die nicht populär sind". Und: "Solange die Unteilbarkeit der schönsten demokratischen Begriffe und die grundsätzliche Verwerflichkeit des Populismus und Opportunismus für Haiders Gegner nicht selbst Grundlage des politischen Handelns sind, solange wird Haider eben nicht ein Phänomen sein, mit dem die politischen Eliten nicht klarkommen, sondern die simple Resultante des Nichtklarkommens der politischen Eliten."

Im Auftaktartikel zur neuen SZ-Serie "Wege aus der Bildungsmisere" (hier mehr) fordert der Münchner Literaturwissenschaftler und ehemalige Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Wolfgang Frühwald, eine Stärkung der Basiskompetenzen bei Schülern: Lesen, Schreiben, Auswendiglernen. "Die Schule wieder bildungsfähig zu machen, sie von schulfremden Aufgaben zu entlasten, das Interesse der Eltern am Sprach- und Leseverhalten ihrer Kinder zu wecken, sind Grundvoraussetzungen dafür, dass Deutschland bei der Bildungs-Olympiade wieder eine Medaille gewinnt."

Weitere Artikel: Malte Herwig stellt uns den noch unveröffentlichten Briefwechsel zwischen Thomas Mann und seinem Schützling, dem Chirurgen Franz Colmers vor, Tim B. Müller hörte die ehemalige Gesundheitsministerin Andrea Fischer an der Cornell University über den Krieg gegen den Terrorismus sprechen, Christian Kortmann berichtet von der Invasion der Hobbyköche, Alexander Kissler staunt über interaktive Schultafeln auf der Kölner Bildungsmesse, und Raphael Honigstein wittert in dem traktorfahrenden Südstaaten-Rapper Bubba Sparxxx einen neuen Elvis.

Besprochen werden eine Ausstellung des graphischen Werks von Max Pechstein im Museum seiner Heimatstadt Zwickau, des Pop-Veteranen Richard Hamiltons Illustrationen zu Joyces "Ulysses" im British Museum, Novarinas "Eingebildete Operette" am Stuttgarter Theater Rampe, "Bad Baby's Bed" ? der missglückte Neustart am Jungen Theater Göttingen, ferner Philippe Liorets Kinofilm "Mademoiselle" und natürlich Bücher: die Neuedition von Alfred Döblins voluminösem Wallenstein-Roman sowie die neunte Folge der "Kleinen politischen Schriften" von Jürgen Habermas (siehe auch unsere Bücherschau Sonntag um 11 Uhr).

Die Wochenendbeilage schließlich preist Schriftsteller: Während Katja Schmid mit John Steinbeck an einen ausgewiesenen Klassiker erinnert und Wolf Lepenies Victor Hugo als "Koloss seiner Epoche" und "Säule der Weltliteratur" huldigt, arbeitet Burkhard Müller-Ullrich noch daran mit, Alexandre Dumas ins Pantheon zu heben. Wenn der dunkelhäutige Sklavensohn Dumas, der wie Hugo heuer 200 wird, im kommenden Herbst seine Pantheonisierung erfährt, hat das allerdings nicht nur literarische Gründe, wie Müller-Ullrich glaubt: "Wahr ist, dass sie vor allem eine späte Wiedergutmachung an einem Menschen darstellen würde, der Zeit seines Lebens als der 'Neger Dumas' angesprochen und karikiert wurde."

FR, 23.02.2002

Mit Glanz und Gloria feiert Frankreich den 200. Geburtstag Victor Hugos. In der FR erklärt Manfred Schneider, was den Mann zum Nationalhelden prädestiniert: "Victor Hugo verkörpert dieses Frankreich einmal, weil er so tief und völlig unkorrumpiert aus seiner politischen Geschichte hervorsticht ... und zum anderen, weil seine Literatur voller Politik ist, voller Resonanzen auf die Umbrüche des 19. Jahrhunderts; und schließlich weil er leider ein Klassiker ist ... Hugos Werk ist Zitierdichtung, staatstragend, repräsentationsmächtig, kriegsverwendungstauglich: "Gloire a la notre France eternelle, / Gloire a ceux qui sont morts pour elle." Diesen Ton schlagen heute noch gerne französische Präsidenten an."

Außerdem: Anlässlich der Erzählung "Leibhaftig" blickt Annett Gröschner zurück auf Leseerfahrungen mit Christa Wolf und wünscht ihr eine Literaturkritik ohne Häme, Thomas Fechner-Smarsly schreibt zum fünfzigsten Todestag von Knut Hamsun und über dessen Hang zur produktiven Fehllektüre, Hilal Sezgin schwärmt von der Liebe auf den zweiten Blick in Romanen wie Emily Brontes Sturmhöhe und Fernsehspielen wie Ally McBeal und Christian Thomas trauert Frankfurts berühmter Schröder-Passage nach, in der es einst so schön zwielichtig zuging.

Besprechungen widmen sich der Fotoschau "Heute bis jetzt" im Düsseldorfer Museum Kunst Palast, einer Ausstellung in Leipzig, die den Einfluss von malerischen Sichtweisen auf die Kunst im multimedialen Zeitalter reflektiert, Mika Kaurismäkis neuem Film "Moro no Brasil", dem Nietzsche-Projekt "Nihilismus de luxe" von Andreas Ammer und FM Einheit am Schauspiel Frankfurt sowie Büchern: Daniel Kehlmanns neuem Roman "Der fernste Ort", den Erinnerungen des Weltenwanderers Charles-Albert Cingria und einer Kulturgeschichte der Erregung (auch in unserer Bücherschau Sonntag um 11 Uhr).

TAZ, 23.02.2002

Im Magazin der taz untersucht Axel Krämer die aus den Reihen der Linken lancierte Unterstellung einer latenten Homosexualität bei Osama bin Laden bzw. Jörg Haider und stößt auf die lange Geschichte einer "unseligen Diffamierungsstrategie", die bereits in den 30er Jahren eine ursächliche Verbindung von Nationalsozialismus und Homosexualität unterstellt habe. "Homosexualität als bestimmender Impuls des Nationalsozialismus, ja als Motiv für den Zusammenhalt militanter Männerbünde im Allgemeinen", das nicht selten (so bei Nicolaus Sombart) mit dem Vorwurf der Homophobie gekoppelt wird. Solche Pathologisierung, findet Krämer, mache es sich zu leicht. "Und beruht auf einem notorischen Missverständnis. Sie vermittelt, es sei die Homosexualität, die zu pathologischem Verhalten führe - und nicht etwa die Angst vor ihr.

Außerdem bringt das tazmag exklusiv zwei Passagen aus Elke Schmitters neuem Roman "Leichte Verfehlungen", und Steffen Grimberg stellt uns einen strickbejackten Biedermann mit eigenwilliger Föhnfrisur vor: einen gewissen Leo Kirch.

Im Kulturteil freut sich Falko Hennig über die im Selbstverlag herausgegebenen, wenig zimperlichen Briefe des verkannten Schriftstellers Stefan Meiser, Rudolf Walther porträtiert den brasilianischen Architekten Oscar Niemeyer, den das Pariser Jeu de Paume jetzt mit einer großen Retrospektive ehrt, und Gerrit Bartels rezensiert Philip Roths Roman "Der menschliche Makel" (siehe auch unsere Bücherschau Sonntag um 11 Uhr).

Schließlich Tom.