Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.02.2002. Die SZ feiert in höchsten Tönen Heinz Schlaffers "Kurze Geschichte der deutschen Literatur". In der FR schreibt Schlaffers darüber, was das Deutsche an der deutschen Literatur ist. Die FAZ warnt: Rot-Grün vergrätzt unsere universitäre Elite. Und die taz annonciert die Privatisierung des Weltraums.

FAZ, 26.02.2002

"Rot-Grün verprellt Wissenschaftler und Intellektuelle", droht der Historiker Paul Nolte (mehr hier) im Aufmacher: "Natürlich spielt bei dieser Enttäuschung die Wissenschafts- und Hochschulpolitik eine entscheidende Rolle. Auch den Wissenschaftlern ist das Hemd bisweilen näher als der Rock. Warum sollten sie nicht auch einmal so interessenpolitisch denken - oder gar wählen - wie der Handwerker oder der Zahnarzt?" Wollen wir mal hoffen, dass die CDU dann alles beim Alten lässt.

Mark Siemons kommentiert die Kandidatur des ehemaligen Berliner Kultursenators Christoph Stölzl für den Berliner CDU-Vorsitz: "Was man vor knapp zwei Jahren, als Stölzl Berliner Kultursenator wurde, von der Kultur erwartete, erhofft man jetzt, da er Landesvorsitzender der Berliner CDU werden soll, für die Partei: dass sie gut gelaunt, intellektuell und - vor allem - bürgerlich werden könnte. Wenig deutet bisher darauf hin."

Weiteres: Ilona Lehnart fragt sich nach einer Äußerung Julian Nida-Rümelins in den Berliner Seiten der FAZ, ob der Bund sich tatsächlich vorstellen kann, einen größeren Anteil an der Stiftung Preußischer Kulturbesitz zu tragen und wie weit dieses Angebot wohl geht. Der Bamberger Althistoriker Hartwin Brandt setzt nach dem Tübinger Kolloquium den Streit um Troia fort. Edo Reents gratuliert Johnny Cash zum Siebzigsten. Andreas Rosenfelder hat sich die Bildungsmesse in Köln angeschaut. Thomas Wagner gratuliert dem Kunsthistoriker Peter Beye zum Siebzigsten. Jörg Magenau erzählt auf der Bücher-und-Themen-Seite, wie der Pfarrer Martin Weskott und der Schauspieler Peter Sodann die Bücher der DDR retten wollen - allein Sodann kann schon auf eine Sammlung von 250.000 Büchern verweisen.

Auf der letzten Seite schildert Christian Schwägerl den Aufstieg San Diegos als neues Technologie- und Biotechzentrum neben dem Silicon Valley und Boston. Und Timo John informiert uns, dass zumindest ein Teil der Kunstsammlung derer von Fürstenberg künftig als Leihgabe in der Staatsgalerie Stuttgart zu sehen sein wird.

Auf der Medienseite erfahren wir von Gina Thomas, was der gefürchtete Rupert Murdoch mit der Times vorhat. Chefredakteur Peter Stothard, der die Auflage verdoppelt hat (in Deutschland ist das noch nie einem Chefredakteur passiert) quittiert seinen Job. Wolfgang Kleinwächter erzählt von Reformbestrebungen bei der Internetbehörde Icann. Ferner resümiert Sandra Kegel die Winterolympiade aus der Sicht der öffentlich-rechtlichen Sender (die sich vor Zuschauern kaum retten konnten).

Besprochen werden Herbert Wernickes "Ring"-Inszenierung in München, ein Dante-Spektakel des slowenischen Regisseurs Tomaz Pandur in Hamburg und ein Stück von Igor Bauersima in Hannover, Strindbergs "Totentanz" in Hans Neuenfels' Inszenierung am Deutschen Theater Berlin, Lars Norens "Klinik" in Zürich, Händels "Alcina" in Hamburg und eine Ausstellung mit Videoarbeiten von Jochen Gerz in Paris.

TAZ, 26.02.2002

Ronald Düker erzählt uns, was sich Firmen in der Zwischenzeit so alles ausdenken, um der bemannten Raumfahrt aus ihrer "Legitimationskrise" zu helfen. Es geht um nicht weniger als "die private Nutzung des Weltraums". So will die Firma MirCorp schon 2004 "die erste private Raumstation, Mini Station 1" eröffnen, die als "extraterrestrisches Hotel, als Basis für Werbung im All und Medienaktivitäten verschiedenster Art dienen" könnte. Und die amerikanische Produktionsfirma Image World Media plant die TV-Game-Show "Ancient Astronaut", deren Gewinner eine Kapsel ins All schießen darf - mit einem Sample seiner DNA sowie "persönlichen Gegenständen, die er selbst bestimmen darf, und repräsentativen Zeugnissen menschlicher Kultur."

Dorothea Hahn berichtet von den großangelegten Feierlichkeiten in Frankreich anlässlich des 200. Geburtstag des "heiligen Monstrums" Victor Hugo: Ausstellungen, Theaterinszenierungen und Lesungen allerorten. Und Jürgen Berger lobt Igor Bauersima für seine "allmähliche Verfertigung von Texten während des Inszenierens", diesmal in "Futur de Luxe" am Schauspiel Hannover.

Besprochen werden weiter politische Bücher: ein Band des italienischen Philosophen Giorgio Agamben über die politischen Begriffe des Abendlandes und eine Sozialgeschichte des Selbstmords vom 18. bis zum 20.Jahrhundert. Und auf den Kulturseiten der Roman "Der Berg der Seele" von Gao Xingjian und eine Autobiografie des Schwermetallers Marilyn Manson auf drei CDs.

Die große Würdigung von Johnny Cash anlässlich seines siebzigsten Geburtstags findet sich auf den Tagesthemenseiten. Wiglaf Droste porträtiert den "Monolith mit Mittelfinger", eine Kurzbiografie liefert darüber hinaus Wissenswertes zu "Leben und Werk".

Und hier TOM.

SZ, 26.02.2002

Ulrich Raulff stellt ein Buch vor, das wir gar nicht verdienen: "Denn, unter uns, es ist ein bisschen zu gut für seine Zeit". Es geht um Heinz Schlaffers (mehr hier) "hochmütige", gerade mal 150 Seiten lange Geschichte der deutschen Literatur. "Wann ist zum letzten Mal so kenntnisreich und klar, mit derart federnder Eleganz Literaturgeschichte geschrieben worden? Wann hat zuletzt einer der Großen den Hut in den Ring geworfen und sein gesamtes Fach, nein: das gesamte lesende Land herausgefordert? Da wird man lange nachdenken und weit zurückgehen müssen." (Siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Weiter lesen wir die Zusammenfassung einer Podiumsdiskussion in der Berliner Schaubühne. Thema war die Chance einer "neuen Internationalen", Diskutanten waren u.a. der Publizist Mathias Greffrath, der SPD-Politiker Hermann Scheer und der Ökonom Elmar Altvater. Während Scheer argumentiert, die Globalisierung sei eine Folge von Rohstoffabhängigkeiten und auf eine automatische "Re-Regionalisierung der wirtschaftlichen Kreisläufe" durch Öko-Technologien setzt, will Attac-Mitglied Altvater "Sand ins Getriebe der Finanzmärkte werfen" und so die "wirtschaftlichen Prozesse verlangsamen".

Weitere Artikel: Veronika Schöne berichtet von einer Tagung in Loccum, auf der es um "Die eine und die andere Kultur" ging und um die Kritik am Begriff der Kultur als allfälliges "Schmiermittel" in erlahmenden Interkulturalitätsdebatten. Ulrich Kühne besuchte eine Tagung der Leibniz-Gesellschaft, auf der über den "wissenschaftlichen Königsweg zur Bildung" räsoniert wurde. Alexander Kissler berichtet über ein Marburger Symposion zum hundertsten Geburtstag des "Sprachvirtuosen und Daseinskünstlers" Max Kommerell. Thomas Steinfeld berichtet über Briefe von Knut Hamsun, die auf einem Dachboden gefunden wurden. Franz Dobler gratuliert Johnny Cash (mehr hier), dem Objekt (oder muss es Subjekt heißen?) einer von ihm verfassten und gerade erschienenen Biografie, zum Siebzigsten. Vermeldet wird auch eine denkbare Streichung der Lottomittel für Peymann und sein Berliner Ensemble. Und in der Kolumne "Zwischenzeit" geht es heute noch einmal um die deutsche Leseschwäche und verführerischen Lesestoff.

Besprochen werden die Entzauberung des "Rheingolds" durch Zubin Mehta in München, Lars Norens Theaterstück "Klinik" am Zürcher Schauspielhaus, Tomaz Pandurs "Göttliche Komödie" im Hamburger Thalia Theater, eine Schweizer Neuverfilmung von "Heidi", in der der Geißenpeter "Peter Geissler heißt, schon mal in Amerika war und Hilfe per Spendenaufruf im Internet mobilisiert." Der Heimatfilm ist auch nicht mehr, was er mal war.

FR, 26.02.2002

Die SZ feiert Heinz Schlaffers neue deutsche Literaturgeschichte. Die FR eröffnet eine Debatte mit einem Text von ihm. "Was ist das Deutsche an der deutschen Literatur und ist es überhaupt sinnvoll, von einer deutschen Nationalphilologie zu sprechen?" Der Anfang seines Beitrags: "Es fällt deutschen Studenten der Sinologie, Gräzistik, Romanistik oder Anglistik nicht schwer, die Wahl ihres Faches mit einer besonderen Liebe zur Sprache und Literatur, zur Kunst und Kultur der jeweiligen Länder zu begründen. Studenten der Germanistik dagegen weisen die Vermutung, eine Neigung zum vergangenen oder gegenwärtigen Deutschland habe sie zu diesem Studium geführt, verstört zurück. Unter Deutschen, die dem Anspruch auf moralische und politische Integrität genügen wollen, sind Liebeserklärungen an die deutsche Kultur undenkbar."

Ursula März räsoniert in einem Essay über die "Dichterlesung als Ereignis und Problem". Ausgangspunkt für ihre Überlegungen ist die Beobachtung, dass sich "die klassische Dichterlesung ... von ihrem Veranstaltungsversprechen her" seit einiger Zeit verändere. Ihre These: "Vom Vortrag tendiert sie mehr und mehr zur Vorführung des Autors, die, in radikalisierter Form, ihren Zweck auch dann erfüllte, wenn der Autor sein Buch erst gar nicht aufschlüge, um daraus vorzulesen, sondern sein Publikum von Anfang an mit Anekdoten, Philosophierereien, ergänzt durch kleine Darbietungen aus dem Repertoire des Habituellen unterhielte, Ablegen des Jacketts, Nesteln in der Zigarettenschachtel, Nachschenken in Wasser- oder Rotweingläser. Zwar liest Michel Houellebecq bei seiner Deutschlandtournee aus seinem neuen Roman. Aber es ist fraglich, ob ein einziger Besucher auf die Ankündigung hin, Houellebecq werde diesmal nicht lesen, sondern nur tun, wofür er berühmt ist, intensiv rauchen, mit den Gliedmaßen rucken, schwitzen und polemisieren, zu Hause bliebe."

Weitere Themen: Auch die FR gratuliert Johnny Cash (und stellt dabei ausführlich die neue Johnny Cash-Biografie "The Beast In Me" von Franz Dobler vor. Die Kolumne "Times mager" analysiert die Optionen bei der französischen Präsidentschaftswahl: "Leidenschaft und Liebe" oder "Verantwortung und Autorität". Und schließlich erfahren wir noch, wohin der Kanzler demnächst umzieht: in ein "Reiheneckhaus in einer typisch hannoverschen Straße" ? allerdings im "gemütlicheren Teil" des Berliner Zooviertels.

Gesehen und gehört
wurden die "Rheingold"-Inszenierung von Herbert Wernicke und Zubin Mehta in München, Goethes "Iphigenie auf Tauris" am Berliner Gorki-Theater, Elfriede Jelineks "Raststätte" in Frankfurt und der letzte Teil der Körper-Trilogie "noBody" von Sasha Waltz in der Berliner Schaubühne und eine Ausstellung des in Berlin lebenden Künstlers Franz Ackermann in der Kunsthalle Basel.

NZZ, 26.02.2002

Frank Schäfer gratuliert "The Man in Black" Johnny Cash zum siebzigsten Geburtstag: "Der Pop-Kritiker Roel Bentz van den Berg ist der Ansicht, Johnny Cash habe mittlerweile einen Grad der Elevation erreicht, in dem er in Gott nur mehr einen respektierten Kollegen erkennen könne. Und es sollte keine Frage sein, wer von den beiden die tiefere Stimme hat."

Weitere Artikel: Andrea Köhler berichtet von den schwierigen Auswahlkriterien für ein Buch, das im Rahmen einer Buchwoche in New York in Schulen, Bibliotheken, Buchhandlungen und an anderen öffentlichen Orten gelesen und diskutiert werden soll. Max Klimburg beschreibt, welchen Anteil die Schweizer Maecenas-Stiftung am neuen Antikenmuseum in Duschanbe/Tadschikistan hat (vielleicht findet sich auch noch jemand, der dem Museum eine Internetadresse spendiert?). Abgedruckt ist außerdem ein Auszug aus dem Manuskript von Friederike Kretzens neuem "Handbuch für einen Aufstand".

Besprochen werden Monteverdis "Il ritorno d'Ulisse" im Opernhaus Zürich, Lars Norens Psychiatriestück "Klinik" inszeniert von Falk Richter im Schauspielhaus Zürich, Wagners "Rheingold" in der Bayerischen Staatsoper und Bücher, darunter Richard J. Evans' Buch über den "Geschichtsfälscher" David Irving (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).