Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.02.2002. Das Klonen ist doch ein alter Hut, meint Michel Serres in der FR. Der Philosoph Andreas Dorschel vermisst in der SZ eine homerische Kultur der Feindschaft. Die NZZ stellt die schönste Tiergeschichte neben Thomas Manns "Herr und Hund" vor: Tibor Derys Erzählung "Niki". Die taz ist in Kabul ins Kino gegangen und die FAZ wirft einen Blick auf den Literaturfrühling.

TAZ, 27.02.2002

Mit einem Beitrag von Sven Hansen startet die taz ihre Serie "Kultur in Kabul". Diesmal ist Kino angesagt, allerdings ein bisschen anders als wir es kennen: "Der Film ist völlig zerkratzt, hat mächtige Streifen und ist ohnehin nie richtig scharf. Doch die Zuschauer scheint der milchige Burkablick nicht zu stören. Zudem können sie die in Hindi gehaltenen Dialoge des indischen Bollywood-Streifens namens 'Lootere' ohnehin nicht verstehen ... Bei Kampfszenen gibt es lauten Applaus und begeisterte Pfiffe. Auch als die Schöne - die im indischen Sari und damit ganz unafghanisch ohne Burka oder Kopftuch gekleidet ist - dem Oberbösewicht eine saftige Ohrfeige verpasst, findet das lautstarke Anerkennung. In einer kurzen Pause kommt es dann im Publikum selbst zu einer handfesten Keilerei. Die Zuschauer begreifen das offenbar als Live-Unterhaltung."

Weitere Artikel: In der Jazzkolumne erkundet Christian Broecking die Diskographie des legendären Leon Thomas, der in den späten Sechzigern die Jodeltechnik "Soularfone" kultivierte, Jürgen Berger amüsiert sich über das Nietzsche-Spielwerk "Nihilismus de Luxe" am Frankfurter Schauspielhaus, Andreas Merkel überlegt sich Imagekampagnen für den Beinahe-Popstar Heinz Rudolf Kunze, und Mariana Collaci konstatiert, dass in Italien jetzt Schluss ist mit der soften Linie gegen Berlusconi und das Ulivo-Bündniss seine Kernwähler an eine stetig wachsende Bürgerbewegung verliert.

Schließlich Tom.

NZZ, 27.02.2002

Buchbesprechungen laufen in der Presseschau in der Regel unter Ferner liefen, weil wir ihnen schließlich eine eigene Bücherschau widmen. Aber wenn Laszlo F. Földenyi eine Erzählung "ergreifend" nennt, die über dies von Ivan Nagel ins Deutsche übersetzt wurde, wird man ja doch aufmerksam. Es handelt sich um Tibor Derys Erzählung "Niki" von 1955, die im Verlag Das Arsenal wieder aufgelegt wird: "'Herr und Hund', diesen Untertitel könnte man Tibor Derys Kurzroman 'Niki' auch geben. Die Parallele zu Thomas Mann bietet sich von selbst an; ich kenne keine andere Erzählung aus dem 20. Jahrhundert, die das Schicksal eines Tieres, sein Verhalten und seine Anhänglichkeit an den Menschen ähnlich innig beschriebe. Doch neben der Parallele fällt auch der Unterschied ins Auge. Während man in Thomas Manns Erzählung den Hund durchgehend aus der Perspektive des Menschen sieht, ist das bei Dery keineswegs so selbstverständlich der Fall. Ab und zu vermeint der Leser die Menschen mit den Augen des Hundes zu sehen und scheint insgeheim der Hund dem Schriftsteller zu diktieren, wie er die Menschenwelt darstellen soll. Mensch und Hund."

Peter Bichsel (mehr hier) schreibt einen Abschiedsbrief an die Anfang Februar gestorbene Kollegin Aglaja Veteranyi: "Liebe Aglaja, Du weisst es - Du wusstest es -, erzählen hat immer wieder mit dem Nicht-erzählen-Können zu tun..."

Weiteres: Die notorischen Gedenkartikel, einer zum 100. Geburtstag von John Steinbeck, verfasst von Hartwig Isernhagen, einer zum 70. Geburtstag Elizabeth Taylors von Alexandra Stäheli, einer zum 100. Geburtstag des Architekten Lucio Costa, des "Erfinders von Brasilia", von Regina de Macedo Marquardt. Besprochen werden Janaceks "Jenufa" in Wien und weitere Bücher, darunter Julius Poseners Erinnerungen an seine Rückkehr nach Deutschland im Jahr 1945/46. Ferner kommentiert Claudia Schwartz die Preußen-Debatte der FAZ.Und Aldo Keel bringt weitere Details zum kürzlich aufgefunden Knut-Hamsun-Nachlass.

FR, 27.02.2002

Anlässlich seines neuen Buches "Hominescence", einer Adoleszenzgeschichte der Menschheit, plaudert der französische Philosoph Michel Serres in der FR aus einem wahren Schatzkästlein origineller Ideen: Vom Hippokrates-Eid für den Wissenschaftler als Ersatz für nutzlose Bioethik-Kommissionen. Oder von der Vorstellung, "dass all das, was wir heute diskutieren, das Klonen zum Beispiel, überhaupt keine Neuheiten sind, sondern nur heiße Luft. Eine tatsächliche Neuheit war es, als die Frauen sich an den Mittelmeerstränden ausgezogen haben. Das war etwas wirklich Neues, und zwar auf vielen Ebenen, medizinisch, körperlich etc. - die vermeintlichen Neuheiten, die ein Jean-Paul Sartre zu dieser Zeit gefeiert hat, sind dagegen heute längst veraltet."

London macht krank, meint Gunnar Lützow und erklärt, warum man an der Themse dennoch besser gesund bleibt. "Im Krankenhaus Lewisham wird man mit schweren Kopfschmerzen auch schon mal ohne CT und mit Schmerzmitteln nach Hause geschickt. Der Betreffende verstarb nach 36 Stunden an einer Gehirnblutung." Und auf einen Freund und Helfer sollte man schon gar nicht bauen, "schließlich beträgt die offiziell zulässige Reaktionszeit der Polizei in als 'immediate' klassifizierten Fällen zwölf Minuten, zuzüglich der fünf Minuten die es dauert, bis mal jemand das Telefon abnimmt."

Außerdem: Klaus Modick erinnert an John Steinbeck, der vor hundert Jahren geboren wurde, Daniel Kothenschulte gratuliert Elisabeth Taylor zum siebzigsten Geburtstag, und Eckhard Henscheid besieht sich den A..., diesen "mehrheitlich geschätzten Körperteil, eingebettet in seine eigene Aura aus Ruhe, Rundlichkeit und selig in sich selbst scheinender Schönheit", mit den Augen eines Fußballers.

Und Besprechungen widmen sich Lars Norens "Klinik" am Schauspielhaus Zürich, einer Tagung zu den Geschwistern Erika und Klaus Mann in Heilsbronn sowie Hans Neuenfels' Inszenierung von Strindbergs "Totentanz" am Deutschen Theater Berlin.

SZ, 27.02.2002

Eine homerische Kultur der Feindschaft vermisst der in England lehrende Philosoph Andreas Dorschel in unserer Gesellschaft bitterlich. Feindschaft als Möglichkeit von Erkenntnis, so Dorschel, beginne stets damit, die individuelle Wirklichkeit des Feindes anzuerkennen. "Dass das zwanzigste Jahrhundert der Kunst der Feindschaft nicht günstig gewesen ist, nimmt demnach nicht wunder; sie konnte schwerlich blühen, wo der Glaube herrschte, die Welt werde gut, indem man die Bösen vernichtete." Nachdem "die Verbesserer der Menschheit in diesem Sinne zugeschlagen" hätten, sei nun wenigstens jener Glaube erschüttert. "Vielleicht bringt es Europa doch, wieder einmal, zu einer Kunst der Feindschaft. Wir haben sie bitter nötig. Denn am Ende sind uns unsere Feinde fast so unentbehrlich wie unsere Freunde."

Wie der Nobelpreisträger V.S. Naipaul auf dem allerersten indischen Literaturfestival den Subkontinent befreite, erklärt Thomas Steinfeld in einem Beitrag. Steinfeld zitiert die Bombay Times, die sich begeistert zeigte von Naipauls Beleidigungstiraden (unter anderem gegen die Gattin des US-Botschafters) und Wutausbrüchen angesichts einer noch immer um die Themen Unterdrückung und Kolonialismus kreisenden indischen Literatur. "'Leute zu beleidigen ist für Naipaul natürlich', schreibt sie in einer Eloge an den unhöflichsten Schriftsteller aller Zeiten ... 'Gib- ihnen die Hölle', schließt der Artikel, 'wir wollen eine Million Schmähungen, jetzt, jetzt, jetzt.' Die Emanzipation scheint voranzukommen." Weitere Links zu Naipauls Auftreten in Neu Delhi finden Sie in unserer Magazinrundschau.

Weitere Artikel: Susan Vahabzadeh sucht nach Kino-Vorbildern für den Mordfall Vanessa, Alex Rühle erklärt uns die Doppelmoral beim Umgang mit ausländischen "Fußballfachkräften", Andrian Kreye konnte kaum hinhören, wie Crosby, Stills, Nash & Young in New York ihre Trauer mit patriotischer Wut überspielten, Christian Kortmann erzählt von einem Freddie-Mercury-Porträt aus dem österreichischen Hause DoRo, das für den Grammy nominiert wurde; außerdem gibt es wieder viel zu tagen und zu diskutieren: Thomas Meyer berichtet von einem Disput über Max Weber und das antike Judentum in München, Arno Orzessek seinerseits von einer Münsteraner Tagung über die Manipulierbarkeit von Zeichen, und Veronika Schöne hat auf einer Diskussion in Hamburg erfahren, wie man mit Toleranz fertig wird. Hans Schifferle schließlich tut was Gutes und gratuliert Liz Taylor zum siebzigsten Geburtstag.

Besprochen werden "A Beautiful Mind", die mit Preisen überhäufte Filmbiografie des Mathematikers John Nash, Hans Neuenfels' "Totentanz" am Deutschen Theater Berlin, Konzerte mit den Berliner Philharmonikern, einmal unter Claudio Abbado ("Faust-Szenen"), dann unter Simon Rattle ("Johannes-Passion"), der etwas andere Nietzsche-Abend "Nihilismus de luxe" von Andreas Ammer und FM Einheit am Frankfurter Schauspiel, eine Ausstellung zum malerischen Werk von Pierre Puvis de Chavannes im Palazzo Grassi in Venedig sowie, zum Schmökern, Ulrich Becks Ministudie "Über Terror und Krieg" und für ganz Unerschrockene: Werner Heisenbergs Gutachten- und Prüfungsprotokolle für Promotionen und Habilitationen aus den Jahren 1929 ? 1942 (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).
Schließlich ein kleiner Hinweis auf die Berlin-Seite, wo Ijoma Mangold den Wegzug Alexander Fests aus Berlin bedauert - Fest wird bekanntlich Chef bei Rowohlt.

FAZ, 27.02.2002

Tilman Spreckelsen hat fleißig gelesen und weiß, welches Thema den Literaturfrühling auszeichnet: Die DDR. Keine "großen spektakulären Enthüllungsbücher" erwarten uns, sondern "Schilderungen des ostdeutschen Alltags vor der Wende". Erwarten dürfen wir die Autobiografien von Fritz Rudolf Fries und Sascha Anderson und Hermann Kants "autobiografisch grundierten" Roman "Okarina". "In Christa Wolfs Erzählung 'Leibhaftig' erinnert sich eine Kranke im Sommer 1988 an ihr Leben in der DDR, eine Auswahl von Volker Brauns Prosa erklärt, 'Wie es gekommen ist', Andre Kubiczek beschreibt in seinem Roman 'Junge Talente' das Leben ostdeutscher Jugendlicher in den letzten Vorwendejahren, und Falko Hennig - wie Kubizcek Jahrgang 1969 - lässt seinen ostdeutschen Helden in 'Trabanten' von westdeutschen Autos träumen."

Der Politikwissenschaftler Tobias Mayer von der Uni Bonn weiß gar nicht, warum sich die Diskussion über Preußen immer auf das historische Preußen bezieht. "Was tot ist, ist tot", schreibt Mayer. Aber Preußen sei immer auch "ein Entwurf, eine Kreation, mithin ein Projekt" gewesen. Warum also "sich dann nicht die Freiheit nehmen, es in republikanisch-demokratischer Absicht neu zu entwerfen? Und zwar nicht bramarbasierend-großtuerisch wie im Spätwilhelminismus, sondern bescheiden und echt preußisch: mehr Sein als Schein."

Weitere Artikel: Paul Ingendaay beschreibt die kurzen Karrieren der letzten sechs Direktoren des Prado, Joseph Hanimann erzählt, wie das Victor-Hugo-Jahr unbarmherzig voranschreitet. Auf der Medienseite hat sich Holger Christmann kmit dem Fotografen Alain Keler unterhalten, der dabei war, als die kolumbianische Politikerin Ingrid Betancourt entführt wurde. Und auf der letzten Seite setzt Christian Schwägerl seine Reportage über das Wachstumszentrum San Diego mit einem Porträt der Stammzellfirma CyThera fort.

Geburtstag und Tod: Annette Pehnt schreibt zum hundersten Geburtstag von John Steinbeck, Michael Althen zum Siebzigsten von Elizabeth Taylor (er hat das schönere Foto), Jürgen Kaube zum Tod des britischen Ethnologen Raymond Firt, Günther Gillessen zum Tod des Militärhistorikers Joachim Hoffmann.

Besprochen werden eine Eva-Hesse-Ausstellung im San Francisco Museum of Modern Art, der Film "A Beautiful Mind" (mehr hier) über den schizophrenen Mathematiker und Nobelpreisträger John Nash, Monteverdis "Ritorno d'Ulisse" in Zürich, eine Ausstellung mit Fotografien "made in Düsseldorf" im museum kunst palast in Düsseldorf, die Uraufführung von Judith Herzbergs "Simone" am Düsseldorfer Schauspielhaus, eine Ausstellung mit Bildern von Franz Ackermann in der Kunsthalle Basel und eine Aufführung von Leos Janaceks "Jenufa", dirigiert von Seiji Ozawa an der Wiener Staatsoper.