06.03.2002. In der taz sieht Diedrich Diedrichsen zu, wie sich beim Dramatiker Rene Pollesch die Darsteller in den "Klettverschlüssen elaborierter kulturdiagnostischer Texte" verhaken. Die FAZ findet: Hans Holbeins Schutzmantelmadonna gehört nach Hessen. In der SZ plädiert Norbert Niemann für einen Dialog mit der Jugend. Die NZZ schickt einen melancholischen Reisebericht aus Alt-Delhi.
SZ, 06.03.2002
In der Reihe zur
Zukunft der Schule plädiert der
Schriftsteller Norbert Niemann ("Schule der Gewalt") für Verständigung zwischen der Welt der Jugendlichen und Kinder und der Welt der Erwachsenen: "Lehrer, Eltern, Politiker, Medien, alle Verantwortlichen müssen sich der
Lebenswirklichkeit der Jugendlichen stellen. Sie müssen selbst versuchen, zuzuhören, Respekt zu üben und zu einer
gemeinsamen Sprache vorzudringen. Von Jugendlichen zu erwarten, auf eine Front verstockter Erwachsener zuzugehen, ist absurd. Und die Gründe für ihre
Motivations- und Mutlosigkeit müssen erst begriffen werden, bevor man ihnen mit Reformen begegnet. Weder die
Panik vor der ökonomischen Zukunft dieses Landes darf die Lösungen diktieren, noch irgendwelche sonstigen, von außen herangetragenen Ängste." (Das schließt dann wohl aus, dass man Jugendliche auf die
Lebenswirklichkeit der Erwachsenen vorbereitet.)
Im
Gespräch mit Willi Winkler entdeckt der in Austin/Texas lebende schwedische
Schriftsteller Lars Gustafsson uns seine
seherischen Fähigkeiten (er erkennt am Klingeln, wer anruft), erklärt, wieso es Bushs große Stärke ist, vom
Bösen zu reden, und welche Bedeutung der
Religion zukommt: "Schlechte Religion ist imstande, bessere Religion wegzudrücken; je vulgärer, desto besser. So auch beim
Islam. Es gibt viele Formen des Gottesglaubens. Der Fanatiker sieht darin eine Möglichkeit, das Denken auszuschalten. Ja, die Aufklärungsphilosophen hatten vollkommen Recht:
Religion ist unerhört gefährlich. Vielleicht brauchen wir sie, aber sie ist gefährlich, gefährlicher als
Kokain und Heroin."
Weitere Artikel: Alex Rühle
analysiert den Trailer zur neuen
Star-Wars-Episode (der eigentlich nichts als Schwarz zeigt). Uwe Kirbach
befürchtet, dass vor lauter
Internet-Downloads und selbstgebrannten CDs das
Musik-Erleben auf der Strecke bleibt. Matthew Price
berichtet von den Umzugsplänen der
New York City Opera, und Kristina Maidt-Zinke
stellt den deutschen
Musikinstrumentenfonds vor.
Besprochen wird wieder allerhand: Eine
Aufführung von
Michael Frayns Debatten-Stück
"Kopenhagen" in Wiesbaden, eine von
Armin Petras verhunzte Wilde'sche
"Salome" in Leipzig, Wim Wenders'
BAP-Film, die
neue CD des musikalischen Exzentrikers Keigo Oyamada alias
Cornelius, die Noch-Jazz-Platte
"Navigatore" des Klangwanderers
Renaud Garcia-Fons, die Erstaufführung von
Bohuslav Martinus Filmoper "Die drei Wünsche" in Augsburg,
Zubin Mehta und sein Staatsorchester mit Werken von
Mahler und Frey im Münchner Nationaltheater,
Arbeiten von
Britney Spears' Lieblingskünstler Ed Ruscha im
Kunstmuseum Wolfsburg, schließlich
Bücher, darunter Annegret Helds rheinischer
Landroman "Hesters Traum" sowie ein
Handbuch zur Geschichte der
Juden in Europa (siehe auch unsere
Bücherschau heute ab 14 Uhr).
TAZ, 06.03.2002
In einem langen
Essay erklärt uns Diedrich Diederichsen den nicht bloß die Zuschauer fordernden
Diskurs-Overkill in den Arbeiten des Erfolgsdramatikers
Rene Pollesch ("Die Stadt als Beute", "Sex"): "
Darsteller verhaken sich bei Pollesch in den Klettverschlüssen elaborierter kulturdiagnostischer und -kritischer Texte, die sie aber aus der dritten in die erste Person transponieren. Das Material stammt in der Regel aus am Rande des akademischen Mainstreams in Kunst- und
Gegenkulturverlagen publizierten Quellen. Oft werden nur deren Headlines und prägnanteste Neologismen abgezapft und in neue
transparente Sinnfolder gesteckt ... Die Darsteller müssen
Berge von Theoriematerial auswendig wissen und möglichst auch verstehen, daher verlieren sie alle, egal wie alt und professionell, ständig den Faden und treten so in einen
Dialog mit Souffleuren ein, die oft ganze Dialogstellen alleine sprechen, während die erschöpften Darsteller zuhören." Die ungekürzte Fassung dieses Essays findet sich in der aktuellen März-Ausgabe der Zeitschrift
Theater heute". Dort steht auch Rene Polleschs
Stück "Sex".
Weitere Artikel: Sabine Leucht
gratuliert der
Münchner Schauburg zu 25 Jahren anspruchsvollem
Jugendtheater, Harald Fricke
erzählt die Tragödie um das
Lissitzky-Erbe und stellt en passant
Ingeborg Priors Buch "Die geraubten Bilder" vor, und Brigitte Werneburg
bewundert Ikonen des modernen Wohnens in der von Peter Goessel herausgegebenen Dokumentation "Case Study Houses" (auch in unserer
Bücherschau um 14 Uhr). Schließlich
denkt Michael Rutschky auf der Meinungsseite anlässlich der Ablehnung der
Präimplantationsdiagnostik durch die Enquete-Kommission des Bundestags über die deutsche
Verbotskultur nach.
Schließlich noch
Tom.
NZZ, 06.03.2002
Urs Schoettli
schickt einen kleinen Reisebericht aus
Alt-Delhi, wo er einen melancholischen Reisebegleiter aus der immer dünneren Schicht der
moslemischen Elite findet. "Die muslimische Gemeinschaft in Alt-Delhi ist, wie es Naipaul beschreiben würde, eine
'verwundete Zivilisation'. Der größte Teil der Eliten war bereits vor fünf Jahrzehnten nach
Pakistan ausgewandert, und in absehbarer Zeit werden auch die letzten der noch verbliebenen etablierten Familien verschwunden sein. Die
völlige Verslumung eines einst soliden Gemeinwesens scheint unvermeidlich."
Weiteres: Thomas Grob
schreibt zum Tod des Schriftstellers
Friedrich Gorenstein. Besprochen werden eine
Ausstellung von Kunstgewerbe der Stilreform um 1900 aus der "Sammlung SAM" in Münster,
CDs mit Kompositionen von
Franz Schmidt, der Jack-the-Ripper-
Film "From Hell" und einige
Bücher, darunter Lukas Hartmanns
Roman "Die Tochter des Jägers" (siehe auch unsere
Bücherschau heute ab 14 Uhr).
FR, 06.03.2002
In einem dürren
FR-Feuilleton untersucht Peter Iden die akute
Finanzkrise der Theater (lauter Autos, die nicht fahren) und
stellt fest, dass es wenigstens zwei Ursachen gibt. "Nicht nur ein oft betriebsfremdes
Anspruchsdenken der Gewerkschaften gehört dazu, sondern auch die
Überheblichkeit mancher Produzenten gegenüber ihrem Publikum. Dass indes der Erhalt der weltweit in ihrer Vielfalt einzigartigen deutschen Theaterlandschaft jetzt den Einsatz aller Kräfte lohnt - daran kann kein Zweifel sein. Es ist allerdings
kurz vor zwölf."
Seltsamer
Geburtstagsgruß, den Karin Ceballos Betancur da versendet. Genau weiß nämlich offenbar niemand, wann
Gabriel Garcia Marquez (mehr
hier und
hier) geboren wurde. "Der März scheint ebenso wie die
Zahl 6 einigermaßen mehrheitsfähig zu sein, und von den vielen Jahren haben wir uns 1927 rausgesucht. Wenn wir Recht haben, wird der kolumbianische
Literaturnobelpreisträger heute
75 Jahre alt. Wenn nicht, dann halt im nächsten Jahr."
Außerdem: Wolfgang R. Köhler
gratuliert dem Philosophen
Donald Davidson (mehr
hier,
hier und
hier) zum 85. Geburtstag, Gunnar Lützow
berichtet aus London, dass auch
Katzen Zahnstein kriegen können. Und Besprechungen gibt's zu
Istvan Szabos Dokudrama "Taking Sides -
Der Fall Furtwängler", der
Hamburg-Premiere von Händels Oper
"Alcina" und Wim Delvoyes
"Cloaca"-Kunst im Düsseldorfer
Museum Kunst Palast.
FAZ, 06.03.2002
Über "Irrungen und Wirrungen einer
göttlichen Frau"
informiert uns Eduard Beaucamp. Es geht um
Hans Holbeins "Schutzmantelmadonna", "vielleicht das
schönste Bild der nachmittelalterlichen Malerei in Deutschland", das im Besitz der
Grafen von Hessen ist. Und die wollen verkaufen, um Steueransprüche zu erfüllen. Das Bild muss in Hessen bleiben, meint Beaucamp und legt den Deutschen
unbürokratische Praktiken mit geerbter Kunst ans Herz: "Die Engländer ermitteln in solchen Fällen den Marktpreis durch eine
Versteigerung des Kunstwerks auf dem Londoner Weltmarkt und bestimmen eine Frist, in der die Nation das Geld beschaffen muss. In Frankreich ist die
Verrechnung von Steuern mit Kunstbesitz an der Tagesordnung. Auf diese Weise ist der Picasso-Nachlass geregelt worden, heute Fundament des Pariser Picasso-Museums; der Louvre ist so in den Besitz einzigartiger Meisterwerke wie Vermeers
'Astronom' aus der Rothschild-Sammlung gekommen."
Henning Mankell (mehr
hier)
äußert sich in einem kleinen Kasten entsetzt über die Vorwürfe gegen
UNO-Personal, die in Liberia
sexueller Übergriffe gegen Flüchtlinge beschuldigt wurden. "
Kofi Annan hat jetzt die Möglichkeit, hart und entschieden durchzugreifen und klarzustellen, dass dies unter keinen Umständen innerhalb der UN geduldet werden kann. Es
fragt sich nur, ob er es auch tut." Gibt es daran Zweifel?
Über eine wahre
Geschichtsmode berichtet Gina Thomas aus England.
David Starkey wurde mit einer Serie über
Elisabeth I. zum Millionär. "Starkey steht
keineswegs allein mit seinem Aufstieg zum Medienstar. Der Harvard-Historiker
Simon Schama (mehr
hier) erfreute sich mit seiner sechzehnteiligen Serie über die britische Geschichte ähnlich hoher Einschaltquoten. Aus den
Buchläden wird ebenfalls ein Ansturm auf historische Stoffe gemeldet. Der Begleitband zu Schamas Serie stieg sogleich auf den ersten Platz der Bestsellerliste. Andere Bücher, wie
Anthony Beevors Wälzer über Stalingrad, dem in Kürze eine nach dem gleichen Muster gestrickte Darstellung der
Schlacht um Berlin folgen soll, oder
Amanda Foremans Biografie
Georgianas, Herzogin von Devonshire, die im gesellschaftlichen und politischen Leben der Whig-Ära im achtzehnten Jahrhundert eine führende Rolle einnahm, führten lange die Bestenliste an." Könnte es daran liegen, dass britische Historiker noch die Kunst des
Geschichtenerzählens beherrschen?
Weitere Artikel: Dietmar Polaczek
stellt den neuen Leiter der
Biennale von Venedig,
Franco Barnabe, vor. Dieter Bartetzko
meldet, dass der Frankfurter
Portikusbau wieder renoviert und als Bibliothek genutzt werden soll. Der Kunsthistoriker
Werner Hofmann plädiert für einen Wiederaufbau von
Mies van der Rohes Rosa-Luxemburg-Denkmal in Berlin, das von den Nazis demoliert worden war. Der Historiker
Klaus Tenfelde setzt die Reihe über die Zukunft und Identitätsprobleme der
"Ruhrstadt" fort. Katja Gelinsky
informiert uns über
George W. Bushs Familienpolitik. Robert Jütte schreibt zum Tod des Medizinhistorikers
Roy Porter. Andreas Rossmann schreibt zum Tod des Kölner Baumeisters
Fritz Schaller.
Ferner
gratuliert Jürgen Kaube dem Philosophen
Donald Davidson zum 85. Geburtstag. Auf der
Medienseite erfahren wir, dass deutsche
Meteorologen sich streiten, weil sie jüngst einen
Orkan unterschätzten. Außerdem
berichtet Gina Thomas, dass man aus dem
Daily Mirror nun eine seriöse Zeitung machen will. Auf der Stilseite bespricht Andreas Rosenfelder eine Ausstellung über
Prominente in der Werbung (mehr
hier). Auf der letzten Seite
erzählt Stefanie Flamm anlässlich einer Ausstellung im Berliner Willy-Brandt-Haus die Geschichte der deutschen
Tschechow-Abkömmlinge Olga und Vera Tschechowa. Ferner schreibt Jordan Mejias ein Profil des
NY Times-Leitartiklers
Thomas L. Friedman, der jüngst durch einen
Friedensplan für den Nahen Osten hervorgetreten ist. Und von Eva Menasse
erfahren wir, dass der Holocaust-Leugner
David Irving nun für bankrott erklärt wurde, was wir ihm herzlich gönnen wollen.
Erstmals hat es das Feuilleton der
FAZ heute hinbekommen, ein Feuilleton praktisch ohne Besprechungen zu veröffentlichen. Nur Paul Ingendaays
Artikel über die Theatergruppe
Els Joglars, die ihre letzten Stücke zu einer "katalanischen Trilogie" zusammenstellte und damit 40. Jubiläum feiert, ließe sich so rubrizieren. Und natürlich die beiden
Buchbesprechungen über eine Geschichte der
Neuen Frankfurter Schule und über
Valerie Wilson Wesleys neuen Roman, denen wir uns in der Bücherschau ab 14 Uhr widmen.