Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.03.2002. Die SZ nennt Francis Fukuyama einen Neomerkantilen. Die FAZ erlebte ihn als dialektisch gelangweilt. Unterwegs in Deutschland war auch der Philosoph Michael Walzer, der seine Theorie des gerechten Krieges erläuterte. Die taz vermisst darin die Möglichkeit des Scheiterns. Die FAZ findet sie zu abgewogen und die FR fand's gut.

SZ, 13.03.2002

Wie der Intellektuelle Francis Fukuyama auf einer Vortragsreise derzeit die amerikanische Weltpolitik preist, stößt Alexander Kissler ziemlich unangenehm auf. "Fukuyamas unerschütterlicher Optimismus, das höfliche Sendungsbewusstsein und die Bereitschaft zur Redundanz", schreibt Kissler, "sind paradigmatisch für jenen Denkstil, der sich dies- und jenseits des Atlantiks für alternativlos hält: Statt neoliberal sollte er neomerkantil genannt werden, denn der Glaube an die seligmachende Kraft des Warenverkehrs ist sein einziges Dogma." So über die Maßen triumphalisch geraten konnten Fukuyamas Reden nach Kisslers Meinung deshalb, "weil er sich im Einklang mit der globalisierten Mehrheit weiß. Vielleicht muss er aber auch so laut pfeifen, weil er den Gegenwind schon spürt."

Friedrich-Wilhelm Marquardt, emeritierter Professor für evangelische Systematische Theologie in Berlin, führt die von der SZ eröffnete Debatte zur Modernisierung der protestantischen Kirche fort und rät dieser vor allem zur Selbstbesinnung. "Die Jagd der Evangelischen Kirchen dem 'modernen Menschen' hinterher war bisher immer, ob 1933 oder 2002, ihre bornierteste Selbsttäuschung. Martin Luther hielt dagegen: Das Evangelium findet seine Hörer nicht vor, sondern schafft sie sich. Liebe Evangelische Kirche, lerne bei deinem Lehrer!"

Weitere Artikel: erfreut konstatiert Volker Breidecker einen Generationswechsel an der Akademie Schloss Solitude (frische Leute mit dem Genua des letzten Jahres als geistiger Heimat), Kristina Maidt-Zinke nickt wohlwollend zu Jose Carreras' neuestem Comeback in der Münchner Philharmonie, Raphael Honigstein stellt Marianne Faithfulls neue Platte (hier auch was zum Hören) vor (lauter "kleine, schmutzig-daherschleichende Songs") und war auch beim Konzert dabei, Ira Mazzoni berichtet, dass in Dessau jetzt das von Gropius errichtete Muche/Schlemmer-Haus restauriert wurde, Joachim Kaiser gratuliert dem Schauspieler Carl Raddatz zum Neunzigsten, und Fritz Stern gratuliert dem Altertumsforscher und Widerständler Karl-Dietrich Bracher zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Wes Andersons neuer Film "Die Royal Tenenbaums" (dazu gibt es ein Interview, in dem Anderson erklärt, warum es ihm wichtig ist, in seinen Filmen "über die Bienenzucht oder so" zu philosophieren), ferner eine Ausstellung über Geben und Nehmen in den Hamburger Deichtorhallen (siehe dazu auch unser Link des Tages v. 1.3.), Benjamin Brittens "The Turn of the Screw" als Harry Kupfers Abschiedsgruß an der Komischen Oper in Berlin, Molieres "Menschenfeind" am Schauspiel Frankfurt (Stadttheaterniveau!) und Bücher: Ein Gedanken-Band von Wolfgang Rihm, drei Bände mit Gedankenprosa des walisischen Erzählers John Cowper Powys sowie ein Buch über die Kultur der französischen Renaissance (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 13.03.2002

Wadih Saadah berichtet über eine heftige Debatte in Marokko um ein Buch, das die Degradierung der Frau in Religion und Kultur im Islam beklagt: Geschrieben hat es Hamdoun Dagher. Nachdem es im Staatsfernsehen als Buch der Woche vorgestellt worden war, hatte die fundamentalistische "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" heftig protestiert. Sie nannte das Buch einen 'gezielten Versuch, den Islam zu schädigen'. Daraufhin wurde es aus dem Verkehr gezogen. Das Fernsehen entschuldigte sich öffentlich für die Präsentation der Studie. Der Präsentator Abdul Kader Shawi hingegen, ein Kritiker und Intellektueller, machte seine Wut darüber öffentlich - er fürchtet einen Präzendenzfall, schreibt Saadah.

Nach dem 11. September haben Geschichtserklärungsmodelle wie die von Samuel P. Huntington ("clash of civilizations") oder Francis Fukuyama ("Das Ende der Geschichte") weiter Hochkonjunktur, bemerkt Uwe Justus Wenzel leicht irritiert. Er berichtet von einer Veranstaltung in München mit Fukuyama: "Für einige im zahlreichen Auditorium mag es neu gewesen sein, dass das Ende der Geschichte lediglich (und allerdings) das 'prinzipielle' Ende der 'ideologischen Evolution' bedeute, nicht aber das Ende historischer Ereignisse und Kämpfe ... Aber selbst wenn die Missverständnisse beseitigt sind, bleibt offenbar Unbehagen. Riecht das Ganze nicht nach Determinismus, riecht es nicht zu sehr nach Materialismus, nach Marx ohne Marx? Verkennt der Glaube an das Ende der Geschichte die Gefahren der Gegenwart? ... Vielleicht ist die Geschichte nicht zu Ende, vielleicht sind nur die Geschichtsphilosophen mit ihrem Latein am Ende."

Martin Meyer lauschte einem Klavierabend mit dem russischen Pianisten Grigory Sokolov in der Zürcher Tonhalle. Peter Hagmann hat einen Ort für Neue Musik entdeckt: den "Gare du Nord", ein stillgelegtes Buffet der Ersten Klasse im Badischen Bahnhof von Basel. Samuel Herzog freut sich, dass die Basler Sammlung Stechlin nach fünf Jahren im texanischen Kimbell Art Museum nun wieder im Basler Kunstmuseum zu sehen ist.

Besprochen werden außerdem Bücher, darunter eine Sammlung von Aufsätzen und Autobiografischem des Österreichers Hans Raimund, Thommie Baiers Erotikthriller "Das Aquarium" und Gedichte von Elisabeth Borchers (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 13.03.2002

Schon einen Platz in einer "gated community", einer rundum-bewachten Wohnsiedlung für Besserverdienende reserviert? Konrad Lischka schreibt eine kleine Phänomenologie dieser längst nicht mehr nur in den USA begehrten Grusel-Ghettos, in denen die Langeweile im Preis inbegriffen ist. Und warum sollte man sich sowas antun wollen? "Es ist die Angst, seine Identität in einer heterogenen, nivellierten Massengesellschaft zu verlieren. Die Zugehörigkeit zu einer gated community schafft Identität. Die Bewohner drinnen unterscheiden sich von den Menschen draußen, selbst wenn dies sich auf die einstigen Symbole der Eliten wie den von Wachmännern gesicherten Toreinfahrten beschränkt."

Stefan Reinecke staunt nicht schlecht über das Verhältnis von Militär und Moral und die regierungstreue Linie in der "Theorie des gerechten Krieges", die der linke! US-Intellektuelle Michael Walzer in Berlin vorstellte. Das Ganze, meint Reinecke, habe bloß einen Fehler. Es gebe darin weder Platz für Widersprüche noch für Aporien. "Was ist eine Theorie wert, in der das Scheitern nicht vorgesehen ist?"

Weitere Artikel: Jay Rutledge plaudert mit dem Afrobeat-Musiker Femi Kuti über das Erbe seines Vaters Fela, Thomas Girst berichtet von der Biennale amerikanischer Kunst im New Yorker Whitney Museum, und auf der Medienseite erzählt Marcus Bensmann, wie in Russland weiter die Pressefreiheit gemeuchelt wird und die Moskauer Justiz die regierungskritische "Nowaja Gazeta" in die Pleite treibt.

Schließlich noch Tom.

FR, 13.03.2002

Die Intellektuellen sind unterwegs. Aus den USA fallen sie in Europa ein, um ihre Thesen zur neuen Weltlage zu verbreiten (sollen wir vielleicht was unterschreiben?). Von wegen neu, meinte da gleich der Bush-Regierungsberater Francis Fukuyama kürzlich in München, und Rüdiger Suchsland spitzte schon die Ohren, aber dann hatte der Huntington-Schüler seiner Idee, derzufolge die Geschichte bereits 1989 aufgehört hat zu existieren, eigentlich nichts hinzuzufügen. Der 11. September, zitiert Suchsland den Denker, belege ja gerade das Fehlen aller ernsthaften Alternativen jenseits der Verzweiflungstat. Gegen seinen Lehrer und dessen Modell vom "Clash of Civilizations" hatte Fukuyama allerdings einen Einwand. In den Konflikten der Zukunft, meinte er, gehe es mitnichten um den Kampf gleichberechtigter und -wertiger Alternativen, sondern um die Durchsetzungsfähigkeit zeitgemäßer politischer Antworten gegenüber Regression und Traditionalismus.

Martina Meister war in Berlin dabei, als der amerikanische Philosoph Michael Walzer den Triumph seiner "Theorie des gerechten Krieges" feierte und räumt ein, dass diese Theorie natürlich einzig dann greife, wenn man "Krieg manchmal für notwendig und unvermeidbar" halte. "Und (sie) muss dann, wenn unschuldige Menschen zu verteidigen sind, ihre kritische Rolle entfalten." Das zumindest scheint noch verbesserungsbedürftig.

Außerdem: es gibt einen Artikel zu den neuesten Entwicklungen auf dem Handy-Markt (wie aufregend), die Kolumne "Times mager" spielt den Moslem Salman Rushdie gegen den Hindu V.S. Naipaul aus, Christian Schlüter sieht die Kölner SPD als Motor nachholender Modernisierung, Micha Brumlik ist der Meinung, dass die Uni Erfurt mit ihren Reformen den Kulturwissenschaften einen Bärendienst erweist, und Peter Iden gratuliert dem Schauspieler Carl Raddatz zum Neunzigsten.

Besprochen werden Tsai Ming-liangs "meisterhafter" Film "The River", und zweimal Videokunst in Berlin: Installationen von Bill Viola in der Deutschen Guggenheim und Jane und Louise Wilsons Arbeiten in den KunstWerken.

FAZ, 13.03.2002

Einen dialektisch gelangweilten Francis Fukuyama hat Jürgen Kaube bei einem von der Münchner Siemens-Stiftung organisierten Vortrag erlebt. Der amerikanische Politologe und Regierungsberater (hier seine Homepage) geht auch nach dem 11. September steif und fest davon aus, dass es keine neuen Epochen der Weltgeschichte mehr geben wird: "Gelangweilt, insofern er auf viele Tatbestände, an die jene Diagnosen einer Zensur anknüpfen, mit dem Hinweis reagierte, davon verstehe er nichts, oder einfach nur wortkarg blieb: Islam, religiöser Wandel, Hass auf die westliche Welt. Dialektisch, insofern er damit stets zu sagen schien: So genau muss man sich da auch nicht auskennen, denn im großen und ganzen läuft die Weltgeschichte doch ganz gut."

Davon geht auch der Philosoph Michael Walzer aus, dem Johan Schloemann bei einem Auftritt in Berlin gelauscht hat. Anders als die "idiot left" (Walzer) der USA glaubt Walzer auch ein halbes Jahr nach den Anschlägen des 11. September an den "Triumph" der Theorie des gerechten Krieges. Walzers Argumentation hat das Publikum offenbar durchaus beeindruckt: Am Ende, so Schloemann, habe Walzer seine Ansichten über notwendige Kriege "so behutsam, vernünftig und abgewogen geäußert, so viele Einschränkungen konzediert (...), dass keiner mehr so recht wusste, was er sagen sollte. Es schien das Unbehagen entstanden, dass Walzer ein unkritisches Sprachrohr der Vereinigten Staaten sei, was er nicht ist".

Vom Krieg der Kulturen zum Krieg der Zellkulturen: Joachim Müller-Jung war dabei, als Experten im Forschungsausschuss des Bundestages am Montag zum Stammzellgesetz angehört wurden. Rüdiger Wolfrum, Vizepräsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), gibt dem vorliegenden Entwurf nur eine Haltbarkeitsdauer von zehn Jahren, schreibt Müller-Jung. Ob's dann überhaupt noch Embryonen gibt?

Weitere Artikel: "Krieg den Hütten, Friede den Bauhäusern" lautet der schöne Titel von Wolfgang Pehnts Artikel über die gerade abgeschlossene Sanierung der letzten erhaltenen Gropius-Villen in Dessau. Peter Gorsen beschreibt die Wirkung des 1902 geborenen surrealistischen Künstlers Hans Bellmer: "ein museal vereinnahmter Klassiker", um den es trotzdem nicht still geworden sei. Was man von Vincent van Gogh ebenso wenig behaupten kann: Über Authentizitäten und Fälschungen in dessen Werk und dem von Gaugin, berichtet Bettina Erche, haben 200 Wissenschaftler aus aller Welt in Amsterdam gestritten. Im Zentrum der Auseinandersetzung: Ist die Tokioer Variante der "Sonnenblumen" echt?

Gegen die Untätigkeit der italienischen Linken schreibt Paolo Flores D'Arcais in einem Beitrag an. Und fürchtet, dass Berlusconi trotz abnehmender Zustimmung weiterhin ruhig schlafen kann: "Zum irreversiblen Schaden für Italien und somit Europas." In Mainz ist der Strafverteidigertag zusammengekommen und hat unter den Augen von Oliver Tolmein vor allem über die Fragen des Opferschutzes und -ausgleichs debattiert: Eine Lex Reemtsma, eine Straftheorie, die stärker das Interesse des Opfers einbezieht, blickt Tolmein nach vorne, ist noch lange nicht in Sicht.

Auf der Medien-Seite freut sich Hans-Dieter Seidel mit Hannelore Elsner über deren (späten) "dritten Ruhm": den Grimme-Preis für die Rolle der Waltraut im Fernsehfilm "Ende der Saison", der sich "aufs schönste" rechtfertige.

Besprochen werden: "La Revolution Surrealiste", eine Ausstellung im Pariser Centre Pompidou; eine Schau in Hohenstein-Ernstthal, die den schwierigen Umgang der DDR mit Karl May zeigt; die Retrospektive des Fotografen Pirkle Jones in Santa Barbara; Peter Halls Inszenierung von Oscar Wildes "Lady Windermere's Fächer" in London; die deutsche Erstaufführung von Bohuslav Martinus Oper "Drei Wünsche" im Stadttheater Augsburg; den Dokumentarfilm über den kopflosen Beruf des Henkers; die Wiepersdorf-Gedichte von Thomas Rosenlöcher und schließlich ein "Deutsches Sprichwörter-Lexikon" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).