Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.03.2002. Die SZ bewundert Kanzler Schröders Festigkeit im Krieg gegen den Terror. Die NZZ erklärt, warum koreanische Schüler am liebsten auswandern möchten. Die taz staunt über die Reize des neuen männlichen Calvin-Klein-Unterhosenmodells. In der FR fordert Jürgen Todenhöfer mehr Unterstützung für den afghanischen Präsidenten Hamid Karsai. Die FAZ würdigt - wie auch alle anderen Zeitungen - den verstorbenen Philosophen Hans Georg Gadamer.

SZ, 15.03.2002

In einem einfühlsamen Nachruf erklärt der Philosoph Dieter Henrich in der SZ, wie sich bei Hans-Georg Gadamer Sprachfähigkeit und Hörenkönnen ergänzten: "Gadamers Hören ist das Aufmerken auf das, was der Andere in das Gespräch einbringt - ein sokratisches Hören also, das nur als Antwort zur ihm selbst gemäßen eigenen Sprache finden kann." Abschiedsworte gibt es u.a. auch von Peter Wapnewski, der Gadamers Aura nachspürt, und von Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin, der das Werk Gadamers im europäischen Geistesleben verortet. Das letzte Wort hat Gadamer selbst mit dem Gleichnis von der Lebenskerze, in dem er das ungewöhnlich helle Flackern der verlöschenden Kerze dem Lebensende vergleicht: "Die Unbegreiflichkeit des Todes ist der höchste Triumph des Lebens."

Respektvoll-erstaunt zeigt sich Wolf Lepenies angesichts der Entschlossenheit, mit der Kanzler Schröder jüngst vor Intellektuellen seinen Standpunkt im Fall eines Angriffs der USA auf den Irak vertrat: "Der Kanzler legte sich fest: Greifen die USA auf eigene Faust an, wird sich Deutschland an diesem Krieg nicht beteiligen. Jedes weitere militärische Engagement der Bundesrepublik wird nur unter dem Schutz eines UN-Mandats erfolgen." Schröder ging noch weiter, indem er die Stärkung der Vereinten Nationen und eine Friedenssicherung auf lange Sicht propagierte: "Stellvertretend für das blockierte Europa den USA gegenüber ein alternatives Sicherheitsdenken zu entwickeln, ist - so scheint es Gerhard Schröder zu sehen - ein deutscher Sonderweg, den jetzt zu gehen sich lohnt."

Weitere Artikel: wir erfahren, wie die zwei soeben erschienenen Fragmente "Brüssel" und "Die Feuerstellung" den Schriftsteller Arno Schmidt vollendeten. Petra Steinberger dokumentiert Friedensinitativen aus 35 Jahren für Israelis und Palästinenser. Holger Liebs begleitet den Reisetross der elften Documenta nach Lagos und hilft mit bei der Suche nach der Balance zwischen Theorie und Kunst. Antje Weber meldet die komplette Umstrukturierung der Führungsspitze bei Random House. Henning Klüver stellt ein in Italien erschienenes Buch vor, das möglichen Gründen für die juristische Verschleppung deutscher Kriegsverbrechen in Italien nachgeht. Thomas Sandkühler berichtet von einer Bielefelder Tagung über Erscheinungsformen adligen Handelns und Leidens, und Manfred Geier gratuliert Karl-Otto Apel zum 80.

Besprochen werden eine Schau mit moderner Kunst aus den Vatikanischen Museen im Diözesanmuseum St. Afra in Augsburg, eine Ausstellung mit Werken russischer Künstlerinnen aus fünf Jahrhunderten in der Moskauer Tretjakow-Galerie sowie Bücher: Wladimir Woinowitschs Roman "Aglaja Rewkinas letzte Liebe", Neuausgaben dreier Romane von Gerold Späth und ein Buch über Ursprung und Evolution des Römischen Rechts (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 15.03.2002

Südkorea hat in der PISA-Studie zwar gut abgeschnitten. Im Land selbst wird das Bildungssystem eher als Grund zur Auswanderung betrachtet, schreibt Hoo Nam Seelmann. Zwar sind die Schulen modern, verfügen über Computer und Internet, die Klassengrößen sind akzeptabel und für sozial schwache Kinder gibt?s kostenloses Mittagessen, informiert sie, aber der Konkurrenzdruck ist außerordentlich hoch - die ganze Schulzeit ist ausgerichtet auf die Aufnahmeprüfung zur Universität: "An den Prüfungstagen konzentriert sich die Aufmerksamkeit der ganzen Nation darauf, selbst Flugzeuge dürfen nicht über Schulen fliegen, um die Chancengleichheit nicht zu gefährden. In Kirchen und Tempeln trifft man verzweifelt betende Mütter an". Für Seelmann ein strukturelles Problem - es gibt kein differenziertes Schulsystem, kein Sitzenbleiben, fast alle wollen nach 12 Jahren Schule auf die wenigen Universitäten mit den wenigen Studienplätzen. Die Ursache sieht sie in der altkoreanischen konfuzianischen Tradition, die kaufmännische und handwerkliche Berufe gering schätzt.

Weitere Artikel: Günter Figal würdigt in seinem Nachruf auf Hans-Georg Gadamer Leben und Werk des Philosophen, der gesagt habe, "Hermeneutik sei, dass der andere Recht haben könne". Marc Zitzmann empfiehlt den Besuch von Hans Holleins Vulkanpark in der Auvergne - aber erst in einigen Monaten, "wenn die Vegetation nachgewachsen ist und die Technik überall funktioniert". Aldo Keel berichtet, dass Henrik Ibsens Gesamtwerk in einer historisch-kritischen Ausgabe herausgegeben werden soll: die Universität Oslo hat mit dem Aschehoug-Verlag einen Vertrag abgeschlossen. Und Georges Waser begutachtet die Klassiker-Aufmachung, in der Penguin die James Bond Romane, über die ihr Autor Ian Fleming sagte, sie seien "nach dem einfachen Grundrezept 'bang-bang' und 'kiss-kiss' geschrieben", jetzt neu herausbringt.

Auf den Filmseiten werden heute unter anderem die Schweizer Filmkomödie "Ernstfall in Havanna", Ridley Scotts "Spy Game" und Yvan Attals "Ma femme est une actrice" besprochen.

TAZ, 15.03.2002

Für die letzte Folge "Kultur in Kabul" hat Sven Hansen sich nochmal richtig angestrengt und das afghanische Nationalmuseum im zerstörten Vorort Darulaman am südwestlichen Stadtrand besucht. Eine echte Aufgabe: Akkeditierung des Außenministeriums beantragen, Schrieb des Sicherheitsbüros besorgen, beim Ministerium für Kultur und Information um eine Genehmigung vorsprechen - und dann: Scherben, lauter Scherben, und an der Tür des Museums klärt ein Schild über die Gefahren von Minen auf. Was die Mudschaheddin nicht zerstört oder weggeschafft haben, haben die bilderstürmenden Taliban zerstört. "Von einst 100.000 Exponaten haben wir heute noch 30.000 Stück", zitiert Hansen einen nicht sehr beneidenswerten Museumschef.

Weitere Artikel: Ulli Allmendinger stellt Istanbuls zwischen dem Willen zur Globalität und der Gefahr der Selbstorientalisierung schwankende Kunstszene vor. Andreas Hartmann wundert sich über den ersten Longplayer des deutschen DJ-Wunders Timo Maas. Max Dax empfiehlt die neue Platte des Elektronikduos Coloma ("Silverware"). Brigitte Werneburg amüsiert sich köstlich über die neue Calvin-Klein-Kampagne, ein männliches Modell mit viel Brot in der Wäsche und darüber, wie das die Männer aufregt. Der Süße heißt Travis Fimmel und ist zu bewundern hier, hier, hier und hier. Nicht weinen.

Zum Tode Hans-Georg Gadamers hat's vorerst nur für eine klitzekleine Notiz gereicht.

Dafür ganz groß: Tom.

FR, 15.03.2002

Der Burda-Manager und einstige entwicklungs- und rüstungspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Jürgen Todenhöfer fordert die internationale Staatengemeischaft zur Unterstützung des afghanischen Übergangspräsidenten Hamid Karsai (mehr hier) auf, dessen militärische Ohnmacht ihn erschüttert. "Die internationale Staatengemeinschaft muss Karsai in die Lage versetzen, die zahllosen Privatmilizen zu entwaffnen und in eine zentrale Polizeiorganisation und eine zentrale Armee zu überführen." Außerdem müssten die USA ihren Kriegsgegnern ein Signal geben, "dass sie, wenn sie ihren sinnlosen Kampf aufgeben, nach den Regeln des Völkerrechts behandelt werden". Afghanistan sei ein wichtiger Testfall dafür, "ob es der von den USA geführten Antiterror-Allianz wirklich um den Aufbau einer besseren und gerechteren Welt geht oder nur um Rache für einen feigen Terroranschlag".

In der FR schreibt Christian Thomas den Nachruf auf Hans-Georg Gadamer und fragt, was bleibt jenseits der Anekdoten vom weltenbummelnden Greis im Cordanzug. "Mit Gadamers Philosophie wird die Hermeneutik der Erfahrung fortgeschrieben (auch, das wird von der Philosophie gerne leicht übersehen, eine Hermeneutik der Kunst im Besonderen) ... Für den Leser haben sich daraus grandiose Unternehmungen ergeben, weit gespannte Reisen, eine Grand Tour durch eine zweieinhalbtausendjährige abendländische Tradition." Kleinere Kondolenz-Beiträge liefern ferner Axel Honneth und Iring Fetscher.

Außerdem: Es gibt ein bislang unveröffentlichtes Interview-Fragment, in dem Marion Gräfin Dönhoff über ihre Anfänge als Journalistin spricht. Michael Braun freut sich über das 25-jährige Bestehen der Literaturzeitschrift "Schreibheft". Christian Broecking annonciert die Europatournee des New Yorker Gitarristen Marc Ribot. Und Matthias Kettner schreibt zum 80. Geburtstag des Philosophen Karl-Otto Apel.

Besprechungen schließlich gibt's zu Christoph Nels "Fidelio"-Inszenierung an der Deutschen Oper Berlin und zu Wes Andersons neuem Film "The Royal Tennenbaums".

FAZ, 15.03.2002

Für Henning Ritter ist nicht nur ein bedeutender Philosoph, sondern eine Tradition endgültig gestorben: Gadamer, ein letzter Vertreter "jener untergegangenen deutschen akademischen Welt". In seinem Nachruf konzentriert sich Ritter wesentlich auf die Vita des Heidegger-Schülers und "Wahrheit und Methode"-Autors. Als Begründer der neuzeitlichen Hermeneutik, als der Gadamer an den Unis in erster Linie bekannt ist, lässt Ritter den Philosophen weitestgehend außen vor. Statt dessen hat er ihn als einen nach Mitteilung und Offenheit Sehnsüchtigen in Erinnerung, einen gewandten "Debattierer, der vieles an sich heranließ, um ihm dann doch immer wieder das Eigene abzugewinnen. Leibniz hat er mit der Bemerkung zitiert, alles, was er lese, leuchte ihm ein. Aus solchem Vermögen erwuchsen ihm in spätesten Tagen Züge einer gelassenen Menschlichkeit, ja Warmherzigkeit, die ihn über jeden Ehrgeiz hinaushoben und mit denen der greise Philosoph auch jenseits seines Gedankenkreises beeindrucken konnte."

Eine Dreiviertel-Seite Platz räumt die FAZ erwartungsgemäß ihrem Säulenheiligen Craig Venter ein, der sich in seiner komplett abgedruckten Rede zur Verleihung des Paul-Ehrlich-Preises selbst feiert: "John Dewey hat einmal gesagt: 'Alle großen Fortschritte der Wissenschaft sind aus kühnen Fantasien hervorgegangen.' Ich hoffe, in diesem Sinne als kühn zu gelten." Prost.

Aus einer kurzen Meldung erfahren wir, dass Random House auf die gesunkenen Umsatzzahlen reagiert und die Führungsriege ersetzt hat: Klaus Eck etwa, bisher im Vorstand des deutschen Zweigs von Random House, muss die meisten seiner Aufgaben abgeben.

Weitere Artikel: Christian Schwägerl berichtet vom Milosevic-Prozess, bei dem der Angeklagte mitansehen müsse, wie die Wissenschaft eingesetzt wird, um die Schuldigen zu überführen. Jordan Mejias fasst die Beiträge einer New Yorker Konferenz zusammen, die sich der Frage widmet, wie die offene Gesellschaft den Terror überleben kann. Die Baustelle des abgebrannten Opernhauses La Fenice hat Dietmar Polaczek in Venedig besucht. Wie Adel im 18. bis 20. Jahrhundert verpflichtete, hat Jürgen Schmidt bei einer Bielefelder Tagung über Adelsgeschichte erfahren. Christian Geinitz schildert, wie die Bauhaus-Stiftung der dunklen Erscheinung von Jacarezinho, einer "der übelsten Gegenden von Rio de Janeiro", etwas Glanz verleihen will. Rudolf Schmitz gratuliert "Mister Fluxus" Rene Block zum Sechzigsten, Christian Geyer beglückwünscht dem Philosophen Karl-Otto Apel (hier ein Gespräch mit Apel aus dem Jahr 1997) zum Achtzigsten: einem, der nach wie vor in seiner "Werft" an der "Instandsetzung und Reparatur" des "Schlachtschiffs der Diskurstheorie" arbeite. Ahoi.

Kritisch unter ihre Lupe nehmen die FAZ-Kritiker heute Anne Holts mordmäßigen Roman "In Kalter Absicht" und Ursula Krechels Erzählung "Der Übergriff" (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr). Durchforstet werden nahöstliche Journale, zwei neue Museen in Valencia und Castellon; die Ohren wurden gespitzt beim Konzert der Finnischen Radiosymphoniker in Frankfurt. Der Vorhang auf ging in Düsseldorf zu Molieres "Amphitryon" und in Konstanz zur Uraufführung von Andrea Jungwirths "Schlaflosen". Im Kino wurde Tsai Ming-liangs "Der Fluss" gesehen. Auf der "Schallplatten und Phono"-Seite lauschen wir Anthony Steward Heads Erwachsenenmusik "Music for Elevators", Richard Danielpours Ground-Zero-"American Requiem", Claus Boesser-Ferraris Gitarrentheatermusik "Stageplay", Alexandre Transmans Orchestermusik und Charles Ives' Stil-Mix-Musik.