Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.03.2002. In der SZ erklärt Andreas Gursky, wie genau er demnächst Kühe zu fotografieren gedenkt. Außerdem findet die SZ eine Vorgängerepisode zum Bundesrats-Dramolett aus dem Jahr 1198. Die FR unterhält sich mit Michael Hardt über seine Globalisierungsbibel "Empire". Die taz befasst sich mit der Kulturszene von Bolivien. Die NZZ resümiert polnische Debatten zu EU-Beitritt. In der FAZ fragt sich Peter Schneider, warum die 68-er-Generation Themen wie die Vertreibung mied.

SZ, 26.03.2002

Gustav Seibt erinnert aus Anlass des Bundesratsdramoletts an eine historische Vorgänger-Szene im Deutschen Reich: der Doppelwahl des Königs im Sommer 1198 mit zwei darauf folgenden Krönungen. "Eine der noch unerkannten Sensationen der Freitagssitzung des Deutschen Bundesrates ist," so Seibt, "dass der Kanzler sich sehenden Auges über die konsensuelle Verfassungsliebe der deutschen Öffentlichkeit so eklatant hinweggesetzt hat. Das Publikum, darauf wird Schröder setzen, ist zunehmend entnervt von einer Blockadepolitik der Länderkammer, die seit vielen Jahren jedes wichtige Reformvorhaben der Zentrale mindestens stark verwässert, wenn nicht ganz verhindert hat. ... Appelliert 'Berlin' nach jahrelanger Stagnation an tiefsitzende Affekte und Geschichtsbilder von deutscher Uneinigkeit?" Interessante Frage, findet Seibt.

Im Interview spricht der Fotograf Andreas Gursky (mehr hier) über seine Arbeit, die Halbwertszeit von Aufnahmen und warum eines seiner Bilder kürzlich für 701.055 Euro versteigert wurde. Nach seinen Plänen befragt, gibt er an, sich einmal "überraschen lassen" zu wollen und demnächst Kühe zu fotografieren. So furchtbar überraschend wird das wohl aber auch nicht: "Der gedankliche Prozess zu diesem Bild hat schon im vergangenen Jahr eingesetzt. Es gibt einen klaren bildnerischen Entwurf. Ich fahre nicht einfach mal nach Wesel oder nach Holland und lege mich auf die Weide, ganz klar. Die Aufnahme ist logistisch auch nicht einfach. Die Kühe sollen gerade in den Stall getrieben werden."

Weitere Themen: Frank Ebbinghaus berichtet über "alarmistische" Reaktionen der Birthler-Behörde auf den Urteilsspruch vom 8. März und plädiert für einen maßvollen und gleichzeitig streng archivarischen Umgang mit den Stasi-Unterlagen. Karol Sauerland erzählt, wie Polen über das Gedenken der Vertreibungen diskutiert. Fritz Göttler lässt noch einmal die Oscar-Nacht Revue passieren (siehe auch unsere Post aus New York). Malte Oberschelp berichtet von der "intermedium 2" im Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie. Joachim Kaiser schreibt den Nachruf auf den Dirigenten und Festivalchef Rudolf Baumgartner. Und Alex Rühle stellt eine Publikation vor, mit der 14 italienische Schriftsteller und Intellektuelle gegen Berlusconi demonstrierten und die am vergangenen Wochenende pünktlich zum Pariser Salon du Livre - Ehrengast: Italien - erschienen war (zum Protest gegen Berlusconi siehe auch unsere Post aus Neapel).

Besprochen werden die Ausstellung "Streamline - Amerikanisches Design 1930 - 1955" im Kunstmuseum Wolfsburg, Jürgen Kruses Inszenierung von Eugene O'Neills "Gier unter Ulmen" am Hamburger Thalia Theater (mehr hier), Becketts "Glückliche Tage" im Wiener Akademietheater und Mozarts "Entführung aus dem Serail" am Münchner Gärtnerplatz-Theater (mehr hier) und Bücher, darunter eine bisher nur auf englisch erschienene Autobiografie des schwarzen Bürgerrechtlers Vernon E. Jordan, eine Autobiografie des Greenpeace-Gründers David McTaggart und eine Arbeit über den Dichter Catull und sein erotisches Werk. (Siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr). Hinweisen wollen wir noch auf einen Artikel von David Höhn, der auf den Wissenschaftsseiten beschreibt, wie gut Agatha Christie die Toxikologie beherrschte.

FR, 26.03.2002

Iris M. Young, Politikwissenschaftlerin an der University of Chicago und Daniele Archibugi, Forschungsdirektor am Consiglio Nazionale delle Ricerche in Rom, plädieren in ihrem Text für Alternativen "zum Krieg gegen den Terror". Dafür schlagen sie "zwei Prämissen vor: Zum einen sollte man die Situation als einen Konflikt zwischen Personen und nicht zwischen Staaten ansehen. Die Angreifer waren nicht Vertreter eines Staates, sondern Mitglieder privater Organisationen, und ihre Opfer waren Individuen aus mindestens 70 verschiedenen Ländern. Zum Zweiten sollte man die Vorfälle als kriminelle, nicht als kriegerische Akte deuten, und darauf antwortet man mit polizeilichen Ermittlungen auf Grundlage des Gesetzes sowie mit rechtlichen Maßnahmen, die weitere solche Verbrechen verhindern."

Im Interview spricht der amerikanische Literaturwissenschaftler Michael Hardt über Thesen seines Buches "Empire", einer Globalisierungsdiagnose, die er gemeinsam mit Antonio Negri die veröffentlicht hat. Zentrale Begriffe sind darin das globale Herrschaftssystem "Empire", das seine Macht aus der Energie der Menge, der "Multitude" bezieht. "Die kapitalistischen Institutionen und Strukturen können lediglich auf sie reagieren. Dass Kommunikation, Information und Affekte zentrale Parameter der New Economy sind, ist zum Beispiel Ergebnis von globalen Revolten wie der 68er-Bewegung oder des frühen Feminismus. Die wirklich kreativen Kräfte bei der Herausbildung der gegenwärtigen ökonomischen Verhältnisse waren also spezifische Widerstandsformen gegen die alte Arbeitswelt... Die Machtformen und das Empire, also das gegenwärtige Herrschaftssystem, konnten darauf lediglich reagieren, indem sie Elemente daraus in sich aufnahmen."

Weitere Themen: Daniel Kothenschulte beschreibt die Oscar- Nacht als "Fest der Rührung", Helmut Höge versucht eine "historischen Lesart der Russlandhilfe", und in der Kolumne "Times mager" geht es um einen Reliquienstreit, genauer: die Umbettung der Gebeine von Alexandre Dumas. Sascha Michel berichtet schließlich noch von einer Darmstädter Tagung zum Thema "Performativität und Praxis".

Auch die FR stellt das Medienkunst-Festival "intermedium2" im Karlsruher ZKM vor. Beschrieben wird das Ergebnis einer Einladung an die Young-British-Artists-Gang-Künstlerin Tracey Emin, ihre exhibitionistische Kunst in der laufenden Ausstellung "Prüderie und Leidenschaft" im Münchner Haus der Kunst zu präsentieren. Gefeiert wird eine Inszenierung von Jon Fosses "Winter" am Zürcher Schauspielhaus, außerdem besprochen wird "Limes. Mark Aurel", das neue Stück von Volker Braun am Staatstheater Kassel.

TAZ, 26.03.2002

Christina Nord berichtet über die Kulturszene in Bolivien, die mit Desinteresse und Gleichgültigkeit zu kämpfen hat. "Die Bolivianer sind ein kulturloses Volk", zitiert sie einen bolivianischen Politikwissenschaftler. "Was sich nicht in Geld verwandeln lässt, interessiert niemanden, die Literatur zum Beispiel gilt als unseriös, als Angelegenheit von Homosexuellen." Ihr Fazit nach zahlreichen Gesprächen: "Der globalisierte Kunstbetrieb mag bis Buenos Aires kommen oder bis Mexiko-Stadt. Doch nach Bolivien, in das in sich selbst eingekapselte Binnenland, verirrt sich kein Gesandter einer Catherine David, eines Szeemann oder Enwezor."

Ansonsten gibt es Besprechungen: Über die Uraufführung von Volker Brauns "Limes. Mark Aurel" in Kassel urteilt Katrin Bettina Müller: "Ganze Unterrichtsstunden der Kulturkritik könnte man an einzelnen Textzeilen aufhängen." Joachim Schneider besuchte die "intermedium 2" in Karlsruhe. Weiter werden Bücher besprochen, darunter Silvia Szymanskis neuer Roman "652 km nach Berlin" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr) und eine bisher nur auf englisch erschienene Studie des Soziologen James W. Loewen zur amerikanischen Erinnerungskultur.

Und hier TOM.

NZZ, 26.03.2002

Gerhard Gnauck untersucht in einem "Schauplatz Polen" polnische Debatten zum EU-Beitritt. Manche machen sich Sorgen, ob Europa christlich genug ist für Polen, aber insgsamt muss man "schon lange suchen, um intellektuelle Stimmen zu finden, die - über die Enttäuschung über derzeitige Brüsseler Verhandlungspositionen hinaus - einer Fundamentalopposition gegen den EU-Beitritt das Wort reden. Mal ist es der Schriftsteller Andrzej Stasiuk, der - in einer deutschen Zeitung wohlgemerkt - seine Melancholie hinausschreit angesichts des 'Rattenrennens zum Brüsseler Tisch' und die EU als Gemeinschaft derjenigen verhöhnt, die 'gelernt haben, mit Messer und Gabel zu essen und das richtige Rasierwasser zu benutzen'." Isst der gute Mann mit bloßen Händen?

Anlässlich der Münchner Frühjahrsbuchwoche geht Irene Binal auch auf die Debatten des Gastlandes Indien um die eigentliche indische Literatur ein: "Die Emigranten als Verräter an der eigenen Nation? Einige von ihnen verärgern mit ihrem Erfolg die Daheimgebliebenen; handfeste materielle Gründe schüren da und dort den Neid. Da hilft es wenig, dass nicht jeder Inder im Westen mit seiner Literatur zu Ruhm und Ehren kommt. Vikram Chandra, der vor allem in den USA populär wurde, arbeitete in der Computerbranche, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen. 'Der reiche indische Autor, der im Ausland in harter Währung bezahlt wird, ist ein Mythos', sagt er."

Weiteres: Jürgen Ritte resümiert ein Pariser Kolloquium über "Die Intellektuellen und die Okkupation" Andres Briner schreibt zum Tod des Geigers Rudolf Baumgartner. Besprochen werden Robert Altmans Film "Gosford Park" (mehr hier), eine Ed-Ruscha-Ausstellung in Wolfsburg, Händels "Rinaldo" in Luzern und einige Bücher, darunter Martin Stadlers Roman "Aufräumen" und Schriften zum Kino von Guillermo Cabrera Infante (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr.)

Und in einem kleinen biografischen Text erinnert sich Ilse Aichinger an Steinbrüche: "Der Steinbruch von Wopfing ist niedrig, schattig und zerklüftet, könnte zu kleineren Höhlen neigen. Das helle Feld an seiner unteren Grenze lässt an Weizen und das Ende des Frühsommers denken. Die Laubbäume an seinem oberen Rand geben auch bei geringen Ansprüchen wenig Hoffnung auf Wälder, erinnern an den Begriff 'lichter Durchmesser', eine der wenigen kurz aufblitzenden Befreiungsmöglichkeiten aus frühen Physikstunden."

FAZ, 26.03.2002

Verena Lueken und Michael Althen kommentieren die Oscar-Nacht. Vier Oscars für schwarze Haupt- und Nebendarsteller in 38 Jahren, dass nennt Lueken eine "lausige Bilanz" (und zwar für die Weißen). Althen freut sich, dass nicht allzu viel patriotisches Pathos verbreitet wurde: "So hat Hollywood fürs erste die Lufthoheit im Reich der Träume zurückerobert und demonstriert, dass es nicht gewillt ist, sich von der Politik über den September hinaus instrumentalisieren zu lassen." Auf der Zeitgeschehen-Seite schreibt Althen überdies ein kleines Porrät der ausgezeichneten Schauspielerin Halle Berry.

Jürg Altwegg berichtet über die letzten Teilberichte der Bergier-Kommission über die Schweizer Verstrickung in der Nazi-Zeit und zitiert gleich zu Anfang seines Artikels einige der schlimmsten Details: "Viele Schäden der Kristallnacht waren bei helvetischen Gesellschaften versichert. Sie wurden schnell und generös geregelt - allerdings bekamen nicht die geschädigten Juden das Geld, sondern die Nazis. Später zahlten die Versicherungen auch die Lebensversicherungen von verfolgten Juden an die deutsche Steuerbehörde aus. Allerdings nur den Rückkaufswert und nie die für den Todesfall versicherte Summe: Das wäre ein zu deutlicher Hinweis auf das tatsächliche Schicksal der Juden gewesen." In einem Interview bedauert der Kommissionsleiter Jean-Francois Bergier, dass seine Berichte nur auf internationalen Druck zustande gekommen seien. "Ohne diesen Druck wäre es nie zu einer Bestandsaufnahme in diesen Dimensionen gekommen. Wichtig ist, dass diese historische Erinnerungsarbeit jetzt geleistet wird. Andere Länder tun das gleiche, und in dieser Hinsicht sind wir sogar ein bisschen zu Pionieren geworden."

In einem kleinen Essay denkt der Schriftsteller Peter Schneider darüber nach, warum die 68-er-Generation Themen wie Vertreibung oder die Bombardements der deutsche Städte ausließen und findet zum Teil auch gute Gründe dafür: "Es war zuviel verlangt, gleichzeitig die Schweigestarre der Nazi-Generation aufzubrechen und die Verbrechen an der deutschen Zivilbevölkerung in den Blick zu nehmen... Wer behauptet, die eine Debatte hätte der anderen nichts anhaben können und dürfen, kennt das Deutschland jener Jahre nicht. Aber meine Rechtfertigung unserer politischen Fixierung kann nicht bedeuten, an ihr festzuhalten. Die Kosten unserer 'Auslassungen' waren schon damals sichtbar."

Weiteres: Auf der Medienseite warnt Michael Hanfeld vor einer Übernahme des Kirch-Imperiums durch Rupert Murdoch ("Nicht umsonst hat Tony Blair kürzlich seinen Kollegen aus Berlin davor gewarnt, Murdoch ins Land zu lassen.") Auf der Bücher-und-Themen-Seite setzt sich Wolfgang Schneider anhand älterer und neuerer Bücher mit der Faszination der Literatur für die Arktis auseinander. Auf der letzten Seite stellt Christoph Albrecht den amerikanischen Romancier und Essayisten Ralph Peters vor, der das politisch-korrekte Amerika durch seinen Rechtsanarchismus verstört und im übrigen Osama bin Laden mit Thomas Müntzer vergleicht.

Ferner resümiert Uwe Walter ein Göttinger Symposion zur Emigration. Rudolf Schmitz hat der vierten documenta-Plattform beigewohnt. Siegfried Stadler hält uns über den Dresdner Orgelstreit (mehr hier) auf dem laufenden. Andreas Platthaus gratuliert Randy Newman, der nach 16 Nominierungen nun endlich den Oscar für den besten Filmsong bekommen hat. Und Gina Thomas schildert den Streit um die Zulassungskriterien in Oxford.

Besprechungen gelten der Dramatisierung von Josef Haslingers "Vaterspiel" in Graz, einem Berg-Konzert des SWR-Sinfonierorchesters unter Michael Gielen in Frankfurt, Jan Hrebejks Filmkomödie "Wir müssen zusammenhalten", einem Konzert des Sängers Xavier Naidoo in Offenbach, einer Ausstellung des Kinderbuchillustrators Ernst Kreidolf in Konstanz und einer Ausstellung mit Leipzig-Fotografien von Hermann Walter in Leipzig.