Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.04.2002. In der FAZ kommentieren Amos Oz und David Grossman die Lage in Israel. Auch die SZ analysiert den Konflikt. Die Zeit sieht die Demokratie in Gefahr. Die FR fragt: Braucht Berlin ein Rosa-Luxemburg-Denkmal? In der taz schreiben sechs Kritiker über sechs Filme von Billy Wilder.

FAZ, 04.04.2002

Zwei israelische Autoren kommentieren die Lage.

Zwei Kriege seien in Nahost ausgebrochen, schreibt Amos Oz (mehr hier und hier). "Den einen führen die Palästinenser, um ein Ende der Besatzung zu erreichen und ihr Recht auf einen unabhängigen Staat durchzusetzen. Jeder vernünftige Mensch wird diese Sache unterstützen. Den anderen Krieg führen fanatische Muslime, von Iran bis Gaza und von Libanon bis Ramallah, um Israel zu vernichten und die Juden zu vertreiben. Jeder vernünftige Mensch wird dieses verurteilen." Für Oz bleibt als Konsequenz nur, sich aus den besetzten Gebieten zurückzuziehen - so wäre wenigstens der eine Krieg beendet.

David Grossman (mehr hier und hier) sieht die größere Schuld für die aktuelle Lage bei den Palästinensern: "Ohne Israels Anteil an der Eskalation und das Leiden der Palästinenser... herunterspielen zu wollen, habe ich heute das Gefühl, dass die jetzige unhaltbare Situation durch die palästinensische Entscheidung für die Option der Selbstmordmassaker herbeigeführt wurde. Die Selbstmordanschläge haben dem ohnehin schon unendlich komplizierten Konflikt eine irrationale, wahnsinnige, in jeder Beziehung unmenschliche und sogar in diesem Kontext beispiellos unmoralische Dimension verliehen... Der bewusste Einsatz dieser Waffe in diesem Umfang und dieser Frequenz, die schon fast zur Routine geworden sind, kann Israel zu höchst gefährlichen Reaktionen treiben und das rationale Denken ausschalten, das in dieser brisanten Situation so bitter nötig ist."

Tilman Spreckelsen berichtet über Klauseln im geplanten Gesetz zur Buchpreisbindung, die die Buchpreisbindung für alle zur Pflicht macht, nur nicht für Bertelsmann (und Weltbild): "Denn in den Fillialen eines Buchclubs darf künftig jede Neuerscheinung gleichzeitig mit der regulären Ausgabe erheblich billiger verkauft werden, und zwar an jeden, der sich als Mitglied registrieren lässt. Wer sich als Buchhändler auf lettische Lyriker spezialisiert hat, wird darunter weniger leiden, aber für alle anderen wird es hart: Das für jede Kalkulation entscheidende Geschäft mit den Bestsellern wird sich unweigerlich von den Buchhandlungen in die Club-Fillialen verlagern." (Mehr zu diesem Thema hier.)

Weiteres: Martin Scorsese (mehr hier) schickt eine kleine Hommage auf Billy Wilder ("Jetzt sind keine Meister des alten Hollywood mehr übrig."). Joseph Hanimann befasst sich mit dem Thema des Exils in der palästinensischen Literatur. Karol Sauerland meldet, dass der ehemalige Bürgermeister von Jedwabne, Krzysztof Godlewski, der sich für die Aussöhnung mit den Juden einsetzte, die Jan-Karski-Medaille bekommt. Jörg Magenau fragt, ob die Literaturhäuser in Berlin enger zusammenarbeiten sollten. In Dirk Schümers Venedig-Kolumne geht's um die Frage, wie man die Tagestouristen dazu bringt, einen Obolus für die Erhalötung der Stadt zu zahlen - eine Kurtaxe? Rainer Flöhl schreibt zum Tod des Psychiaters Caspar Kulenkampff. Matthias Oppermann resümiert eine Hitorikertagung über "Revolution und Migration".

Auf der Medienseite porträtiert Souad Mekhennet die beiden Leiter der ARD- und ZDF-Hauptstadtstudios Thomas Roth und Peter Frey. Und Jörg Thomann porträtiert den Affen aus der "Trigema"-Werbung. Auf der Filmseite berichtet Jürg Altwegg über den Französischen Streit zu Costa-Gavras' Verfilmung des "Stellvertreters" - besonders das Plakat des Films (hier als Postkarte) hatte ja für Aufregung gesorgt. Auf der letzten Seite hofft Julian Nida-Rümelin, dass der Film "A Beautiful Mind" über den Mathematiker John Nash seine Faszination für die "Entscheidungs- und Spieltheorie" in die Welt tragen wird (und wir wollen ihn in dieser Hoffnung keineswegs aufstören). Eva Menasse schildert die Schwierigkeiten des Cartoonisten Gerhard Haderer, dessen "Leben Jesu"-Version von der katholischen Kirche nicht geschätzt wird (mehr Informationen und Bilder finden Sie hier). Und Siegfried Stadler informiert uns über den neuesten Stand im Dresdner Orgelstreit: Silbermann oder moderne Orgel in der Frauenkirche? Jetzt soll eine Expertenkommission entscheiden.

Besprechungen gelten dem Lurzerner Stiftungsmuseum für die Sammlung Rosengart, das mit einer Picasso- und Klee-Ausstellung eröffnet wurde, Clara Laws Film "The Goddess of 1967", neue Choreografien des Ballet de l'Opera de Lyon, eine Veit-Hofmann-Ausstellung im Sächsischen Kunstverein und ein Konzert der auf Tournee befindlichen "Chemical Brothers".

Zeit, 04.04.2002

Thomas Assheuer fürchtet einen Niedergang der Demokratie durch den Druck der Globalisierung und nennt Politiker wie Silvio Berlusconi und Jörg Haider als Repräsentanten dieser Entwicklung. "Vor allem Haider und Berlusconi sind überzeugt davon, dass der Staat in der Industriegesellschaft ein beklagenswertes Opfer ist, gewissermaßen ein tödlich getroffener, sich im Staub windender Leviathan, ausgeraubt von der hedonistischen Sozialstaatsgesellschaft, in Schach gehalten von den Verbänden, erpresst von streikwütigen Gewerkschaften und deshalb unfähig zur exekutiven Entscheidung darüber, wer zu den Gewinnern und wer zu den Opfern des globalen Kapitalismus gehört, dessen revolutionäre Dynamik Berlusconi und Haider auf ganzer Linie bejahen."

Mit der Reise nach Ramallah und dem denkwürdigen Auschwitz-Vergleich des Jose Saramago ist das Internationale Schriftstellerparlament für Jens Jessen endgültig hinter seinen Anspruch zurückgefallen: "Das Schriftstellerparlament ist zu dem Pathos der medienvermittelten Empörung zurückgekehrt, und noch dazu in der fragwürdigsten Vatiante des vorab beschlossenen, keiner Nachprüfung bedürftigen Urteils."

Hanno Rauterberg schickt ein Porträt der Stadt Lagos, in der gerade auch die documenta Station macht. So fängt sein Artikel an: "Dann stehen wir und bleiben stehen, und nichts rührt sich mehr, was eigentlich nichts Besonderes ist in Lagos, einer Stadt, in der es fünf Ampeln gibt, doch 15 Millionen Menschen."

Weiteres: Robert Leicht plädiert im Streit um die Orgel für die Dresdner Frauenkirche für einen Nachbau der Silbermann-Orgel. Katja Nicodemus schreibt zum Tod von Billy Wilder. Renate Klett stellt das wilde Theater der holländischen Gruppe "Hollandia" vor. Werner Jacob freut sich über die "wundersame Errettung" der Hutfabrik Luckenwalde von Erich Mendelsohn. Besprochen werden Robert Wilsons "Caligari"-Spektakel am Deutschen Theater Berlin und die Ausstellung "Stories" über Erzählstrukturen in der zeitgenössischen Kunst in München.

Aufmacher des Literaturteils ist Dieter E. Zimmers Besprechung von Hans Magnus Enzensbergers "Elixieren der Wissenschaft". Lesenswert auf Seite 2 ein kleiner Text des Schriftstellers Etgar Keret über seine Fernsehabende in Israel und seine Versuche, sich vorzustellen, er das Opfer oder Attentäter.

FR, 04.04.2002

"Braucht Berlin ein Denkmal für Rosa Luxemburg?" fragt Martina Meister angesichts entsprechender Pläne des PDS-Kultursenators Thomas Flierl. "Und wenn ja, warum? ... Tatsächlich wäre es eine glatte Lüge zu behaupten, nichts in dieser Stadt erinnere an die streitbare Sozialistin. Insgesamt neun Gedenkorte sind über Berlin verteilt. .... Nach dem Holocaustmahnmal und der Schlossdebatte darf nun also Rosa Luxemburg als Projektionsfläche dienen und die gesamte Palette deutsch-deutscher Gedenkbedürftigkeit aufs Perfekteste bedienen: Als Frau, Polin, Jüdin und Sozialistin mit leichter Gehbehinderung verkörpert sie in seltener Personalunion das perfekte Bild des Opfers, das sämtliche Fantasien der Wiedergutmachung befriedigt."

"Wer hat eigentlich behauptet, dass Schriftsteller als Schriftsteller auf Schockereignisse wie den 11.September reagieren müssen?" will Ina Hartwig wissen und untersucht literarische und andere Reaktionen auf die Anschläge vom letzten Herbst. "Unter den Schriftstellern kann man heute grob zwei konträre Reaktionen ausmachen. Die einen speisen das Ereignis in ihre Ästhetik ein; die anderen empfinden einen Bruch mit allem Gewesenen und sehen sich dem Unfassbaren ausgesetzt." Manches allerdings klang für Ina Harrtwig, als seien die Ereignisse des 11. September 2001 für einige Literaten eine geradezu willkommene Ich-Prüfung gewesen. "jetzt also habe ich ein leben. ein wirkliches", beginne beispielsweise Kathrin Röggla ihre Aufzeichnungen zum Thema.

Weitere Artikel: Aus Anlass des 70. Geburtstag von Andrej Tarkowskij wirft die slowakische Autorin Irena Brezna kurze, aber bedrückende Schlaglichter auf das Eheleben des 1986 verstorbenen Regisseurs. Eva Schweitzer berichtet von Watergate-Nachbeben unter rechtslastigen US-amerikanischen Predigergrößen wie Billy Graham.

Besprochen werden: eine Ausstellung über Kunst und Kultur zentralasiatischer Völker im Berliner Haus der Kulturen der Welt, Jacques Perrins Zugvögel-Film  "Nomaden der Lüfte" und Bücher, darunter Jorge Sempruns neues Buch "Der Tote mit meinem Namen" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr). 

TAZ, 04.04.2002

Sechs Filmkritiker schreiben über sechs Filme von Billy Wilder: Dietrich Diederichsen mochte "Frau ohne Gewissen", weil Wilder seiner Ansicht nach als Erfinder böser Menschen unschlagbar war. Für Dietrich Kuhlbrodt warWilders "lockere Extravaganz" in "Zeugin der Anklage" Krimitravestie und glamouröses Gefummel mit der Genre-Ordnung. In "Manche mögen's heiß" tastet Wilder laut Harald Fricke aus ironischer Distanz Oberflächen ab. Eine dieser Oberflächen hieß Marilyn Monroe, findet Fricke. Jan Distelmeyer liebt "Das Appartment" samt Mieter Jack Lemon. Die Triebstruktur seiner Figuren mit den ideologischen Fronten des Kalten Krieges kurzgeschlossen fand Anke Leweke in "Eins, Zwei, Drei". Harald Peters schließlich hat von "Buddy, Buddy" gelernt, dass nichts wirklich Sinn hat.

Besprochen werden: Jacques Perrins Tierfilm "Nomaden der Lüfte", Michael Ryners Vampirfilm "Königin der Verdammten" (mit Aaliyah), Clara Laws Wüstenfilm "The Goddess of 1967" und eine Ausstellung mit Objekten des aus Kinshasa/Kongo stammenden Künstlers Bodys Isek Kingelez: "Extreme Modelle" im Münchener Museum Villa Stuck.

Hingewiesen sei auch noch auf ein kurzes Interview auf den Tagesthemenseiten mit dem Historiker Julius H. Schoeps, der vor einem neuen Antisemitismus in Europa warnt.

Schließlich Tom.

NZZ, 04.04.2002

Die NZZ beschränkt sich heute im wesentlichen auf Buchbesprechungen. Unter anderem bespricht Christoph Jahr zwei neue Bücher über Kriegsverbrechen des 20. Jahrhunderts. Urs Hafner beschäftigt sich mit Wolfgang Sofskys "Zeiten des Schrekcnes" und Arno Gruens "Kampf um die Demokratie". Bruno von Lutz würdigt irische Kollektivromane (siehe zu all dem unsere Bücherschau ab 14 Uhr.)

Ferner bespricht Matthias Vogel die neue Präsentation der Sammlung im Kunstmuseum Bern. Andrea Köhler berichtet, dass das New Yorker Moma umzieht. Und es geht um die neue CD der Pet Shop Boys und die CD "Arrhytmia" einer HipHop-Gruppe mit dem wunderschönen Namen Anti-Pop Consortium.

SZ, 04.04.2002

Johannes Willms untersucht Positionen des eskalierenden Nahostkonfliktes und die Kompromisslosigkeit beider Parteien. Selbst die Gefahr, dass der regionale Konflikt entgrenzt wird, scheint in Willms Augen ein politisches Kalkül beider Seiten zu sein, die darauf ihre Siegeshoffnungen gründen würden. "Eine schauderhafte Aussicht, weil damit eine friedliche Lösung zur Illusion wird. Offenkundig jedenfalls ist, dass die Palästinenser mit diesem Kalkül die Erwartung verbinden, ihre machtpolitische Schwäche in eine moralisch-politische Stärke zu verwandeln, die ihren Gegner auf die Dauer in den Augen der Weltöffentlichkeit derart ins Unrecht setzt, dass dieser sich bei der staatlichen Selbstbehauptung nur noch auf Gewalt ohne Recht, also auf Willkür, sowie die politische, militärische und finanzielle Schützenhilfe der USA stützen kann. Dieser Kalkulation entspricht es, dass die Palästinenser bislang keinen halbwegs diskussionswürdigen politischen Lösungsvorschlag unterbreitet haben."

Der schwedische Publizist und Schriftsteller Richard Swartz ("Ein Haus in Istrien") liefert eine Momentaufnahme aus Serbien : "Die Serben sitzen vor dem Fernsehgerät, und wie gewöhnlich ist Slobodan Milosevic auf allen Kanälen zu sehen. Wie gewöhnlich spricht er zu seiner Nation, doch er tut es nicht mehr aus dem Präsidentenpalast, sondern aus dem Gerichtssaal im Haag. Obwohl Richard May, der Richter, ihn ermahnt, sich nur zur Sache zu äußern, verstehen die Serben zu Hause in Serbien jedes Wort. Was die Ankläger oder die albanischen Zeugen sagen, verstehen sie vielleicht auch, aber es interessiert sie nicht."

Weitere Artikel: Adrian Kreye berichtet von der 'World Christian Encyclopedia' der amerikanischen Theologen David Barrett, George Kurian und Todd Johnson. Das zweibändige Werk (mehr hier) von 2400 Seiten behandelt seinen Informationen zufolge sämtliche Religionsformen und -gruppen in den 251 Ländern der modernen Welt und dient vor allem als Beleg der zentralen These: "Im Gegensatz zu den Prophezeiungen der Geisteswissenschaften, hat die Zahl der Religionen und Gläubigen im säkularen 20. Jahrhundert nicht ab-, sondern zugenommen. Und zwar gewaltig." (New Religious Movenment)

Besprochen werden: Eric Rohmers neuer Film "Die Lady und der Herzog" ("spannender als jedes Action-Spektakel, und schlägt, wie ein Kritiker akkurat vermerkte, an Todesopfern allemal 'Die Hard'.") Außerdem gibt es ein Gespräch mit Rohmer. Weiter werden besprochen Elias Perrigs Inszenierung von "Cyrano de Bergerac" am Staatstheater Stuttgart ("ein philosophisches Denkspiel, ein Lehrstück über die Macht der Sprache"), die Sammlung Rosengart, "eine der glanzvollsten Kunstsammlungen Europas", der Luzern jetzt sein jüngstes Museum verdankt, John McTiernans Norman-Jewison-Remake"Rollerball" und Bücher, darunter Bernard Wassersteins "gründliche und gerechte" Geschichte des Kampfes um Jerusalem (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).