Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.04.2002. Die FAZ ruft: Völker der Welt, baut dieses Berliner Schloss! Die SZ ist da zwiespältiger. Und die FR interviewt den Schlossgegner Bruno Flierl. In der NZZ zerreißt die palästinensische Friedensaktivistin Sumaya Farhat-Naser die weiße Fahne. In der taz kritisiert Navid Kermani die schizophrene Haltung der deutschen Medien zu Israel.

FAZ, 17.04.2002

Dirk Schümer kommentiert einen einzigartigen politischen Vorgang: den Rücktritt der gesamten niederländischen Regierung nach der Vorlage eines Untersuchungsberichts zum Massaker in Srebrenica, bei dem die Niederländer, aber nicht nur sie, eine unrühmliche Rolle spielten: "Nachdem sein damaliger Entwicklungshilfe- und derzeitiger Raumordnungsminister, der mächtige Parteilinke Jan Pronk, immer deutlicher machte, dass er die Verantwortung nicht länger aushielt, stand (Premierminister) Koks politisches Über- und Nachleben auf der Kippe. In einem Kabinett, in dem außer ihm selbst und Pronk kein Minister während der niederländischen Srebrenica-Mission beteiligt war, blieb die moralische Haftung nun doch noch am Regierungschef hängen, der seinerzeit die Abwicklung der Mission und das Selbstlob der versagenden Schutztruppen souverän gemanagt hatte. Es dürfte... das erste Mal in der jüngeren europäischen Geschichte sein, dass Politiker derart rigoros die Verantwortung für ein humanitäres Versagen übernehmen - freilich einige Jahre zu spät."

Ganz groß kommt heute das Berliner Stadtschloss heraus. Die Expertenkommission übergibt ihr Plädoyer für einen Wiederaufbau an Bund und Land. Der ehemalige Kultursenator Christoph Stölzl appelliert an die Verantwortung des Bundestags: "Dem Volkssouverän als Bauherrn eine Gasse! Tut der Bund nichts, so wird ein Kernstück der deutschen Hauptstadt immer schäbiger und trostloser. Es sieht dann zwar so aus, wie sich Berlins Seele zur Zeit in weiten Teilen fühlt. Aber so einfach darf es sich niemand machen."

Auch Florian Illies wirft noch einmal die ganze Wucht seines politisch-ästhetischen Denkens in die Waagschale und ruft: "Baut dieses Schloss!" Es äußern sich außerdem Adrienne Goehler, Monika Griefahn und Antje Vollmer.

Mario Vargas Llosa kritisiert Ariel Scharons Politik: "Sie speist sich aus der eisernen Logik jener Utopien, die sich gegen mögliche Kritik selbst impfen. Hinter Scharons Rechtfertigung, die Militäraktion habe zum Ziel, 'die Infrastruktur der Terroristen zu zerstören', steckt in Wahrheit eine andere Idee: In Israel werde es nur dann Frieden und Sicherheit geben, wenn die Palästinenser eine so große militärische Niederlage erführen, dass sie keine andere Wahl hätten, als alle Bedingungen, die ihnen die israelische Regierung stellte, anzuerkennen."

Weiteres: "msi." beschreibt die Synagoge von Djerba als wichtigen Wallfahrtsort. Sabine Brandt gratuliert dem Autor Rolf Schneider zum Siebzigsten. Andreas Kilb schreibt zum Tod des Schauspielers Ivan Desny. Auf der Medienseite informiert uns Jörg Thomann über den gnadenlosen Konkurrenzkampf verschiedener Zeitschriften für Tierfreunde. Heinrich Wefing stellt das neue Layout des Wall Street Journals vor. Und Jordan Mejias findet die wiederbelebte Tageszeitung The New York Sun etwas blass. Auf der Stilseite widmet sich Manuela Lenzen der Mode der Roboter-Fußballspiele. Und Renate Schostak resümiert eine Tagung über die "Heilsversprechen von Vegetarismus, Fleischeslust und Krankfasten".Auf der letzten Seite erinnert Dietmar Dath an die Dichter- und Mathematikergruppen Oulipo, Bourbaki und Alamo. Stefan Weidner stellt uns den palästinensischen Staatsdichter Mahmud Darwisch vor. Und von Heinrich Wefing erfahren wir, dass die katholische Kirche nach zahlreichen Vorfällen von Päderastie in den USA Schadenersatzklagen in Höhe von einer Milliarde Dollar zu gewärtigen hat.

Besprechungen gelten David Finchers Kinothriller "Panic Room" (mehr hier) mit Jodie Foster, Händels "Ariodante" in Freiburg, Joseph Vilsmaiers Film "Leo und Claire" (mehr hier) und die Ausstellung über den wiederentdeckten Maler Michael Sweerts im Rijksmuseum Amsterdam.

FR, 17.04.2002

Im Interview erklärt der Architekturhistoriker Bruno Flierl, was passiert, wenn wie im Fall des Berliner Stadtschlosses, Form und Funktion getrennt voneinander konzipiert werden: "Nachdem die Form des Bauwerkes als Schloss samt seiner Barockfassaden beschlossen war und damit Öffnungen in einer relativ geschlossenen Wand mit fünf großen Eingängen, besteht nun die schwierige Aufgabe, die Nutzung hinter die Schlosshülle zu bringen. Als das Konzept der Nutzer dann endlich vorlag, stellte sich heraus, dass die 100 000 Quadratmeter Hauptnutzfläche, die für erforderlich gehalten wurden, gar nicht in dem Kubus des Schlosses ausreichend Platz finden können. Es passen nur 80 000 Quadratmeter hinein." Kann denn niemand rechnen in der Kommission?

Rudolf Walther wirft einen Blick auf die kulturpolitischen Programme im französischen Wahlkampf. Ach, armes Frankreich, ganz dünne siehts da aus, bei Chirac wie bei Jospin. "Neue Projekte oder Impulse sind nirgendwo erkennbar; die Aussagen der Kandidaten zu kulturpolitischen Fragen sind - quer durch das politische Spektrum - so technokratisch, so stereotyp und so banal wie jene zur Steuer- oder Wohnungspolitik."

Die "Times mager"-Kolumne erinnert an die Ufa-Legende Martha Eggerth. Aus Anlass der Verleihung der Luise-Schröder-Medaille an die Publizistin Daniela Dahn rekapituliert Martina Meister den "Fall Dahn". Daniel Kothenschulte schreibt zum Tod des Schauspielers Ivan Desny. Klaus Bachmann besieht sich Brügge, die "Europäische Kulturhauptstadt 2002", und stößt auf ein "eher unbestimmtes Kunstwollen" anstatt auf Konzepte.

Besprechungen widmen sich einem Bob-Dylan-Konzert in der Frankfurter Jahrhunderthalle (für das gleich 6 FR-Redakteure abgestellt wurden), einer entdeckenswerten Solo-Platte des norwegischen Trompeters Arve Henriksen ("Sakuteiki"), Nick Cassavetes Medizin-Drama "John Q" und Bryan Ferrys neuer, altersmilder Scheibe "Frantic".

TAZ, 17.04.2002

In der taz kritisiert Navid Kermani die schizophrene Haltung deutscher Medien gegenüber der israelischen Politik: "Die Leitartikel der großen liberalen und konservativen Zeitungen finden selten ein uneingeschränktes Wort der Kritik an der jüngsten Offensive der israelischen Armee. Gleichzeitig bringen dieselben Blätter aufrührende Berichte ihrer Korrespondenten über das Vorgehen der israelischen Armee, ebenso wie manche kritische Stimme aus Israel selbst. Die Nachrichtenmagazine im Fernsehen zeigen grässliche Bilder aus den besetzten Gebieten und zwei Minuten später einen Kommentar, der sich argumentativ verrenkt, nur um das nicht zu sagen, was der Zuschauer natürlich dennoch denkt: dass die israelische Besatzung mehr Terror produziert als verhindert."

In einem Interview erklärt die indische Regisseurin Mira Nair, warum sie für ihren Hochzeitsfilm "Monsoon Wedding" die Form des klassischen Bollywoodstreifens gewählt hat: "Dieses Song-and-Dance-Kino gehört zu unserem Leben, wir sind damit aufgewachsen ... die heutige Jugend ist richtig stolz auf Bollywood. Man trägt in Indien heute Gucci, Prada und Miniröcke - aber wenn ein Bollywood-Song im Radio kommt, wird abgerockt." Diedrich Diederichsen gibt sich damit nicht zufrieden; in einem ergänzenden Artikel kritisiert er Nairs Film als allzu versöhnlich und traditionell.

Ferner: In der Jazzkolumne schreibt Christian Broecking über Improvisation als politisches Statement, und Harald Fricke bespricht einen Essayband, in dem Künstler und Theoretiker nach Strategien für "Kunst nach Ground Zero" suchen (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

Schließlich TOM.

NZZ, 17.04.2002

Einen bestürzenden Bericht liefert Sumaya Farhat-Naser, eine palästinensische Friedensaktivistin, über die Lage in ihrer Heimat. Nach der Zerstörung der Städte und ungezählten Tote fürchtet sie eine weitere Radikalisierung der Palästinenser: "Die Debatte um die Selbstmordattentate wird unter den Palästinensern intensiv geführt. Die überwiegende Mehrheit hält Anschläge auf zivile Opfer in Israel für kriminell und verwerflich, erachtet aber das Angreifen militärischer Ziele in Israel und den besetzten Gebieten oder Attacken auf Siedler als legitime Selbstverteidigung, ja als eine Pflicht. Nach wie vor heißt nur eine kleine Minderheit alle Attentate unterschiedslos gut... Diese Gruppe wird zunehmend wachsen, solange keine politische Perspektive in Sicht ist."

Da bekommt man Sehnsucht nach Patagonien, dessen Mythen Uwe Stolzmann in einem "Schauplatz Argentinien" untersucht: "Patagonien heißt sich zurückziehen in jenen Zustand, in dem noch nicht jedes Krümchen Erde, jeder Schritt und jeder Gedanke von irgendwem beansprucht wurde."

Besprochen werden eine Ausstellung der Stadtmodelle des kongolesischen Künstlers Bodys Isek Kingelez in der Münchner Villa Stuck, eine Gesamtedition der Schubert-Lieder bei Naxos, Mussorgskys "Bilder einer Ausstellung" auf CDs von Lars Vogt und Evgeny Kissin, und einige Bücher, darunter ein Gesprächsband Jacqes Derridas und Elisabeth Roucinecos (bisher nur in französisch), das Buch von Christian Gerlach und Götz Aly über den Holocaust in Ungarn, ein Buch mit Texten von Roland Barthes über das Theater. (Siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr.)

SZ, 17.04.2002

Aus aktuellem Anlass (heute wird der Kommissionsbericht übergeben) geben Ulrich Raulff und Gerard Matzig ihre Meinungen zum Stand der Berliner Stadtschloss-Diskussion zum Besten. Während Raulff zwar zugibt, man habe im Verlauf des "Findungsprozesses" vieles an Dummheiten hinter sich gelassen, die Debatte im übrigen aber für so offen wie nie zuvor hält (man werde, schreibt er, den Eindruck nicht los, "dass die inhaltliche Bestimmung dessen, wozu das Schloss ... dasein soll, mehr von Angebot und Nachfrage beherrscht wird als von Willen und Vision"), erklärt Matzig, um was es bei all dem Gezanke wirklich geht: Um den Wunsch, den Traum, die Sehnsucht nämlich und "um die Gegenwart der Gesellschaft am Ausgang der Moderne. Wobei es kein Wunder ist, dass er sich am prominentesten Schnittpunkt des deutschen Sinnstiftungs-Koordinatensystems entzündet hat ... einem Ort, an dem sich Vergangenheitslust, Gegenwartsungewissheit und Zukunftsvision irgendwo zwischen der sehnsuchtsleichten Schwerelosigkeit des Vakuums und dem Horror vacui bleierner Ängste begegnen."

In einem eher unscheinbaren Beitrag erinnert "augf" an ein fernes Land mit Namen Afghanistan, in dem das Chaos wie eh und je herrscht: "Das Interesse der USA ist auf den Irak konzentriert. Die andauernden Bodenkämpfe gegen einige Tausend Al-Qaida-Kämpfer betreiben derzeit nur britische Marines. Das Land ist ein Trümmerhaufen. Das Recht des Stärkeren bricht sich Bahn. Ein Modell dafür, was übrig bleibt, wenn der Westen den Terror bekämpft, ist Afghanistan nicht." Vielleicht ein paar gesteinigte Frauen weniger?

Andere Artikel: Thomas Thiemeyer erklärt, was von de Gaulles "Europäischer Politischer Union" heute wieder aktuell ist. Elegin Heuerding gratuliert dem Komponisten William Walton zum Hundertsten, Alexander Kissler begleitet "Alphaville" auf ihrer Tournee. Walter Schreiber freut sich, dass Kent Nagano vorerst in Berlin bleibt. Thomas Thieringer schreibt zum Tod des Fassbinder-Schauspielers Ivan Desny. Reinhard Schulz kommentiert das vierte Musica-viva-Konzert in München. Veronika Schöne berichtet von einer Hamburger Tagung über Aby Warburg und das Schlangenritual der Hopi-Indianer. Gustav Seibt empfiehlt einen Aufsatz des Historikers Steffen Prauser zum Anschlag in der Via Rasella in Rom, 1944, und ihren Folgen; zu finden in der neuen Ausgabe der "Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte". Und zum Auftakt der Münchner "Criminale" lassen Alex Rühle und Christopher Schmidt einen Kriminalkommissar namens Kaputzki nach einem Elemtarteilchen fahnden.

Besprochen werden der Broadway-Erfolg "Toptog/Underdog" der Pulitzer-Preisträgerin Suzan-Lori Parks, David Finchers Thriller "Panic Room", eine Ausstellung des goldenen Mohrenkopfpokals von Christoph Jamnitzer im Bayerischen Nationalmuseum, ein Konzert des Royal Philharmonic Orchestra mit Daniele Gatti im Münchner Gasteig, ferner Musik in gepresster Form, u.a. Brahms-Sonaten mit Jacqueline du Pre und Daniel Barenboim, eine Aufnahme von Antheils 1.Klavierkonzert mit dem Pianisten Michael Rische, Debussy- uind Sibelius-Einspielungen der estnischen Dirigentin Anu Tali, Rossini, gesungen von Juan Diego Florez, und selbstverständlich Lesefutter: Anthony Baileys Essay über den holländischen Maler Jan Vermeer sowie neue Stories von T. C. Boyle (auch in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).