Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.04.2002. In der FAZ meditiert der Schriftsteller Mathieu Lindon über das zweispältige Verhältnis der Franzosen zu Jean-Marie Le Pen. In der FR schimpft die französische Journalistin Pascale Hugues auf die politische Arroganz ihrer Landsleute. Die NZZ erzählt die grausige Geschichte von Wiener Euthanasie-Opfern der Nazis. In der SZ trägt Heinz Bude die SPD zu Grabe.

FAZ, 26.04.2002

Der Schriftsteller Matthieu Lindon, Autor eines Buchs über Jean-Marie le Pen, schildert das zwiespältige Verhältnis der Franzosen zu dieser Figur: "Seine Erfolge verursachen uns ein schlechtes Gewissen, aber indem wir sie anprangern, verschaffen wir uns ein gutes Gewissen. Wir verabscheuen ihn, weil er immer auf seiten derer steht, die ausgrenzen wollen, und weil er vom Anderen nichts wissen will. Aber nur zu gern sind wir bereit, ihn selbst auszuschließen (groß ist die Zahl derer, die ein Verbot des Front National befürworten). Insofern stellt er für uns das absolut Andere dar - als käme er von einem anderen Stern, als hätten wir mit ihm nichts, aber auch gar nichts zu tun. Dabei gibt es nur wenige Politiker, die wie Le Pen Teil unseres Innenlebens sind: Er steht für die dunkle Seite in jedem von uns, für das, was aus uns werden könnte, wenn wir böse würden." Hier kann man (in pdf) die ersten Seiten von Lindons Buch über Le Pen lesen.

Claudio Abbado gibt seine letzten Konzerte mit den Berliner Philharmonikern, bevor im September Simon Rattle den Dirigierstab übernimmt. Gerhard R. Koch schreibt einen respektvollen Abschiedsartikel: "Oft konnte man bei Abbado hören, dass sein musikalisches Weltbild von der Moderne, nicht zuletzt Nono, geprägt ist, immer mehr auch von deren Fragestellungen: Wie leise kann Musik sein, welche Rolle spielen Einzelton wie Pause, was sagt eine Partitur heute? Was bringen analytisches Bewusstsein und 'historische' Aufführungspraxis für Bach wie Beethoven? Die Ergebnisse frappierten."

Drei interessante Artikel, die ins naturwissenschaftliche Feuilleton schlagen: Länder wie Island und Estland lassen die Gene ihrer Bevölkerung kartieren. Nun ist auch in Deutschland so ein Projekt geplant, berichtet Christian Schwägerl, der aus dem Gesundheitsministerium erfahren hat, dass datenrechtliche Bedenken durch strenge Kriterien entkräftet werden sollen. Ulf von Rauchhaupt stellt ein neues kosmologisches Modell vor, das "Paul J. Steinhardt von der Princeton University im amerikanischen Bundesstaat New Jersey und sein junger Kollege Neil Turok von der Cambridge University in England in der heutigen Online-Ausgabe der amerikanischen Fachzeitschrift Science" erläutern werden - demnach ist der Urknall nur einPaul J. Steinhardter "in einer unendlichen Folge von Urknallen". Und auf der letzten Seite erzählt Dietmar Dath erzählt die Geschichte des französischen Mathematikers Alexandre Grothendieck (mehr hier und hier), Träger der Fields-Medaille, der eine Theorie entwickelte, um die algebraische Zahlentheorie und die algebraische Geometrie zu versöhnen, sich aber nach 1973 aufs Land zurückzog und heute verschollen ist.

Weiteres: Eckhard Kauntz berichtet von einem landesgeschichtlichen Museumskomplex, der für Saarbrücken geplant wird. Michael Siebler gratuliert dem Troja-Ausgräber Manfred Korfmann zum Sechzigsten. Georg Imdahl resümiert eine Hannoveraner Tagung des "Bielefelder Kreises", die den immer hektischeren und beliebigeren Kunstbetrieb aufs Korn nahm. Eva Menasse schildert unendliche Auseinandersetzung um ein in Salzburg geplantes Kunstmuseum. Karol Sauerland zeichnet ein kleines Porträt Krzysztof Godlewskis, der als Bürgermeister von Jedwabne abgesetzt wurde, weil er zu sehr die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit befürwortete. Robert von Lucius begleitet Johannes Rau auf Staatsbesuch, wo er heute das Kierkegaard-Forschungszentrum der Universität Kopenhagen besuchen wird.

Auf der Medienseite schildert Michael Hanfeld die näheren Umstände, unter denen die Fernseh-Duelle von Gerhard Schröder und Edmund Stoiber stattfinden sollen. Und Heike Hupertz erinnert an das Duell von Al Gore und Geoge W. Bush im Oktober 2000, wo die beiden in ihren blauen Anzügen mit weißen Hemden und roten Krawattten wie " zweieiige Zwillinge" wirkten.

Besprochen werden Botho Strauß' Stück "Der Narr und seine Frau heute abend in Pancomedia" in Dieter Dorns Münchner Inszenierung, Einar Schleefs "Nietzsche-Trilogie" in der Berliner Volksbühne, Jessica Hausners Kinodebüt "Lovely Rita" und eine Ausstellung der Ottheinrich-Bibel in der Münchner Staatsbibliothek.

Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht's um eine Einspielung von Anton Schweitzers "Alceste" nach einem Libretto von Christoph Martin Wieland, um neue CDs der "Sterne", eine Tribute-CD für die Kinks, um die geplante neue CD von Oasis, die gegen den Willen der Band schon im Internet kursiert, um eine CD mit Violinkonzerten von Vivaldi, um eine CD der norwegischen Folk-Violinistin Susanne Lundeng und um Mahler-Einspielungen mit den Berliner Philharmonikern unter Claudio Abbado.

TAZ, 26.04.2002

In den Tagesthemen zeigt sich Michael Braun enttäuscht über die Ergebnisse der Krisensitzung im Vatikan wegen der Pädophilieskandale in der amerikanischen Kirche: Das ursprünglich vorgesehene radikale Prinzip, Priester seien sofort zu suspendieren, sobald ein Missbrauchsverdacht vorliegt, sei kassiert, der Passus über die sofortige Anzeige an die weltliche Strafjustiz gestrichen worden, und die Kardinalsrunde habe es sich verkniffen, "den Zusammenhang zwischen dem Sexverbot für Kleriker und den unschönen Vorfällen auszuleuchten".

In der Kultur erklärt die HipHop-Legende Josh Davis alias DJ Shadow seine Sample-Philosophie: Bloß keine Ambient-Samples oder Live-Instrumente! "Meine Faszination für Sampling und Scratching liegt in dem Wissen, dass jeder theoretisch die Möglichkeit hat, alles, was ich benutze, wiederzufinden und seine eigene Platte daraus zu machen."

Ansonsten Besprechungen: zu Brian Ferrys neuer Platte "Frantic" (pfauengleiche Auffächerung der eigenen musikalischen Vergangenheit, schreibt Arno Frank dazu), Jan Engelmann fand Einar Schleefs Nietzsche-Trilogie an der Berliner Volksbühne eher zäh, für Thomas Winkler klingen Die Sterne auf ihrem neuen Album "Irres Licht" noch melancholischer als bisher, und Julian Weber rezensiert die gerade in London erschienenen Erinnerungen Gary Valentines, des Exgitarristen von Blondie.

Schließlich TOM.

FR, 26.04.2002

Pascale Hugues, Deutschlandkorrespondentin des französischen Nachrichtenmagazins Le Point, ist derzeit nicht gut auf Frankreich zu sprechen. Haider, Berlusconi, Neonazis in Deutschland - immer habe Frankreich die Stimme am lautesten erhoben (was ja an sich nur lobenswert ist). Und nun? "Machen wir uns nichts vor: Die Franzosen sind weder tugendhafter noch reifer und auch keine feineren Demokraten als andere. Einer von fünf Franzosen (die Männer mehr als die Frauen, die Alten mehr als die Jungen, die unteren Schichten mehr als die wohlhabenden Milieus) hat für einen hasserfüllten, wild gestikulierenden Antisemiten und Rassisten gestimmt."

Auf einen etwas weniger ernsten Missstand macht Ursula März aufmerksam, wenn sie den "generellen Genrewechsel" der öffentlichen Sex-Affäre ins Komödienfach konstatiert. Ob Clinton, Borer, Becker: das moralische Interesse des Publikums an der Sex-Affäre sei eher vordergründig. Was wirklich interessiere, sei "die Asymmetrie zwischen Idee und Ausführung, aus der sich die Lächerlichkeit ergibt, der Effekt des Misslingens und Vermurcksens. Je ungenierter und paparazzihafter die Öffentlichkeit an den Sex-Affären der Prominenz teilnimmt, desto penetranter wird ihr Wunsch, diese Affären als Desastergeschichten wahrzunehmen und als Albernheiten zu verbuchen ... Ihre Botschaft lautet: Keiner kriegt es richtig hin, auch die Reichen, Schönen, Mächtigen nicht."

Weiteres: Karin Ceballos Betancur gibt einen Lagebericht aus Pablo Nerudas Temuco im Süden Chiles. Dirk Fuhrig freut sich über ein Isländisches Kulturfestival zum 100. Geburtstag (nicht Todestag) von Halldor Laxness in Berlin. "Times mager" nörgelt über das "geregelte Leben" mit Putzfrauen. Morten Kansteiner wohnte einem Gespräch des Schriftstellers Norman Ohler mit dem Kulturwissenschaftler Thomas Macho bei den Essener "Korrespondenzen" bei. Christoph Schröder war auf einer Lesung des norwegischen Autors Jan Kjaerstad ("Der Eroberer") im Frankfurter Literaturhaus, und Hubertus Adam gratuliert dem US-chinesischen Architekten Ieoh Ming Pei zum 85.

Besprechungen widmen sich Einar Schleefs Nietzsche-Trilogie in der Inszenierung von Thomas Bischoff an der Berliner Volksbühne sowie Sabine Gisigers und Marcel Zwinglis Dokumentationsfilm "Do it" über Widerstand auf Schweizerisch.

NZZ, 26.04.2002

Paul Jandl erzählt die grausige Geschichte der Euthanasie-Opfer in der Wiener Klinik "Im Spiegelgrund", wo in der Nazizeit 789 behinderte Kinder umgebracht wurden. "Die Leichname der Opfer vom 'Spiegelgrund' wurden schließlich für weitere Forschungen im Dienste der nationalsozialistischen Wissenschaft verwendet. Ein riesiges Archiv von Präparaten wurde angelegt. Die Feuchtpräparate in formalingefüllten Gläsern, Markstränge, histologischen Schnitte und mit Paraffin konservierten Gehirnscheiben dienten der österreichischen medizinischen Wissenschaft auch weit über das Ende der NS-Zeit hinaus." Die Präparate werden jetzt in einem Ehrengrab beigesetzt.

Claudia Schwartz sieht die freie Szene in Berlin in Gefahr und fürchtet, dass "die Frage, wie viel Kultur sich Berlin leisten kann, zunehmend zur Frage (wird), wie viel Hauptstadtkultur sich Deutschland leisten will".

Weiteres: Im "Kleinen Glossar des Verschwindens" erinnert sich Judith Kuckart an die versunkene DDR. Besprochen werden eine Orazio-und-Artemisia-Gentileschi-Schau in New York, ein Jubiläumskonzert der George Gruntz Concert Jazz Band, die Paris-geschichtliche Ausstellung "Identification d'une ville" im Pavillon de l'Arsenal, eine Ausstellung von Möbeln aus Vorarlberg im Wiener Ringturm und eine Leiko-Ikemura-Ausstellung im Kunstmuseum Liechtenstein in Vaduz.

Auf der Filmseite erinnert sich Felix Philipp Ingold an Andrei Tarkowski, der in diesen Tagen siebzig geworden wäre. Besprochen werden die Filme "Kate & Leopold" mit Meg Ryan und "Thelma" von Pierre-Alain Meier.

Auf der Medien-und-Informatik-Seite berichtet Tilmann P. Gangloff von der Programmmesse Mip-TV in Cannes: Schlechte Zeiten für Hollywood, denn die Europäer gucken lieber eigene Produktionen. Und " neben der neuen Vorliebe der Europäer für Eigenproduktionen gelten die gesunkenen Werbeeinnahmen der hiesigen Sender als Hauptursache für den Umsatzrückgang, doch die niedrigere Nachfrage nach US-Produktionen hat die Preise natürlich ebenfalls sinken lassen. Konnte Warner Bros. noch vor einigen Jahren für eine Folge von 'Emergency Room' 1,5 Millionen Dollar verlangen, müssen sich die Studios selbst bei Hits wie 'Sex and the City' mittlerweile mit gerade einmal einem Drittel dieser Summe begnügen."

Auf dieser Seite wird auch Randall Kennedys (nur auf englisch erschienenes) Buch über die Karriere des Worts "Nigger" (mehr hier) besprochen. Außerdem erfahren wir, dass Internetradios pleite zu gehen drohen, weil sie der Musikindustrie jetzt Tantiemen bezahlen müssen.

SZ, 26.04.2002

In einem düsteren Ausblick auf den Herbst trägt der Soziologe Heinz Bude die SPD zu Grabe. "Der gefeierte Auftakt der Berliner Republik wird als eigentümliches Zwischenspiel in die Geschichte eingehen. Dann wird die SPD wieder sechzehn Jahre auf den Machtwechsel warten, aber es ist angesichts der unübersichtlichen Dynamik im System der politischen Repräsentation völlig unklar, in welcher Gestalt sie dann noch existiert. Die Krise der SPD wird dann keine machtpolitischer oder organisationstechnischer Art, sondern eine geistige Krise sein, die sich daran zeigt, dass die Partei nach dem Abtritt ihres einzigen Frontmanns Gerhard Schröder ohne moralische Maßstäbe, politische Visionen und energisches Personal dasteht." Laut Bude hat die Krise auch einen Namen: Franz Müntefering.

Von einem Gottesdienst der besonderen Art erzählt der israelische Historiker Moshe Zimmermann: "Auf meinem heiligen Platz treffen wir uns seit zwölf Jahren jeden Freitag in den frühen Morgenstunden - Kollegen, Assistenten, Studenten und Assoziierte, um unseren Gottesdienst, unsere nicht-gewalttätige Religion des Fußballs zu praktizieren. Stets zur gleichen Zeit strömen unten in der Stadt Muslime zum Freitagsgebet in die Al-Aksa-Moschee - auf deren Ostseite sich gläubige Juden zum Gebet an der Klagemauer versammeln ...Wir spielen gut zwei Stunden ... Remis gibt es nicht, während die Gläubigen der monotheistischen Religionen unweit von uns eine oft gewalttätige Art von Gottesdienst praktizieren."

Andere Artikel: Sebastian Schütze schwärmt vom Istituto Italiano per gli Studi Filosofici in Neapel, wo das kulturelle Gedächtnis Europas bewahrt wird (und zwar mit privaten Mitteln). Annette Mentrup stellt das neue Stiftungsrecht vor: eckig, kantig, akrobatisch. Anlässlich der von der DFG angekündigten Änderung des Begutachtungsverfahrens von Forschungsanträgen erklärt Christian Jostmann, wie Forschung bewertet wird. Wolfgang Schreiber nimmt Abschied von Claudio Abbado als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker. Thomas Thieringer berichtet über die Unruhen bei der Royal Shakespeare Company, die Direktor Adrian Noble jetzt von Bord gehen lassen. Kathrin Spohr begutachtet ein neues Wohnmodell der Wiener Architekturgruppe "AllesWirdGut", in dem riesige Hamsterräder unsere Behausungen darstellen. im Gespräch plaudert James Ivory über seinen Film "The Golden Bowl", und Jens Bisky annonciert ein Richtfest am Pariser Platz: die Berliner Akademie der Künste feiert.

Besprochen werden Dieter Dorns Inszenierung der Straußschen "Pancomedia" am Münchner Residenztheater, Einar Schleefs "Nietzsche-Trilogie" an der Berliner Volksbühne, ein Konzert mit dem Tokyo String Quartet im Münchner Herkulessaal, Buket Alakus Spielfilmdebüt und Mutter-Hommage "Anam" sowie Lektüre: Eine Biografie über den Filmarchitekten Ken Adam, Anthony Trollopes Roman "Septimus Harding" in einer Neuübersetzung und ein Essayband zur Hirnforschung (auch in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).