07.06.2002. Von Walser zur Antisemitismusdebatte: In der NZZ fordert Robert Schindels eine Diskussion über Tabus. In der SZ macht Jürgen Habermas den Anfang und erklärt: Was sich als Tabuverletzung ausgibt, ist Regression. In der FR stellt Micha Brumlik fest: Judenhass ist wieder zum anerkannten Bestandteil der politischen Kultur geworden. Die FAZ berichtet, wie der Nahost-Konflikt Amerika hysterisiert.
SZ, 07.06.2002
"Eine semantische Anmerkung - Für Marcel
Reich-Ranicki, aus gegebenen Anlässen", nennt
Jürgen Habermas etwas umständlich seine schon erwartete
Wortmeldung zum aktuellen Großeinsatz der Feuilletons. Die im Mittelpunkt der Diskussion stehende "Verletzung einer Wertorientierung", die in unserer politischen Kultur verankert sei, "
Tabuverletzung" zu nennen, erklärt Habermas, sei eine
Irreführung. "In der Bundesrepublik hat es eines zähen politischen Kampfes bedurft, um nach Jahrzehnten der Rückschläge, ja erst im Zuge eines Generationenwechsels, eine Liberalisierung der veröffentlichten Meinung, schließlich auch der Mentalität breiterer Bevölkerungsschichten zu erreichen. Die heute verbreitete
Verurteilung des Antisemitismus ist deshalb kein Ausdruck einer blinden, affektstabilisierten Abwehrhaltung, sondern das Ergebnis von
kollektiven Lernprozessen ...Wer die Errungenschaft eines solchen Zuwachses an liberaler Gesinnung zur Folge eines Tabus erklärt, das es abzuschütteln gilt, will
Regression unter dem Deckmantel einer augenzwinkernd in Anspruch genommenen Emanzipation."
Gleichfalls zum Thema
erklärt Andreas Zielke MRR zum
doppelten Opfer (durch Walser
und durch Schirrmacher, der ihn "einem
Spießrutenlauf der üblen Mutmaßungen" ausgesetzt habe) und kritisiert, dass er "mit dem (
in seiner "Solo"-Sendung gemachten) Versuch, die Artikel der
SZ-Redakteure durch seinen Verdacht aus der Reihe der seriösen Reaktionen zu exkommunizieren, selbst
nicht ernst zu nehmen ist". Sämtliche Beiträge sprächen mit Sorgfalt für sich und "die Sache", und die ihnen von Reich-Ranicki bescheinigte Intelligenz bewahre sie vor der Unterwerfung unter eine
Ranküne.
In einem anderen
Beitrag verrät der in den Staaten lehrende Germanist
Gregor Hens, wie das "Walser-Gerücht" bei seinen Studenten ankommt. Ihr Vorschlag: "Vielleicht sollte man den
Walser und diesen Kritiker, dessen Namen sie sich nicht merken können, mal in einen
Big-Brother-Container stecken. Ein, zwei Wochen lang. Sehen, was dabei rauskommt." Gute Quoten, bestimmt. In einer kurzen
Meldung wird übrigens darauf hingewiesen, dass Walser vom 10. bis 15. Juni im
Deutschlandradio Berlin
Auszüge aus seinem Roman "Tod eines Kritikers"
lesen wird. Die Sendung beginnt täglich um 10.40 Uhr.
Ferner sammelt man fleißig
Gegenbeispiele zu
Reich-Ranickis Behauptung, die
SZ stehe mit ihrem Eintreten für Walser alleine da (siehe auch
hier). In einem
Interview erklärt der
Spieltheoretiker Walter Trockel, dass
Fußball viel komplizierter sei als Schach (klar, es spielen ja 20 Spieler mehr mit). Christiane Schlötzer
bedauert die Schließung des erfolgreichen
türkischen Musiklabels Kalan, und Matthias Kross
hörte Vorträge über die "Werkstätten des Möglichen 1930-1936" am Berliner
Max-Planck-Institut.
Besprochen wird heute jede Menge: Luc Bondys
Inszenierung von
Schnitzlers "Anatol"-Zyklus bei den Wiener Festwochen, La Fura dels Baus'
Hardcore-Stück "XXX" nach Marquis de Sade am
Schauspiel Frankfurt, Michael Gutmanns
Kinofilm "Herz im Kopf", die
Schau "
Hexenwahn" im Berliner Deutschen Historischen Museum, eine
Retrospektive der Photojournalistin
Margaret Bourke-White im C/O Berlin-Forum, die moderne
"Tristan"-Variante des Schweizers Frank Martin in der
Zeitgenössischen Oper Berlin, eine
Ausstellung zur Geschichte der
"Tableaux Vivants" in der
Kunsthalle Wien sowie
Lektüre: Ludger Lütkehaus' biografischer
Essay über den Nietzsche-Freund
Paul Ree, Thomas Langs
Debüt-Erzählung
"Than" und - sehr interessant - eine amerikanische
Einführung in den
Kulturbegriff (auch in unserer
Bücherschau um 14 Uhr).
FR, 07.06.2002
In der
FR untersucht der Erziehungswissenschaftler
Micha Brumlik den
Antisemitismus als Phänomen und
erklärt mit Blick auf Walser und Möllemann: "Antisemitismus, der als vulgäres Ressentiment, irrwitzige Ideologie oder als mörderische Praxis auftreten kann, reicht von dem Unwillen,
Juden in den Golfclub aufzunehmen über Theorien jüdischer Allmacht bis hin zu verletzenden Taten ... Was Walser seit Jahren vorbereitet und mit der Beharrlichkeit des erfahrenen Autors Schritt um Schritt, Erzählung um Erzählung, Rede um Rede vorbereitet hat, setzt Jürgen Möllemann, dessen
arabisch imprägnierte Judenfeindschaft eine beachtliche biographische Kontinuität aufweist, im Bereich der Politik um. Mit
Scham und Bitterkeit ist zu registrieren: Judenhass ist wieder zum anerkannten Bestandteil der politischen Kultur geworden."
Dass das auch für
Frankreich gilt, macht Roman Luckscheiter deutlich, wenn er in französischen Tageszeitungen blättert
und schreibt: "Vertreter der jüdischen Gemeinden leiden zunehmend unter diffamierenden Äußerungen, auch seitens der
pieds noirs, der
Algerienfranzosen, die im Süden Frankreichs mit für ein gutes Abschneiden der Rechtsextremen gesorgt haben. Jüdisches Leben öffentlich zu führen wird immer schwieriger. Rabbiner raten, nicht mehr
mit Kippa auf die Straße zu gehen, und nicht wenige Juden überlegen, ihren Namen zu französisieren."
In einem anderen Beitrag
freut sich Stefan Keim über den Mülheimer Dramatikerpreis für
Elfriede Jelineks "Macht nichts". "Times mager"
verrät, wer am besten weiß,
was ein Antisemit ist. Christian Schlüter
zeigt uns den
Infocontainer des Berliner Denkmals für die ermordeten Juden Europas von innen, und in einem zweiten Artikel
resümiert er eine vom Potsdamer Einstein Forum veranstaltete Diskussion mit
Richard Sennett über die
Perspektiven der Soziologie.
Besprechungen gibt es zum
Album "Storytelling" der schottischen Popisten
Belle & Sebastian, zu Arthur Schnitzlers
"Anatol" in Luc Bondys Wiener
Inszenierung, zum
Theater-Debüt ("Zeugenstand") des Filmregisseurs
Andreas Dresen in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin, Berlioz'
"Damnation de Faust" an der
Leipziger Oper und
"XXX" nach
Marquis de Sade vom Theater-Kollektiv La Fura dels Baus in Frankfurt.
NZZ, 07.06.2002
Und noch einmal
Walser. In einem
Interview mit Paul Jandl erklärt der Wiener jüdische Schriftsteller
Robert Schindel (der auch bei Suhrkamp
veröffentlicht), er könne in Martin Walsers Roman
keinen eindeutigen Antisemitismus entdecken, "erstaunlich sind allerdings die
Verschiebungen, die bei Walser dazu führen, dass er mit gewissen Bildern operiert." Man müsse jetzt "aus diesem schlechten Buch das Beste machen. Und was wir jetzt haben, ist eben eine
Diskussion über Tabus."
Joachim Güntner war beim
Internationalen Forum zur Bioethik in Berlin und ist
überrascht von so viel
Eintracht. Doch hinter universalistischen Begriffen wie Menschenwürde wittert er
kulturelle Differenzen - " allerdings weniger in den Ansichten der Wissenschaftler als in ihren Berichten von der
heimischen Realität, von medizinischer Praxis, Recht und Religion."
Weiter Artikel: rbl.
skizziert Gründung und Aufgaben der
Unseld-Stiftung, die nach Unselds Tod die Kontinuität im Suhrkamp Verlag sicherstellen soll. Besprochen werden
Luc Bondys Version von Schnitzlers "Anatol" in Wien,
Jürgen Roses Inszenierung von Janaceks "Schlauem Füchslein" am Münchner Nationalthater und
Francis Fukuyamas Buch "Das Ende des Menschen" (siehe auch unsere
Bücherschau heute ab 14 Uhr).
TAZ, 07.06.2002
Ist die Institution
Kunsthalle ein
Auslaufmodell? fragt Ira Mazzoni in einem
Beitrag, in dem sie insbesondre das krisengeschüttelte Münchner
Haus der Kunst unter die Lupe nimmt. "Inzwischen sind sich die meisten Museen und Sammler der Transportrisiken bewusst und wägen sorgfältig ab, ob es sich wissenschaftlich oder auch pekuniär lohnt, die Schätze für ein bestimmtes Projekt auf Reisen zu schicken", schreibt sie. Weil
erstklassige Leihgaben so für die selbst bilderlosen Kunsthallen fast unerreichbar geworden sind und inzwischen sogar Computermessen in den geweihten Räumen stattfinden, damit die Kasse stimmt, wagt Mazzoni eine
düstere Prognose: Vielleicht gibt es in München ja bald ein
Haus ohne Kunst.
Sonst eher
Kultursparflamme in der
taz. Besprechungen gibt's, zu
Andreas Dresens Theaterregie-Debüt "
Zeugenstand - Stadtguerilla-Monologe" am
Deutschen Theater in Berlin, zum neuen
Album "Raw Digits" des
Elektronik-Duos Super_Collider, und Daniel Bax
verreißt Neues von den
Böhsen Onkelz ("Dopamin") und
Joachim Witt ("Eisenherz").
Zu guter Letzt
TOM.
FAZ, 07.06.2002
Heinrich Wefing
berichtet mit deutlichem Unbehagen, wie der
Nahost-Konflikt Amerika "hysterisiert": "Durch viele Kommentare zieht sich ein
Alarmismus, ein Wille zur rhetorischen Eskalation. Mitunter blitzt gar etwas geradezu fahrlässig Kopfloses auf, das verstört - und das auf eine tiefe Verstörung hindeutet ... Unlängst warnte der angesehene Kolumnist
Ron Rosenbaum vor einem 'Zweiten Holocaust'. Dies sei, schrieb er im April im
New York Observer, ein Begriff, über den nachzudenken sei. Und 'eine Möglichkeit, die wir erwägen müssen'." Wefing zitiert
Leon Wieseltier, der in seinem "bemerkenswerten"
Essay "Hitler is dead" im
New Republic vor Untergangsphantasien und Panik warnte: Weder in Israel und erst recht nicht in den Vereinigten Staaten stehe ein zweiter Holocaust bevor. 'Wir sind die
glücklichsten Juden, die je gelebt haben', schrieb Wieseltier.
Gerhard Stadelmaier
schwärmt von
Schnitzlers "Anatol" in der Inszenierung von Luc Bondy im Wiener Akademietheater: "Wo Schnitzler eine opalschimmernde,
schwül-schummrige rot-grüne Beleuchtung anknipst, schaltet Bondy das helle Licht ein. Und gewinnt dem süß-matten, sich von Liebeseinakt zu Liebeseinakt elegant voranplaudernden Stück eine witzige,
intelligente Wucht. Von heute, nicht von 1893."
Weitere Artikel: Jordan Mejias
stellt die
Edison Schools in den USA vor. Die
marktwirtschaftlich geführten Schulen waren 1992 mit dem Versprechen gegründet worden, bessere Erziehungsergebnisse zu liefern als das öffentliche Schulsystem. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass sie nicht nur
keine Profite machen, sondern die Schüler bei Prüfungen auch
schlechter abschneiden als die Schüler öffentlicher Schulen. Andreas Rosenthaler
berichtet über eine Veranstaltung, auf der
Abdallah Frangi, Palästinas Botschafter in Deutschland über "
PR für Palästina in Deutschland" sprach. Michael Siebler
meldet die Entdeckung des
frühesten Zeus-Tempels in Olympia. Und auf der letzten Seite schreibt Jürgen Kestings anlässlich eines Themenabends auf Arte über
Primadonnen.
Besprochen werden ein
Konzert von
Roger Waters,
Michael Gutmanns Film "
Herz im Kopf", die Göttinger
Händelfestspiele (mehr
hier), das
Theaterstück "XXX" von
"La Fura dels Baus" in Frankfurt, die
Ausstellung "Samizdat" im
tschechischen Nationalmuseum von Prag und eine
Ausstellung mit Malerei der
italienischen Moderne im
Schlossmuseum Weimar.
Auf der Schallplatten- und Phono-Seite werden unter anderem
CDs der spanischen Sängerin
Rosa, des Rapstars
Eminem und Schumann-Aufnahmen von
Maurizio Pollini vorgestellt.