Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.06.2002. Die SZ beklagt eine "Kultur der Brutalität" in der deutschen Publizistik, die bis zu Luther zurückreicht. Sowohl SZ als auch FAZ gehen auf eine österreichische Klein-Walser-Affäre ein, deren Kontrahenten Karl-Markus Gauß und Luc Bondy heißen. Die taz fragt: Wie gehen Kaurismäki und Nokia zusammen? Für die FR ist der Weltmarkt eine Kampfzone. Die NZZ beschreibt, wie im Namen der Political Correctness jetzt sogar die Klassiker zensiert werden.

SZ, 12.06.2002

Gustav Seibt verteidigt den von ihm aufgedeckten Anspielungshintergrund des Namens von Walsers Kritikerfigur Ehrl-König gegen die Aneignung durch Debattenbeiträger wie zum Beispiel Katharina Hacker (siehe ihren offenen Brief im Perlentaucher). Darauf, Erlkönig als antisemitische Phantasie "bis hin zum Ritualmord" zu lesen, meint Seibt, müsse man erstmal kommen. "War etwa schon Goethe antisemitisch?" Und überhaupt, wenn "die zarten Seelen, die in den letzten Tagen über Walsers derben, bösen, verletzenden und menschlich angreifbaren Roman erschraken, in die Klassikerausgaben blicken würden", sie müssten von einer Nervenkrise in die nächste stürzen, erklärt Seibt und präsentiert auch gleich die Wurzeln der "einzigartigen ehrabschneiderischen und existenziellen Härte der deutschen kritischen Tradition": "Mit Luthers Reformation begann die deutschsprachige Publizistik. Da es um letzte Dinge ging, um Seelenheil, Sünde, Wahrheit, und dabei immer auch um die bürgerliche Existenz - denn Falschgläubige wurden grausam verfolgt -, entwickelte sich von Anfang an eine Kultur der Brutalität, die mit höchster haarspalterischer Subtilität konfliktlos zusammenlebte." Ein säkularisierter, wenngleich "überaus bäurischer" Nachklang davon sei der jüngste Streit.

Helmut Schödel meldet das Ende eines Antisemitismusstreits in Österreich zwischen Karl-Markus Gauß und Luc Bondy. Nachdem Bondy im Fernsehen - bei der Entgegennahme des Nestroy-Preises - erklärt hatte, er mache sich nichts aus Preisen, hatte Gauß den Theaterregisseur der Eitelkeit beschuldigt und wenig charmant seinen "veritablen Kropf der Selbstzufriedenheit" beschrieben. Bondy war verletzt, beschuldigte Gauß, auf das "rhetorische Arsenal des Antisemitismus" zurückgegriffen zu haben und warf bei einer Lesung ein Buch nach ihm. Gauß wies den Vorwurf zurück, und heute erklärt Bondy im Standard, gut, Gauß ist kein Antisemit. "Causa finita", hofft Schödel. 

In einem SZ-Gespräch gibt Robert Altman einen heißen Tipp, wie man mit seinem Whodunit "Gosford Park", richtig glücklich wird und wie weniger: "Ich mache meine Filme nicht so wie im Fernsehen, wo man nicht hingucken muss. Man hat sein Bier vor sich, geht mal raus, kommt zurück. Hat er sie schon abgemurkst? Man kriegt alles dreimal erzählt. Ich sage in meinen Filmen: Passt auf, oder ihr verpasst alles. Sonst geht lieber, weil es euch nicht gefallen wird."

Weitere Artikel: Holger Liebs erklärt uns die neue Weltkarte der documenta: "Die schäbigen, ausgebeuteten, übersehenen Peripherien des Erdballs treten in den Mittelpunkt künstlerischen Interesses", schreibt er. Joachim Hentschel ist hin und weg von Sarah Connor in concert, und Wolfgang Jean Stock gratuliert dem Architekten Günter Behnisch zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Robert Altmans neuer Film "Gosford Park", die Aufführung von Marina Carrs "Portia Coughlan" und von Barrie Koskys und Susanna Goldbergs "Dafke!!" bei den Wiener Festwochen, Zubin Mehtas "Gerontius"-Dirigat im Münchner Nationaltheater, ein Buch über die "Religion in der Geschichte der Menschheit", die Erinnerungen des letzten der ganz großen Maler: Balthus, sowie Thommie Bayers Roman "Das Aquarium" als Hörbuch (auch in unserer Bücherschau um 14 Uhr). Und jede Menge Musik ist drin: Arien von Ben Heppner, Klaviereinspielungen von Alexei Lubimov und Helmut Lachenmanns einzige Oper "Das Mädchen mit den Schwefelhölzern" - alles auf Silberlingen.

TAZ, 12.06.2002

Finnland: Bei der Pisa-Studie und beim Wirtschaftswachstum ganz vorn, Nokia ist Handy-Marktführer, und bis hin zum Präsidentenamt besetzen Frauen Schlüsselpositionen. Elina Kritzokat ist Halbfinnin und hegt einen fürchterlichen Verdacht: Sind die Kaurismäki-Klischees, die Schweiger-, Säufer- und Selbstmörderattitüden der Finnen in Wahrheit nur die raffinierten Masken eines durch und durch ehrgeizigen, disziplinierten Volks? In der Stadtbibliothek von Kemi am Polarkreis findet sie die Lösung: "Im Lesesaal liegen vierzig Tageszeitungen! Außerdem sind 400 Zeitschriften abonniert, z. B. Saippua-ooppera (eine Gazette für Soap-Fans) oder Meidän mökki (Unser Sommerhaus). Klar, dass Oluen ystävä (Der Bierfreund) nicht fehlt. Die Bibliothek hat bis 20 Uhr geöffnet, ein Kaffeestand bietet Hefezopf und Getränke an, sogar die Toiletten duften süß." Es ist der Hefezopf, wetten?

Besprochen wird eine Schau mit Fotos von Andreas Herzau über den Zeichenwandel in der Jugendkultur, zu sehen im Museum für Arbeit in Hamburg. Und Tobias Hülswitt führt ein in die seltsame Welt des interkulturellen Trainings am Stuttgarter Institut für Auslandsbeziehungen, wo man lernen kann, wie man in China Frösche kocht: Ganz langsam erhitzen! Der Frosch bleibt hocken, bis er hinüber ist.

Schließlich TOM.

FR, 12.06.2002

Einen Auszug aus Horst Kurnitzkys Studie "Die unzivilisierte Zivilisation", die dieser Tage im Campus Verlag erscheint, gibt man uns zu lesen. Darin beschreibt der Autor den radikal liberalisierten Weltmarkt als Kampfzone, "in der die ökonomische Konkurrenz mit allen Mitteln fortgesetzt wird". Dies, so Kurnitzky, schließe die sogenannten nationalen Befreiungskriege und religiös motivierten Anschläge mit ein. Denn: "Hinter dem scheinbar religiösen Konflikt islamischer Fundamentalisten mit der westlichen Welt stehen vor allem auch wirtschaftliche Interessen ... Die religiös-autoritäre Bindung fundamentalistischer Gotteskrieger macht sie, ebenso wie die willfährigen Anhänger christlicher Sekten, zu billigen Werkzeugen, die in wirtschaftlichen und politischen Machtkämpfen eingesetzt werden können. Ihre bedingungslose psychische Abhängigkeit ist duldsamer und dauerhafter, als es die Abhängigkeit von Sklaven je war." Dem Wertkonservativismus ist Kurnitzky übrigens gleichfalls abhold, steht er doch "der Bildung befriedigender Sozialverhältnisse immer im Weg, wenn er nicht schon latente Gewalt repräsentiert".

Ferner berichtet Helmut Höge vom Schicksal der deutschen "Russlandfahrer", die während der Zwischenkriegszeit in der Sowjetunion arbeiteten. Eva Bucher führt ein in eine frisch gelüftete Schweizer Tanzszene. Rolf C. Hemke hingegen stellt uns die kanadische Theaterszene vor, die nicht nur beim Festival "Carrefour International" in Quebec glänzt. Stefan Tolksdorf freut sich über die Lichtbilder in der neu eröffneten Fondation Herzog in Basel, Jochen Stöckmann schreibt zum 80. Geburtstag des Architekten Günter Behnisch, und "Times mager" beschäftigt der Fußball in Afrika.

Besprechungen widmen sich Tocotronics neuem Meisterwerk ("Tocotronic"), Abdel Kechiches Film "Voltaire ist schuld" und Werner Schroeters Inszenierung der "Göttlichen Flamme" in Oberhausen.

NZZ, 12.06.2002

Andrea Köhler berichtet aus New York, dass den dortigen High School Studenten im Namen der political correctness bei Prüfungen nur "bereinigte" literarischen Textauszüge vorgelegt wurden: "So wurde in einer Textpassage von Singer aus den 'jüdischen Frauen' einfach die 'Frauen', der Satz 'sogar die polnischen Schulen waren geschlossen' heißt nun 'sogar die Schulen waren geschlossen', weil man die Spezifizierung verfänglich fand. Aus einem Tschechow-Text verschwand eine ganze Erzählsequenz, weil dort eine Dame der höheren Gesellschaft auf ihrer Suche nach einer Brosche beim Hauspersonal Leibesvisitationen vornimmt."

Weitere Artikel: Marc Zitzmann porträtiert den neuen französischen Erziehungsminister Luc Ferry. Roman Hollenstein stellt in einem längeren Artikel das "wohl begabteste Team der mittleren (Architekten-)Generation in Deutschland" vor: Sauerbruch & Hutton. Im "Kleinen Glossar des Verschwindens" widmet sich Andreas Nentwich den Fräuleins. Kurz vorgestellt wird das Programm des Steirischen Herbstes. Und annonciert wird eine Penthesilea-Inszenierung von Peter Stein im Amphitheater von Epidauros.

Besprochen werden ein "Eugen Onegin" in Genf, eine Serie mit 60 Doppel-CDs der "Großen Dirigenten des 20. Jahrhunderts", ein Konzert des Jerusalem-Quartetts in Zürich, eine CD von Frescobaldi und Cage und Bücher, darunter David Clay Larges Berlin-Biografie und der Roman "Nachtschmetterlinge" von Mohsin Hamid (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 12.06.2002

Die indische Autorin Urvashi Butalia (mehr hier und hier) schickt einen verzweifelten Text über den indisch-pakistanischen Konflikt, den sie auf die Traumata der Teilung der beiden Länder im Jahr 1947 zurückführt: "Auch Kaschmir ist eine Wunde dieser Teilung. Indien nennt Kaschmir einen integralen Teil seines Territoriums, Pakistan beansprucht Kaschmir, weil dort eine muslimische Mehrzahl wohnt. Das kaschmirische Volk wiederum verlangt das Recht, über seine Zugehörigkeit selbst zu entscheiden. Es ist tragisch, dass die weitverbreitete Autonomiebewegung im Laufe der Jahre von Militanten und Berufssoldaten an sich gerissen worden ist und die beiden Regierungen ihren Konflikt auf dem Boden Kaschmirs austragen. Die Bevölkerung wird zwischen diesen beiden Mühlsteinen zerrieben. Ein normales Leben ist in Kaschmir nicht mehr möglich; Argwohn und Verdacht herrschen überall."

Auch Österreich hat jetzt eine Klein-Walser-Affäre, meldet Eva Menasse. Kontrahenten sind der Publizist Karl-Markus Gauß, der in seinem Buch "Mit mir ohne mich", seine Antipathie für Luc Bondy bekannte: ein "veritabler Kropf der Selbstzufriedenheit" sitze ihm zwischen Schultern und Haupt. Bondy warf Gauß ihm im Interview mit dem Profil darauf hin den Gebrauch antisemitischer Rhetorik vor, woraufhin Gauß im Interview mit dem Standard eine Klage androhte. Menasse kommentiert: "Die Frage ist nicht, ob 'Kropf' zum Fundus des Antisemitismus gehört, die Frage ist, warum Gauß, wenn er bei Bondy Eitelkeit konstatiert (was beim chronisch eitlen Gauß übrigens geradezu lachhaft ist), das auf ausgerechnet diese Weise tun muss. Genauso ist es mit Walser und dem 'Scheißschaum', der seiner Figur Ehrl-König angeblich aus dem Mund quillt."

Weiteres: Der kosovarische Autor Beqe Cufaj schickt drei Jahre nach dem Kosovo-Krieg eine recht optimistische Bestandsaufnahme aus dem ehemaligen Kriegsgebiet. Für die Medienseite hat sich Jürg Altwegg die französische Blamage bei der Fußball-WM im Sender TF 1 angesehen - und sie ist auch eine Blamage für diesen Sender. Kommentiert wird auch die ZDF-Kommentierung des deutschen Siegs am gestrigen WM-Tag. Karol Sauerland informiert uns, dass es in Polen nach wie vor kein Gesetz für die Restitution von Eigentum gibt, das nach dem Krieg verstaatlicht wurde - betroffen sind vor allem ausgewanderte polnische Juden. Wolfgang Pehnt gratuliert dem Architekten Günter Behnisch (mehr hier) zum Achtzigsten. Auf der Stilseite fragt Dietmar Dath, was ein schönes Computerprogramm ist. Auf der letzten Seite nimmt Gerhard Rohde Abschied von Lorin Maazel, der jetzt als Chef des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks.

Besprechungen gelten Elton Johns Tournee-Auftakt in Frankfurt, einer Dramatisierung von Ray Bradburys "Fahrenheit 451" beim Festival "Theaterformen", Robert Altmans neuem Film "Gosford Park", Bruce Naumans jüngster Installation im Dia Center of the Arts, einer Ausstellung über über 750 Jahre preußische Literatur in Brandenburg, Juri Grigorowitschs Ballett "Legende der Lieber" am Bolschoi-Theater und der Ausstellung "Big Sur" mit junger spanischer Kunst in Berlin.