Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.06.2002. Die FR beschimpft die deutsche Literaturkritik: Sie sei "eloquent, aber nicht interessiert", besonders nicht an Lyrik. Die FAZ verweigert einen neunzigminütigen Orgasmus. Die SZ interviewt den Kunsthistoriker und Stadtschloss-Feind Tilman Buddensieg, der unser Zeitalter "mutloser Nachempfindungen" beklagt. Die NZZ schreibt Schreibmaschine. Die taz jubelt.

FR, 29.06.2002

Dem Literaturbetrieb bleibt nichts erspart dieser Tage. Hauke Hückstadt haut entschlossen drauf, und fern jeder Parodie diesmal. Die deutsche Literaturkritik schläft, meint er. "Sie ist tendenziell nicht wirklich aufmerksam. Sie ist nicht vielseitig. Sie ist eloquent, aber nicht interessiert. Sie grast Saison für Saison auf den verlagsseitig überdüngten Almwiesen der Novitäten, den schweren Kopf in ständiger Neigung, schmatzend und schwatzhaft über jedes nur halbwegs satte Grünpflänzchen. Sie ist nicht neugierig, und ihre Quellen haben ihr immer dann etwas voraus, wenn sie ab und an überraschen oder etwas wagen." Wie in der "enorm starken Lyrik" zum Beispiel, für die Hückstadt eine Menge übrig hat, die seiner Ansicht nach aber niemand beachtet: "In den Feuilletonredaktionen wird in Sachen Lyrik getan, was man für die Pflicht hält. Mehr Engagement ist nur zu erwarten, wenn etwas 'sexy' zu sein verspricht. Nur kleben geriatrisch liebevoll sabbernde Kritiker dabei dann gerne zu nah an ihrer Vorstellung von Sexyness." Wer damit jetzt wieder gemeint ist?

Weitere Artikel: Heribert Kuhn entdeckt uns ein Schultrauma als das dichterische Movens Hermann Hesses, Hubertus Adam besucht die Schweizer Landesausstellung "Expo.02" und stellt fest, dass hier mit der nationalen Repräsentation gebrochen wird. In seiner 40-Leben-Kolumne begegnet Navid Kermani dem Tod bei der Getränkeausgabe. Nikolaus Müller-Schöll berichtet von einer dreiwöchigen "Heiner Müller Factory" im Kulturzentrum "Les Subsistances" in Lyon. Brigitte Kronauer gratuliert dem Schriftsteller Ror Wolf zum siebzigsten Geburtstag. Daland Segler schreibt zum Tod des "Who"-Bassisten John Entwistle. Nach mehr als zwei Jahren Zeitdiagnose schließt Michael Rutschky sein "Eckfenster" mit einigen Gedanken zur Zeitungskolumne, und Jean-Philippe Toussaint, gleichfalls eine Kolumne beschließend, blickt zurück auf das Halbfinale in Kobe, wo ihn das Gefühl beschlich, "eine zeitlose brasilianische Mannschaft vor Augen zu haben, in der Jaïrzinho und Roberto Carlos, Tostao und Ronaldhino zusammenkommen, unter dem emblematischen und schützenden Schatten von Edson Arantes Do Nascimento, genannt Pele".

Buchbesprechungen widmen sich dem 137 angesagte Künstler vorstellenden Band "Art Now", einem Buch über die Publizistin und Frauenrechtlerin Bertha Pappenheim und Jonathan Franzens Familienroman "Die Korrekturen" (auch in unserer Bücherschau Sonntag um 11).

Das Magazin bringt eine Kurzgeschichte über das Wohnzimmer-Trauma Endspiel von Frank Goosen sowie ein Interview mit Doris Schröder-Köpf, die erklärt, was so schön ist am Kanzlergattinsein: "dass man in dieser Funktion einfachen Zugang hat zu den Spendengeldern ... Und die andere Seite ist, dass ich viele interessante Leute kennen lerne. Da, wo sich früher die Tür für die Journalistin Köpf schloss, bleibt sie jetzt für die Gattin offen."

SZ, 29.06.2002

Im SZ-Gespräch revidiert der Berliner Kunsthistoriker Tilman Buddensieg die von ihm über Jahre vehement bekämpfte Idee einer Rekonstruktion des Berliner Stadtschlosses: "Ich resigniere, weil wir in einem Bauzeitalter mutloser Nachempfindungen, des Lückenschließens und der Kopie leben. Nun stimmt die Volksvertretung über dieses Thema ab, weil die Schlossfrage eine Angelegenheit der Republik ist. Ich nehme mit Erstaunen zur Kenntnis, dass diese Debatte um eines der großen Kunstwerke der deutschen Architekturgeschichte die Taxifahrer, die Volksvertreter, die Politiker bis zum Kanzler und die besten Kenner des Schlosses leidenschaftlich bewegt. Offenbar die Mehrheit der Deutschen ringt um eines der größten Kunstwerke ihrer Vergangenheit ... Man nimmt mit Rührung zur Kenntnis, dass über einen Gegenstand der bildenden Kunst und Architektur in diesem Ausmaß debattiert wird, und zwar in Zustimmung und Enthusiasmus."

Petra Steinberger schildert in einem Artikel, wie der amerikanische Sensationsjournalist und Rufmörder David Brock, der auch in der Lewinsky-Affäre seine Finger im Spiel hatte, in seinem Buch "Blinded By the Right. The Conscience of an Ex-Conservative" mit Amerikas Konservativen abrechnet - seinen Auftraggebern während einer Dekade, in der der investigative Journalismus zum Schmierenjournalismus verkam. Fragt sich, ob diese Bekehrung und gnadenlose Enthüllung nicht doch bloß eine weitere Lüge darstellt.

Weitere Artikel: Willi Winkler erinnert an die Macht des Kunden in Zeiten des Teuro. Ijoma Mangold schreibt zum 70. Geburtstag des Schriftstellers Ror Wolf. Wir lesen einen Nachruf auf den "The Who"-Bassisten John Entwistle und ein Dossier zum 20. Münchner Filmfest mit einer Einleitung und einigen Gucktipps von Fritz Göttler sowie mit einem Gespräch, in dem Filmemacher Eckhart Schmidt erklärt, wo das Problem des deutschen Films liegt: "Hier sagt man: Ich will eine Geschichte erzählen. Eine Geschichte erzählen, ja guten Morgen. Jeder Film soll eine neue Erfahrung sein. Man ist in Deutschland froh, wenn man eine Geschichte erzählt ... In Amerika ist dagegen immer Geld involviert und eine Philosophie. Man dringt mehr in die Tiefe." Ist doch ein Witz!

Besprochen werden eine nachgestellte Bundestagsdebatte mit dem Titel "Deutschland 2" der Theatergruppe Rimini Protokoll bei Theater der Welt in Bonn, die Uraufführung von Hans-Jürgen von Boses "K. Projekt 12/14" bei den Münchner Opernfestspielen, Oasis' neues Album "Heathen Chemistry", Jonathan Glazers Thriller "Sexy Beast" mit Ben Kingsley, ein kulturwissenschaftlicher Sammelband zur spannenden Frage "Warum Fußball?", eine Poetik des Gedichts von Brigitte Oleschinski sowie eine Geschichte Spaniens von der Reconquista bis heute (siehe auch unsre Bücherschau Sonntag um 11).

In der SZ am Wochenende porträtiert Rebecca Casati Amerikas Schocker-Rapper Eminem, Georg Klein liefert eine Kurzgeschichte über den unheimlichen Bauch-Mann, und Wolf Lepenies findet Rache und Vergeltung im Literaturbetrieb so neu auch wieder nicht - der große Kritiker Sainte-Beuve, schreibt er, duellierte sich 1830 sogar mit einem Zeitungsmann im Regen - nicht ohne zugleich danach zu trachten, dem Krieg und der Rache abzuschwören und als "großer Gerichtsherr der französischen Literatur" aufzutreten. "Die Literatur ist für Sainte-Beuve eine Sphäre des Unrechts und der Rache... Als Gerichtsherr vertritt der Kritiker die Nachwelt zu Lebzeiten und seine Urteile sind eine Vorwegnahme des Jüngsten Gerichts, bei dem einst auch unter den literarischen Werken die Böcke von den Schafen geschieden werden."

TAZ, 29.06.2002

Aus gegebenem Anlass entwickelt Detlef Kuhlbrodt eine kleine Phänomenologie des Jubelns. Jubeln mit den Außenseitern? Klasse, meint Kuhlbrodt, "wenn sie in der Minderheit sind, weil ihr Jubel - anders als der aggressiv dominante der Mehrheit - eher um Sympathie wirbt". Auch die Türken, schreibt er, "schienen hinter ihrem hupenden Lärm um gutes Benehmen und Aussehen bemüht", und findet "dass der weiblich geprägte Jubel, der Korea ins Halbfinale gebracht und den Ulli Stielicke als 'gekünstelt' denunziert hatte, doch superangenehm ist". Supersuperangenehm sogar, verglichen mit dem "Sieg, Sieg, Sieg Deutschland"-Gebrüll der eher sparsam frisierten Klientel.

Weitere Artikel: Auf der documenta staunt Tilman Baumgärtel über die singapurische Künstlergruppe tsunamii.net, die Datenwege zu Fuß abschreitet, Wolfgang Zwack schwärmt von Daniela Mercury, der weißen Prinzipalin des brasilianischen Samba-Reggae, Annett Busch bespricht Jacques Rivettes neuen Kinofilm "Va Savoir", und Katrin Bettina Müller die Oper "Alzheimer 2000. Toter Trakt" von Andreas Ammer und FM Einheit in der Oper Bonn.

In den Tagesthemen schreibt Kay Sokolowsky einen (sehr nach 50er Jahre Avantgarde schmeckenden) Text zum 70. des Schriftstellers Ror Wolf und endet: "Mir fiele noch vieles, sehr sehr vieles ein, um diesen Mann, diesen Künstler, um diesen Fall und den Skandal seiner Anonymität zu beschreiben. Ich unterlasse es. Ich halte mich zurück. Darum, zum Schluss, in Kürze: Ein Genie wird heute 70 Jahre alt. Ein Dichter, wie es ihn nur alle Halbjahrhunderte gibt. Er ist ein Schöpfer allererster Sorte. Hier schweige ich. Es fehlen mir die Worte." Uff.

Schließlich TOM.

NZZ, 29.06.2002

Im "Kleinen Glossar des Verschwindens" erinnert sich Martin Meyer an die Schreibmaschine: "Schreibmaschinen waren immer schweres Gerät. Vergleichbar der Artillerie, im Büro - damals auch gern noch Bureau geschrieben - zumeist an festem Ort, zu Hause bei Bedarf in Stellung gebracht, Unterlage: dicker Filz."

Weiteres: Roman Bucheli schreibt zur Emeritierung des Zürcher Germanisten Peter von Matt. Andrea Köhler stellt das neue Provisorium des Moma in Queens vor. Alois Feusi würdigt den verstorbenen Who-Bassisten John Entwistle. Paul Jandl meldet, dass in Wien ein Shoah-Zentrum geplant sei. Besprochen wird Hans-Jürgen Boses "K.Projekt 12/14" in München.

In Literatur und Kunst erinnert Bernhard Stettler an den Zugerbund vor 650 Jahren: " Das Bündnis von Zug mit Zürich, Luzern, Uri, Schwyz und Unterwalden im Jahr 1352, dessen 650-Jahr-Gedächtnis am 27. Juni 2002 begangen wird, war eine situationsbezogene Reaktion auf dramatische Zeitumstände. Schicksalhafte Entscheide hat man in den Ereignissen um 1350 erst hundert Jahre später entdeckt. Der Zugerbund gibt Anlass, die Frühzeit der Eidgenossenschaft neu zu überdenken." Auch sonst spielt die Schweiz eine Hauptrolle in der Samstagsbeilage der NZZ, die trotz Zeitungskrise ungefährdet scheint. Thomas Maissen feiert den Abschluss der Edition von Aegidius Tschudis "Chronicon Helveticum". Besprochen wird auch ein Band mit Aufsätzen zu Tschudi in seiner Zeit, in dem man erfährt, dass Tschudis Bearbeitung der Tell-Geschichte "die wirkungsmächtigste, aber nicht die erste" war.

Ferner bespricht Caroline Kesser eine neue, bisher nur auf englisch erschienene Biografie über den britischen Spion Anthony Blunt (hier ein ausführlicher Auszug aus dem Buch). Ekkehard Mai liest ebenfalls nur auf englisch vorliegende kunsthistorische Essays von Peter Paret. Hanno Helbling legt einen langen Essay über den Rhythmus und die Schwierigkeit des Endens in Kunstwerken vor. Kai-Uwe Scholz bespricht eine Studie über die Kunst im Hamburg der Nazizeit. Und Jan Nicolaisen feiert die " bestechend schöne" Ausstellung über den Landschaftmaler Johann A. Thiele in Dresden.

FAZ, 29.06.2002

Erregte Feuilleton-Debatte. Diesmal über Fußball. Dirk Schümer mag die "deutschen Drücker und Grätscher" nicht: "Man kann es den Minimalisten nicht zum ästhetischen Vorwurf machen, dass sie... tun, was sie nun eben mal können. Dass solcherart Durchwuselei der Mediokren aber allemal reicht, gehört - bei aller Überkapitalisierung, Korruption und Vetternwirtschaft - zum Schlimmsten, was sich gegen das Faszinosum des internationalen Fußballs sagen lässt. Darf das Spiel, von dem Milliarden Menschen das Aufblitzen von erfundener Grazie erhoffen, nicht schön sein?" Aber andererseits: "Bestünde der Fußball aus einer Abfolge von Geistesblitzen und Jahrhundertschüssen, er wäre ebenso wenig bei voller Gesundheit zu ertragen wie ein neunzigminütiger Orgasmus." Jürg Altwegg stellt fest: "Noch nie haben sich so viele Spieler bekreuzigt wie jetzt bei der Weltmeisterschaft auf heidnischem Boden." Und Mark Siemons sieht in der WM die wahre Documenta: "Die Wirklichkeit ist, daß sich bei dieser WM die Peripherie des Weltfußballs zum erstenmal auf breiter Front gegen die Zentren erhoben hat."

Diese Zeitung nimmt außerdem Abschied von ihren Berliner Seiten, die wegen mangelnden Publikumsinteresses eingestellt werden. Der Chef der Seiten, Florian Illies, bedauert die "wirtschaftlichen Zwänge". Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit schickt ein Abschiedswort: "eine Wundertüte: durcheinander, bunt, manchmal sehr abseitig." Durs Grünbein wird vor allem die "Berliner Chronik" vermissen, die diese Seiten täglich zierte: "Überrascht stellt man fest, dass bei der Zusammenstellung des Materials eher eine Gruppe von Spaßvögeln am Werk war als ein Kollegium pedantischer Redakteure." Ferner werden Abschiedsbriefe von Harald Schmidt und Christoph Stölzl vorgelegt.

Weiteres: Dieter Bartetzko meditiert über den heutigen "Tag der Architektur". Edo Reents schreibt zum Tod des "Who"-Bassisten John Entwistle. Dietmar Polaczek schreibt über den Rücktritt Silvio Berlusconis - als Präsident von AC Mailand. Andreas Platthaus gratuliert dem Zeichner Paul Flora zum Achtzigsten. Ingeborg Harms liest deutsche Zeitschriften. Wolfgang Schneider gratuliert dem Autor Ror Wolf zum Siebzigsten. Lorenz Jäger schreibt zum Tod des Psychoanalytikers Alfred Lorenzer. Auf der Medienseite schreibt Andreas Rossmann einen Nachruf auf die Honnefer Volkszeitung, die heute zum letzten Mal erscheint.

Besprochen werden Hans-Jürgen von Boses "K-Projekt 12/14" bei den Münchner Opernfestspielen, der Film "Rufmord", argentinische Stücke beim "Theater der Welt"-Festival in Köln und einige Bücher, darunter Jonathan Franzens Roman "Korrekturen" (mehr hier) und Bodo Kirchhoffs Kolportage "Schundroman" (mehr hier) (siehe dazu auch unsere Bücherschau morgen ab 11 Uhr.)

In den Ruinen von Bilder und Zeiten (um deren Ableben seinerzeit keinerlei Sentimentalitäten getrieben wurden) erzählt (???), wie Frankreich im Algerienkrieg die Harkis, also die Algerier, die auf seiner Seite kämpften, schmählich verriet. Und Hartmut von Hentig gratuliert seinem Lehrer Carl Friedrich von Weizsäcker (mehr hier) zum Neunzigsten.

In der Frankfurter Anthologie stellt (???) ein Gedicht von Hölderlin vor - "An die Hoffnung":

"O Hoffnung! holde! gütiggeschäftige!"

Beuge dein Haupt über die arg gebeutelte deutsche Journalistenschaft!