Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.07.2002. Die FAZ berichtet von düsterer Stimmung bei den Literaturverlagen. In der SZ nimmt Georg Klein Walsers Tod eines Kritikers zum Anlass für eine Philippika gegen den Literaturbetrieb. Die taz beklagt ein Interview, das Joachim Kaiser der rechtsnationalen Jungen Freiheit gegeben hat.

FAZ, 05.07.2002

Der eigentliche Aufmacher des Tages wäre natürlich der Beschluss des Bundestags, eine Stadtschloss-Attrappe in Berlin-Mitte zu bauen - aber die Meldung kam für die FAZ zu spät. Hier der kurze Bericht bei Spiegel Online.

Mit Ausnahme von "Tod eines Kritikers" läuft gar nichts. Jochen Hieber hat sich bei den Verlagen umgehört und konstatiert: "War das Jahr 2001 für alle schlecht, so ist dieses Frühjahr nachgerade fatal. Aufs neue sind die Umsätze gesunken, teilweise bis zu zehn, bisweilen gar bis zu zwanzig Prozent. Ganze Verlagsprogramme sind deshalb ein- oder gar weggebrochen, die Situation wird, je nach Temperament, mal als 'düster' und mal als 'gruselig' beschrieben. Die Leute kaufen kaum noch Bücher. Wobei sich bei den Büchern nur bestätigt, was noch mehr für den übrigen Einzelhandel, vom Kleidergeschäft bis zum Blumenladen, gilt: Es läuft wenig, und die bisherigen Verluste sind anno 2002 auch dann nicht mehr aufzuholen, wenn der Aufschwung doch noch kommen sollte." Siehe zur Krise auch unsere Buchmacher.

Weiteres: Der Historiker Klaus Graf beklagt die Lage kirchlicher Bibliotheken, deren Bestände zum Teil bis ins Mittelalter zurückgehen, und die zuweilen, wie die Nordelbische Kirchenbibliothek in Hamburg ohne viel öffentliches Aufhebens Bestände an die Antiquariate verkaufen, um sich zu sanieren. "ack." meldet, dass die Stadt München überlegt, das Deutsche Theater abzustoßen, ein privates Haus, das 2,3 Millionen Euro Subventionen im Jahr erhält. Mark Siemons berichtet vom Fortgang der "Blutbank"-Aktion, in der Berliner Künstler Blut für die notleidende Berliner Bankgesellschaft spendete, die das Geld aber ablehnte - nun möchten die Berliner Künstler mit 2.380 Euro die bedürftige Berliner Wirtschaft sponsern.

Auf der letzten Seite feiert der Evolutionsbiologe Axel Meyer den fast hundertjährigen Ornithologen Ernst Mayr, der als einer der einflussreichsten Biologen des Jahrhunderts gilt und erklären half, wie neue Arten entstehen. Jordan Mejias schreibt ein kleines Porträt des amerikanischen Richters Alfred T. Goodwin, der mit einem Urteilsspruch gegen das patriotische Morgengebet in den Schulen Aufsehen erregte. Und Andreas Kilb stellt Julian Nida-Rümelins Vorschläge zur Filmförderung vor. Auf der Medienseite erzählt Heike Hupertz vom Publikumserfolg des Bildungssenders History Channel in den USA. Und wir erfahren, dass Marcel Reich-Ranicki einem Stimmenimitator aufsaß, der sich am Telefon als Gerhard Schröder ausgab - das Gespräch ist jetzt in Titanic abgedruckt.

Besprochen werden eine Ausstellung der Zeichnungen von Jean-Baptiste Greuze in der New Yorker Frick Collection, ein Ionescu- und Handke-Abend beim Berliner Ensemble, ein New Orleans-Jazzfestival in Ascona, Rachid Boucharebs Film "Little Senegal" (mehr hier), eine Ausstellung des Frühwerks von Donald Judd in der Bielefelder Kunsthalle. Die Schallplatten-und-Phono-Seite, die sonst freitags erschien, wurde jetzt in die Samstagsausgabe verlegt, entnehmen wir einem kleinen Hinweis.

NZZ, 05.07.2002

Die sich langsam verändernde Seelenlage von Ossis und Wessis schildert Sieglinde Geisel: " Die Zugehörigkeiten sind versteckter, das Selbstverständnis der ehemaligen DDR-Bürger wird widersprüchlicher, je weiter die DDR in die Vergangenheit rückt. Den Westlern ist ihre West- Identität so selbstverständlich, dass sie gar nichts von ihr merken - obwohl erst die Ostdeutschen die ehemaligen Bundesbürger zu Westdeutschen gemacht haben."

Weiteres: Felix Philipp Ingold erinnert in einem längeren Artikel an die dadaistische Bewegung in Georgien, die sich durchaus mit der in Paris, Zürich und Berlin messen konnte, bis Georgien von den Kommunisten an die Sowjetunion angeschlossen wurde. Andrea Köhler kommt auf jenes kalifornische Urteil zurück, das das patriotische Treuegelöbnis an den amerikanischen Schulen wegen der Berufung auf Gott in Frage stellte.

Besprochen werden eine Ausstellung des Fauvisten Albert Marquet in Bordeaux, eine Kara Walker-Ausstellung in Hannover und das ArchiLab-Festival in Orleans, das sich den Avantgarden in der Architektur widmet.


Auf der Filmseite bespricht Marc Zitzmann drei französische Bücher über Jacques Tati, die zu seinem zwanzigsten Todestag erschienen sind. Rolf Niederer schreibt einen Nachruf auf den Dokumentarfilmer Hans Stürm. Besprochen werden der Film " Life as a House" von Irwin Winkler und Claire Denis' Sexdrama "Trouble Every Day" (mehr hier).

Auf der Medien- und Informatik-Seite berichtet man unter anderem über den Berliner Zeitungsmarkt, der von den Verlegern der Hauptstadt falsch eingeschätzt worden sei. Es geht um um die Werbekrise im Schweizer Zeitungsmarkt, um Neuigkeiten bei der Internetbehörde Icann, um neue Mittel gegen Raubkopien bei der Musikindustrie und um den Trend zu kostenpflichtigen Internetangeboten.

TAZ, 05.07.2002

Da gibt der renommierte Literaturkritiker Joachim Kaiser der rechtsnationalen Wochenzeitung "Junge Freiheit" ein Interview und nur Dirk Knipphals schaut hin. Besonders peinlich findet Knipphals diesen "Ausrutscher", weil Kaiser sich nicht nur an dem Versuch dieser Zeitung beteiligt, "sich mit Hilfe von Gesprächen mit reputierlichen Intellektuellen aus der Ecke des Rechtspopulismus herauszumanövrieren (in die sie allerdings weiterhin hineingehört)", sondern weil er überdies zur weiteren Entsachlichung der Walser-Debatte beiträgt. "Nicht nur legt er nahe, dass Jan Philipp Reemtsma, der den Antisemitismusvorwurf gegen Walsers neuen Roman kürzlich in der FAZ mit beträchtlichem Aufwand zu untermauern suchte, selbst über antisemitische Muster verfügt (eine Taktik, die Walser selbst schon gegen FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher anwandte). Schwerer wiegt noch, dass Kaiser gar nicht zu bemerken scheint, wie sehr er sich zum Kronzeugen dieser Zeitung macht, das Nachdenken über Antisemitismus und Political Correctness insgesamt zu demontieren." (Übrigens: Auch Eckhard Henscheid hat kürzlich am selben Ort ein ebenso bedenkliches Interview gegeben.)

Andere Artikel: Kirsten Küppers schickt Urlaubsimpressionen aus Thailand, das ganz woanders anders liegen muss, Henning Bleyl stellt uns das Neue Museum Weserburg (Website hier) in Bremen vor, das mit privaten Dauerleihgaben zu einem der größten Häuser für Zeitgenössische Kunst in Deutschland avancieren konnte, Gerrit Bartels rühmt Oasis'  (offizielle Website der Band) neues Album "Heathen Chemistry", und Frieder Reininghaus resümiert die Intendanz Udo Zimmermanns an der Deutschen Oper Berlin: "Gut gemeint, aber reif für Oberammergau."

Schließlich TOM.

FR, 05.07.2002

In Frankreich feiert der Leninismus Urständ! Na ja, beinahe. Rudolf Walther erklärt uns die Funktionsweise des "französischen Spätleninismus", bei dem Chiracs Präsidialpartei UMP die Rolle der Lenin-Fraktion übernimmt: "Proklamiert wurde die Partei von einem guten Dutzend gaullistischer Barone in einer Nacht- und Nebelaktion, ohne Parteitag und ohne Mitgliederbefragung, mit dem einzigen programmatischen Ziel, Chirac nach dem seltsamen Sieg in der Präsidentschaftswahl - in der man für ihn stimmen musste, um Le Pen zu verhindern - auch eine Mehrheit in der Nationalversammlung zu verschaffen." Die Art, wie Chirac die Partei gründete, meint Walther, "gleicht aufs Haar und bis in die sprachlichen Muster der Methode und Doktrin, mit denen Lenin seine Partei neuen Typs schuf und beherrschte."

Nach längerer Pause schickt Marcia Pally wieder einen ihrer "Flatiron Letters" aus den USA. Diesmal wundert sie sich, dass Familien in ihrem Land jetzt "im Widerspruch zu unserer Verfassung die Erziehung ihrer Kinder auf religiösen Schulen mit Gutscheinen des Bundes bezahlen dürfen", während ein Bundesgericht andererseits verfügt, "das Wort Gott müsse aus unserem Treueschwur auf die Nation und ihre Fahne entfernt werden", weil es die Trennung von Kirche und Staat stört. Ein klares Unentschieden, meint Pally: religiose Ausbildung ja; Gott nein.

Außerdem informiert Gemma Pörzgen darüber, wie das Belgrader Museum für zeitgenössische Kunst die Post-Milosevic-Ära einläutet, Peter W. Jansen besucht die 4. Internationale Filmmusik-Biennale (Website) in Bonn, Reinhart Wustlich erkundet Londons neues, von Norman Foster entworfenes Stadtparlament, "Times mager" stellt die Sternzeichen Wäschetrockner und Kobra vor, Bernd Blaschke war auf einer Tagung des Berliner Zentrums für Literaturforschung zum Thema "Generation", und aus Kopenhagen berichtet Hannes Gamillscheg vom Boykott der Bachmannschen Hamlet-Inszenierung, in der eine Frau mit Downsyndrom die Ophelia spielen sollte.

Besprechungen widmen sich Randall Wallace' Kriegsfilm "Wir waren Helden" mit Mel Gibson, Peter Turrinis Oper "Der Riese vom Steinfeld" an der Wiener Staatsoper, Philip Tiedemanns schnarchöde Inszenierungen von Ionescos "Kahler Sängerin" und Handkes "Quodlibet" am Berliner Ensemble sowie Bellinis "Norma" in Trier und in Stuttgart.

SZ, 05.07.2002

In der SZ liefert der Schriftsteller Georg Klein ("Barbar Rosa", offizielle Website) einen Lektürebericht zum neuen Walser nebst einigen Nachbemerkungen zur Debatte. Was Walser in seinem Roman karikiert, versichert Klein, gibt es, noch schäbiger und banaler, in Wirklichkeit: "Wer sein Brot im Feuilleton oder in einem Verlag verdient, ist gezwungen, die Eitelkeiten und das Intrigantentum solcher Scharlatane fast täglich ernstzunehmen. Die jüngeren Schriftstellerinnen und Schriftsteller können aus dem Rummel um Walsers neuen Roman durchaus lernen, wie leicht man auf den einschlägigen Bühnen vom Liebkind zum Hampel- und Watschenmann eines Ehrl-Königs wird. Die Lesenden aber, die Verachteten dieses ganzen Theaters, sie sind nun doch gerettet: Sie brauchen nur das Buch in die Hand zu nehmen und werden - so sie bei Kräften sind! - alle Sätze, auf die es ankommt, unbeschädigt in ihren Zusammenhängen finden. Aus der Sphäre des Lesens, und nur aus ihr, wird sich jetzt die Weite wie die Begrenztheit der literarischen Erfahrungen, die dieser Roman ermöglicht, ermessen lassen."

Warum George W. Bush bei der Verfolgung der Bilanzierungsskandale befangen ist, erläutert der amerikanische Volkswirtschaftler Paul Krugman (Website) in einem Beitrag. Demnach war Bush 1989 in eine fingierte Transaktion, einen Scheinverkauf, beim Energiekonzern Harken verwickelt, in dessen Vorstand er damals saß. Knapp 1 Mio. Dollar konnte Bush damals durch Aktienverkäufe zur rechten Zeit einstreichen. "Vor dem Hintergrund dieser Geschichte - und einer anderen, ähnlich interessanten Geschichte aus Dick Cheneys Amtszeit als Vorstand bei Halliburton - könnte man sagen, dass diese Regierung wie keine andere qualifiziert sei, unternehmerische Bösewichte zu jagen. Schließlich verfügen Mr. Bush und Mr. Cheney auf diesem Gebiet über Erfahrungen aus erster Hand."

Andrian Kreye kommentiert das Urteil des Supreme Court zu den Schulgutscheinen, anlässlich 40 Jahren algerische Unabhängigkeit erinnert Sonja Asal an den Algerienkrieg und seine in Frankreich fortdauernde Verdrängung, Jörg Häntzschel annonciert die Eröffnung von Daniel Libeskinds Imperial War Museum North (hier die Libeskind-Website und hier die des Museums) in Manchester, "kni" gibt Filmfest-Tipps von Clooney bis Bogdanovich, Matthias Drobinski weiß Neues vom abtrünnigen Zen-Pater Willigis Jäger, Theodor Ickler dokumentiert die immer noch steigerbare Verwirrung der deutschen Rechtschreibung anhand des neuen "Wahrig", und im Interview schildert das des Deutschen nicht mächtige amerikanische Dokumentarfilmduo D. A. Pennebaker und Chris Hegedus (Website) seine Erfahrungen beim Dreh von "Hier Strauß", einem Film über Franz Josef, der für seine Zuschauer wesentlich interessanter war, als für den Regisseur: "Am Ende habe ich mir den Film angesehen und gedacht: Kein schlechter Film, schade, dass ich keine Ahnung habe, worum es darin geht."

Besprochen werden die Ausstellung "!Avantgarden! 1910 bis 1930" im Münchner Haus der Kunst, der koreanische Kinoerfolg "Joint Security Area" von Chan-Wook Park, kunstgewerblichen Schrecken verbreitende Inszenierungen von Ionescos "Kahler Sängerin" und Handkes "Quodlibet" am BE, Aufführungen von Christoph Willibald Glucks "Iphigenie en Aulide" und Carl Maria von Webers "Euryanthe" beim Opernfestival von Glyndebourne, unter den Büchern eine Studie über Hofmannsthal - den Philologen, und Feridun Zaimoglu lauscht dem Koran als Hörbuch (siehe auch unsre Bücherschau um 14 Uhr).