Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.07.2002. Die SZ bewundert die Arbeitsintensität chinesischer Studenten. Die taz liebt Stettin. Die FR versteht Günther Anders nicht mehr. Die NZZ mag Marcel Reich-Ranickis neuen Antisemitismusvorwürfen gegen Martin Walser nicht folgen. Die FAZ fragt nach den Chancen des eBooks.

SZ, 13.07.2002

Vor chinesischen Studenten sollten sich selbst Pisa-Gewinnler in Acht nehmen. Denn in China schuften sich nicht nur immer mehr Arbeiter buchstäblich zu Tode, auch der akademische Nachwuchs schont sich nicht, wie Wolfgang Schieder schreibt: "In vier Jahren muss jeder Studierende sein Examen machen. Wer das nicht schafft, hat nur geringe Chancen, doch noch verspätet ans Ziel zu gelangen. Die Folge ist, dass die Studierenden eine Arbeitsintensität entwickeln, die durchaus der der armen Migranten entspricht. Die Vorlesungen beginnen oft schon um sieben Uhr morgens, sie enden in der Regel erst am Abend. Die Zeit zwischen den Lehrversammlungen verbringen die Studierenden in der Bibliothek oder im Labor. Noch um Mitternacht kann man sie, über ihre Bücher gebeugt in großen Arbeitsräumen sitzen sehen. Und das Wochenende gibt es nicht." Zwar fehle es den chinesischen Studenten noch an gewissen Fähigkeiten - etwa an Selbständigkeit oder der Fähigkeit zur Kritik, aber wenn diese Kulturrevolution Erfolg haben sollte, "wird das nicht ohne Auswirkungen auf Europa und Amerika bleiben"

In Österreich hat die FPÖ mal wieder für einen Skandal gesorgt. Ewald Stadler, der freiheitliche Volksanwalt, hat von der "angeblichen" Befreiung vom Faschismus 1945 gesprochen. Dabei haben revisionistische Geschichtsbilder in Österreich Konjunktur, wie Uwe Mattheiss schreibt: "43 Prozent der Österreicher geben in einer eilig geschalteten Umfrage an, das Dritte Reich hätte auch seine guten Seiten gehabt. Nur 33 Prozent der Österreicher orten als Jahr der Befreiung 1945, 58 Prozent dagegen das Ende der Besatzung 1955."

Weitere Artikel: Fritz Göttler goutiert das neue Product Placement im Kino. Stefan Koldehoff erzählt die wunderliche Geschichte des Rubens-Gemälde, das bei Sothebys zum Rekordpreis von umgerechnet 77,3 Millionen Euro verkauft wurde, während niemand den Rembrandt haben wollte. Gottfried Knapp bedauert zwar, dass der Architekturwettbewerb für die Sammlung Brandhorst nicht durch große Namen beflügelt wurde, meint aber, dass die Auslober sich mit dem Ergebnis sehen lassen können. Veronika Schöne berichtet von einer Hamburger Tagung über "Picasso und die Mythen". Und Christian Kortmann erkennt in der Coverversion ein ungeheures "Triumphpotential" der Popmusik.

Auf der Medien-Seite spekuliert Klaus Ott über die besondere Beziehung zwischen Telekom und Spiegel: Chefredakteur Stefan Aust hatte eine Spitzen-Meldung über den angeschlagenen Konzernchef Ron Sommer aus dem Blatt genommen.

Besprochen werden die französische Erstaufführung von Botho Strauß' "Pancomedia", eine "Amateur-Aufführung junger Schauspielschüler, die alle professionellen Theaterzauberer in Aix-en-Provence alt aussehen ließ", wie C. Bernd Sucher schreibt, Verdis Oper "Don Carlo" mit Zubin Mehta bei den Münchner Opernfestspielen, Tina Laniks Inszenierung von Fassbinders "Tropfen auf heiße Steine" im Münchner Haus der Kunst, eine Ausstellung mit den frühen Porträts von Oskar Kokoschka in der Hamburger Kunsthalle und die Neuauflage von Arno Schmidts historischem Roman aus dem Jahre 1954 nach Christi "Das steinerne Herz".

In der Wochenendbeilage können Sie "11.09.01", eine Kurzgeschichte von Max Goldt lesen: "'Als es passierte' - dieser elegante Schlager des Popduos Paula geht mir durch den Kopf. Ja, wo war ich, als es geschah, wo war ich, als ich's erfuhr? Als es passierte, schrieb ich eine E-Mail an Kurt Scheel, den Herausgeber der Kulturzeitschrift Merkur. Ich schrieb ihm, dass sein Auftrag, mich in seiner Zeitschrift 16000 bis 20000 Zeichen lang über Musik zu äußern, über den Sommer von mir vergessen worden und nun auch nicht mehr auf die Schnelle auszuführen sei, da morgen ein lang vereinbartes viertägiges Herumgondeln durchs Fränkische mit einem Freund aus Frankfurt und dessen Bekannten aus New York angetreten werden müsse."

Weiteres: Robin Detje gesteht, dass in Deutschland der latte macchiato allmählich bitter schmeckt. Das Geld ist weg, die Lage ist ernst. Johannes Willms weiß jetzt schon, dass sich auch nach den Wahlen am 22. September nichts ändern wird. Bryan Ferry plaudert im Interview über Hotels. Alexander Hosch erinnert an die Zukunft der Vergangenheit, Christiane Tamitz erklärt, dass zwar nicht alle scheiternden Schüler Amok laufen, aber nicht wenige kurz davor stehen. Und es gibt kleine Geschichten von Juan Moreno, Benjamin Henrichs, Rainer Stephan, Benjamin Schiffner und Jan Bielicki.

TAZ, 13.07.2002

Im taz.mag schickt Uwe Rada eine Liebeserklärung an Stettin, die Stadt zwischen Polen, Deutschland und Europa, in der Brüche und Widersprüche der wechselvollen Geschichte offen zutage liegen: "Längst sind die Deutschen in Stettin nicht mehr nur Heimattouristen, und längst sind die Stettiner in Deutschland nicht mehr nur Schwarzarbeiter. Trotz aller Schwierigkeiten findet sich Stettin plötzlich in einer neuen Geografie wieder. Es ist die Geografie eines neuen Europas ... Das Fragmentarische, das zeigt sich auch in der Stettiner Altstadt, diesem architektonischen Museum unvollendeter Visionen und gescheiterter Hoffnungen, wird man vielleicht schon bald nicht mehr als Makel, sondern als Symbol der Zukunft begreifen."

Des weiteren berichtet Heike Haarhoff aus Lille, worin Frankreichs Norden noch Spitze ist: in der hohen Zahl alkoholbedingter Todesfälle. Heide Platen rettet das Rhönschaf. Frank Schubert zeigt am Beispiel des Librettisten Siegfried Tisch, wie die Nazis die Werke jüdischer Künstler aus NS-Gesinnung trimmten.

Im Feuilleton porträtiert Cornelia Nicodemus den Anwalt afrikanischer Literatur und Malerei, Ulli Beier, den früheren Leiter des Iwalewa-Hauses, des Zentrums für zeitgenössische afrikanische Kunst der Universität Bayreuth. Besprochen werden Tina Laniks Inszenierung von Fassbinders "Tropfen auf heiße Steine" im Münchner Haus der Kunst und die neue Platte von Sonic Youth (homepage).

Schließlich noch Tom.

FR, 13.07.2002

Harry Nutt hat zu Günter Anders 100. Geburtstag noch einmal "Die "Antiquiertheit des Menschen" gelesen, und versteht nicht mehr, was ihm an diesem Buch, in dem Atombombe und Medien den Menschen an seiner Selbstbestimmung hindert, einst heilig war: "Man findet die Stellen nicht mehr, an denen man meinte, sich wieder und wieder festgelesen zu haben. Wo man den entgegen springenden Gedanken ausgemacht zu haben meinte, findet sich über weite Passagen uferloses Räsonieren. Das nicht unbeträchtliche Textvolumen des Andersschen Werkes weist erkennbare Formprobleme auf. Klare Argumente werden überwuchert von Ressentiments gegen die anderen, die Anders im beiläufigen Beobachten zum Gegenstand seiner Kampfthesen macht. Ist es so, dass gerade darin einmal das Faszinosum seiner Texte bestand?" Auch Canettis "Masse und Mensch" hat Nutts Relektüre übrigens nicht standgehalten, Horkheimer und Adornos "Dialektik der Aufklärung" dagegen sehr wohl.

Weitere Artikel: Christian Schlüter freut sich über die erklecklichen Summen, mit denen Bundes- und Landeskulturstiftungen Projekte in sämtlichen Sparten fördern wollen: "Keine Überfülle, aber Fülle ist es schon". Dass sich heute wieder Hunderttausende bei der Love Parade darüber freuen, dabei gewesen zu sein, mag Elke Buhr gar nicht glauben, auch nicht, dass es diese Veranstaltung überhaupt noch gibt. Ulf Jonak sieht die Architektur auf der Documenta zwischen Chaos und Utopie. Aus Salzburg berichtet Helmut Ploebst, dass Idealismus und Realismus einen Pas de deux versuchen: Die Künstlergruppe "Szene Salzburg" ruft die Republik "State of the Arts" aus. Dietmar Schings sinniert darüber, was Wilhelm Busch und Wilhelm Genazino gemeinsam haben, und Caroline Lüderssen stellt den italienischen Schriftsteller Pier Vittorio Tondelli vor.

Besprochen werden Wolf Gremms New Yorker Liebeskomödie "Nancy & Frank", die Uraufführung von Jens Roselts Komödie "Dreier" in Stuttgart und Bücher, darunter Bodo Kirchhoffs "Schundroman", zu dem Petra Kohse notiert, Kirchhoff solle sich doch bitte nicht so haben, er sei doch selber frivol, und Lucien Febvres Rabelais-Exegese "Das Problem des Unglaubens im 16. Jahrhundert".

Im Magazin versichert Kurt Masur (homepage) im Gespräch, nie ein Diktator gewesen zu sein, schon gar nicht in New York, im Gegenteil, wenn er als junger Dirigent den New Yorker Philharmoniker, diesen "Dirigentenkillern", begegnet wäre, hätten sie ihn zugrunde gerichtet, "weil ich scheu und sehr sensibel war".

NZZ, 13.07.2002

Joachim Güntner denkt über Marcel Reich-Ranickis neue Vorwürfe gegen Martin Walsers Roman "Tod eines Kritikers" nach (siehe unsere gestrige Presseschau). Die Gefühle des Kritikers müsse man respektieren, schreibt er. "Streiten aber darf man mit Marcel Reich-Ranicki, wo er von seiner Betroffenheit übergeht zu der Tatsachenbehauptung, es handle sich um einen Roman, 'der gegen die Juden hetzt' und 'hier und da dem Vorbild des 'Stürmers'' folge. Wäre dies wahr, müsste das Buch auf den Index. Da aber die für Zensur zuständige Bundesprüfstelle im Zustand der Untätigkeit verharrt, scheint die Behauptung nur in einer Hinsicht bemerkenswert: als neuerliche und bislang unerreichte Steigerung des Antisemitismusvorwurfs."

Andrea Köhler liefert ein Lesestück zu den New Yorker Badeparadiesen. Ursula Seibold stellt eine Internetadresse vor, in der die Tate Gallery den gesamten Nachlass William Turners - 300 Ölgemälde und 30 000 Werke auf Papier - präsentiert. Claudia Schwartz sammelt Reaktionen auf den Beschluss, das Berliner Stadtschloss wiederaufzubauen.

Besprochen wird eine Ausstellung der Fotografien William Christenberry in Köln.

In Literatur und Kunst geht es um Lyrik aus den USA und Osteuropa. Jürgen Brôcan und Lutz Walther stellen eine neue kritische Ausgabe des Lyrikers Robinson Jeffers vor, die in der Stanford University Press erschienen ist. Werner von Koppenfels erzählt die Editionsgeschichte der Werke von Emily Dickinson. Angela Schader bespricht amerikanische Lyrik in deutschen Übersetzungen vor. Uwe Stolzmann unternimmt einen Streifzug durch die Lyriklandschaft Ost- und Südosteuropas.

Außerdem legt Wolfgang Dömling einen Essay über Bohuslav Martins "Julietta", die "Oper des Surrealismus" vor, die bei den Bregenzer Festspielen wieder aufgeführt wird. Und Thomas Grob bespricht Olga Tokarczuks Roman "Taghaus. Nachthaus".

FAZ, 13.07.2002

Christoph Albrecht fragt nach "Chancen und Schrecken elektronischer Bücher". Beim eBook ist er skeptisch, beim Book on demand hoffnungsvoller: "Das Angebot passt sich der Nachfrage risikolos an, denn Lagerkosten fallen weg. Für die Artenvielfalt des Geistes, also für die interessanten Teile des Buchmarkts, die nicht von standardisierter Massenware a la Walser oder gar 'Harry Potter' beherrscht sind, ist dieses digitale Geschäftsmodell vielleicht eher wegweisend als das Festhalten an der Buchpreisbindung, die Kleinverlagen das Überleben sichern soll, während sie durch das Verramschen der Restauflagen systematisch unterlaufen wird."

Kerstin Holm berichtet über eine Klage der Putin-nahen Jugendorganisation "Zusammengehen" gegen den Autor Vladimir Sorokin (mehr hier) wegen angeblicher Pornographie. Gina Thomas berichtet über die Krise der English National Opera, die jetzt im Rücktritt des Generaldirektors Nicholas Payne kuliminierte. Christian Geyer schildert den Fall einer Mutter zweier Frühgeburten, die gegen die Ärzte klagte, weil sie sie nicht für überlebensfähig hielten, und fürchtet, dass der "apparative Aufwand der Intensivmedizin" nun auch am Beginn des Lebens zusehends in die Diskussion gerät. Christiane Rösinger beklagt die "Ballermannisierung" der heute wieder grassierenden Love Parade. Michael Gassmann gratuliert dem dänischen Komponisten Per Norgard zum Siebzigsten

Auf der Medienseite legt Heike Hupertz eine länger Geschichte über den Rolling Stone vor, der auf seinen bisherigen Chefredakteur und seine langen Geschichten verzichten wird, um drastisch gesunkene Kioskverkaufszahlen zu kompensieren. In den Ruinen von Bilder und Zeiten schreibt der Autor Ulrich Holbein (mehr hier) zum hundertsten Geburtstag des Philosophen Günther Anders. Nachgedruckt wird ein Vortrag des Kunsthistorikers Hans Belting über die Revolutionierung unseres Körperbilds durch die Manipulationsterchnik der digitalen Fotografie.

Besprochen werden eine Joan-Miro-Retrospektive in Düsseldorf, eine Ausstellung über Hermann Hesses "Glasperlentspiel" in Marbach, ein Marianne-Faithfull-Konzert in München und Wolf Gremms Film "Nancy und Frank".

Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht's um eine neue CD des Doves, um eine Neueinspielung von Hector Berlioz' "Trojanern", um eine CD von Cora Frost, um die Gruppe UB 40 und um neue Monteverdi-Aufnahmen.

In der Frankfurter Anthologie stellt (???) ein Gedicht von Uwe Kolbe vor - "Diese Frau":

"Diese Frau und die Reste von Häusern in Zeilen von Häusern, die stehengeblieben sind, und dieses Kind und kein Mann. Nachkrieg, ein Ende der Kleinfamilie, doch nicht der Beginn von etwas anderem..."