Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.07.2002. Die Zeit sorgt sich um den Zustand der Weltmusik. In der SZ fragt Michal B. Oren, ob die Palästinenser bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. In der NZZ begründet Hans-Jost Frey, warum dichterische Übersetzungen auch anders sein sollen als das Original. Die FR begrüßt (wie die FAZ) den Spruch des Bundeverfassungsgerichts zur Homoehe. Die taz ist enttäuschet von den Men in Black.

Zeit, 18.07.2002

Thomas Miessgang beklagt, wie die internationalen Plattenkonzerne mit Musikern aus Afrika oder Asien umgehen: Klänge und Rhythmen der sogenannte World Music werden dem westlichen Massengeschmack so angepasst, dass sie noch genügend Exotik enthielten, um das gelangweilte Publikum bei Laune zu halten, ihm aber bitte keine fremde Ästhetik aufzwingen. "Wer das Geld, die Studios, die Marketing- und Distributionsmittel besitzt, definiert auch die Ästhetik." Doch wenn dann eine vermeintliche Wunderwaffe nicht zünde, schreibt Miessgang "wird sie postwendend entsorgt." Wie zuletzt Youssou N?Dour (mehr hier und hier was zum hören), der es zwar immer noch schaffe, den halben Senegal in Ekstase zu versetzen, doch in der Kommerzliga einige Klassen absteigen musste.

Angeregt vom Streit um Walser hat Thomas Assheuer noch einmal Peter Handkes "Bildersturz" und Michel Houellebcqs "Plattform" gelesen und eine ganz und gar unheilige Allianz erkannt: Wie Walser machten auch Houellebecq und Handke die monotheistischen Religionen für die moderne Sinnkrise verantwortlich. Der Westen sei ihnen nicht ein System der Freiheit, sondern allein der kalten Ökonomie, nicht Kultur, sondern Gewalt des Geldes. Für Houellebecq führe der Fluchtweg aus der "traumlosen Moderne" sogar nur über die Trümmer der jüdisch-christlichen Tradition, meint Assheuer und fühlt sich fatal daran erinnert, dass dieser Fehlschluss schon in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts viele Intellektuelle zum Kampf gegen bürgerliche Moral und egalitäre Demkratie verleitet habe...

Weitere Artikel: Frederic Edelman, Architekturkritiker von Le Monde, wundert sich, dass die Berliner Ausstellung "Neue Deutsche Architektur" (mehr hier) sich um die Frage drückt, ob es eine Besonderheit deutscher Architektur gebe, und worin sie bestehen könnte. Dominik Graf, dessen Film "Der Felsen" in der nächsten Woche anläuft, erklärt im Gespräch mit Katja Nicodemus, warum er seinen Figuren so gern den Boden unter den Füßen wegzieht. Claus Spahn feiert den Amerikaner Kent Nagano vom Deutschen Symphonie-Orchester, DSO, als den "unaufdringlichen Star" unter den Berliner Dirigenten, als Interpreten von hoher Intellektualität und Apolegeten ebenmäßiger Schönheit mit einem Zug ins expressiv Ekstatische. Petra Kipphoff erzählt die "höchst ungewöhnliche" Geschichte des Rubens-Bildes "Bethlehemitischer Kindermord", das zum Rekordpreis von 77 Millionen Euro bei Sotheby's in London verkauft wurde. Der Literaturwissenschaftler Sebastian Kleinschmidt freut sich, dass selbst auf der Documenta nicht alle Künstler Konzeptualisten sind.

Besprochen werden die Düsseldorfer Ausstellung zu den Anfängen von Punk und New Wave in Deutschland "Zurück zum Beton", die zweite Episode der "Men in Black" und Kerstin Spechts Stück aus dem Souterrain der Gesellschaft "Das goldene Kind".

Im Aufmacher des Literaturteils bespricht Elsabeth von Thadden Barbara Hahns Buch "Die Jüdin Pallas Athene", in dem die Professorin für deutsche Literatur in Princeton (mehr hier) den Spuren deutscher Jüdinnen in der Moderne folgt. Und das Dossier führt den Leser nach Pyla, den einzigen Ort auf Zypern, in dem Griechen und Türken zusammenleben, die Zeitläufte erinnern daran, wie am 20. Juli 1932 die alten Eliten in Preußen wieder nach der Macht griffen und die Sozialdemokraten kampflos das Feld räumten.

SZ, 18.07.2002

Der konservative israelische Historiker Michael B. Oren sieht im Verhalten der Palästinenser ein wiederkehrendes Muster: Sie seien die Rekordhalter in der Ablehnung aller Angebote ihrer staatlichen Anerkennung und der Antwort durch Gewalt. Statt die Gründe ihres historischen Scheiterns einmal nüchtern zu überdenken, hätten es die Palästinenser vorgezogen, unablässig in Selbstmitleid zu schwelgen. "Das Problem ist nicht Arafat, sondern das palästinensische Volk. Ist es bereit, das Rampenlicht der Opferexistenz für die täglichen Plackereien des selbstständigen Regierens aufzugeben und Verantwortung für die eigene Wohlfahrt zu übernehmen? Kann es dem Terror abschwören und vereinbarte Verpflichtungen erfüllen?"

Holger Liebs lästert über die Münchner Kulturreferentin Lydia Hartl und ihre Vision von einer Neugeburt der Stadt als Zentrum der Medienkunst, während sich Christopher Schmidt um eine Typologie des Kulturreferenten bemüht: "Indem der Kulturreferent als ehrgeiziger Initiator auftritt, der den Mangel, den er verwaltet, dadurch wett macht, dass er gestaltet, hat der Typus des Kulturvermittlers eine historisch neue Qualität erreicht. Für dessen problematischen Züge hat der Philosoph Boris Groys den Begriff des Mediators geprägt: Der Mediator ist Konsument und Produzent zugleich und doch keines von beiden."

Helmut Schödel schreibt zum frühen Tod der großen Lore Brunner: "Lore Brunner war nicht einfach eine Repertoire-Schauspielerin. Wenn sie auftrat, pfiff der Wind durchs Haus. Auch hatte man nie den Eindruck, Dramaturgen hätten ihr anhand von unterstrichenen Stellen in Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt erklären müssen, was draußen los ist. Sie brachte ihre Figuren von dort mit."

Weitere Artikel: Von Arndt Wesemann erfahren wir, dass der 1955 geborene russische Choreograf Jewgeni Panfilow gestorben ist, und zwar an sechs Messerstichen von Einbrechern, die in sein Haus eindrangen. Christian Jostmann weiß von Eintrübungen des positiven Bildes des Begründers der Zeitgeschichte in Deutschland, Hans Rothfels, seit man begonnen hat, sich mit Rothfels' Arbeit als Professor in Königsberg zu Beginn der dreißiger Jahre auseinander zu setzen. Jens Bisky schreibt, dass für Julian Nida-Rümelin das Scheitern einer Fusion der Kulturstiftungen von Bund und Ländern keine Tragödie wäre und Bernd Graff muss ein Plakat verkraften, auf dem angekündigt wird, dass am 22. Juli Fraktionsvorsitzender Friedrich Merz Zeit für Taten um 20 Uhr im Hofbräukeller fordert. Thomas Thieringer gratuliert Georg Kreisler, dem Poeten des Makabren zum 80. Geburtstag.

Außerdem hat sich Rüdiger Sturm mit Wolfgang Petersen über seinen neuen Film "Batman vs. Superman" unterhalten: "Superman und Batman sind keine realitätsfernen Figuren, sie verkörpern die einander entgegengesetzten Seiten des Lebens." Anke Sterneborg hat "MIB"-Regisseur Barry Sonnenfeld interviewt. Tobias Kniebe berichtet, dass Harrison Ford, Steven Spielberg und George Lucas an Indiana Jones IV basteln: "Wir werden mit der Altersfrage besonderen Spaß haben", verspricht Spielberg. Sie wissen, was auf dem Spiel steht - sie müssen es wissen. Harrison Ford ist gerade sechzig geworden".

Besprochen werden: Leon Ichasos filmisches Porträt des New Yorker Poeten "Pinero" als junger Junkie (ein Portät von Hauptdarsteller Benjamin Bratt finden Sie hier), die Ausstellung des englischen Porträtisten George Romney (1734-1802) in der National Portrait Gallery in London, der Drei-Diven Galaabend mit Elena Mosuc, Vesselina Kasarova und Edita Gruberova im Rahmen der Opernfestspiele in München und Bücher, darunter Mirko Bonnes Roman "Ein langsamer Sturz" und Volker Böhnigks Studie über die nationalsozialistischen Hintergründe Erich Rothackers (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 18.07.2002

Einen kleinen Grundsatztext "zur Beurteilung dichterischer Übersetzungen" legt der Komparatist Hans-Jost Frey (mehr hier) vor. Darin folgende Überlegung: "Die Übersetzung steht in Beziehung zu dem Text, dessen Wiedergabe sie ist: Sie entspricht ihm. Was aber Entsprechung hier heißt, steht keineswegs fest. Der unreflektierte Anspruch ist meistens die utopische Gleichheit von Original und Übersetzung, also eigentlich deren Aufhebung. Denn die Übersetzung als solche ist dem Original nicht gleich, sondern ähnlich, was bedeutet, dass es wesentlich zu ihr gehört, auch anders zu sein. Nur als andere kann sie entsprechen."

Weiteres: Olaf Karnik stellt das Avantgarde-Label Grob vor, das sich um Free Jazz und improvisierte Musik verdient macht. Markus Jakob besucht die große Antonio-Gaudi-Ausstellung in Barcelona.

Besprochen werden eine ganze Menge Bücher, darunter Bodo Krichhoffs Kolportage "Schundroman" (mehr hier), Moses Isegawa Roman "Die Schlangengrube", ein Lesebuch mit Lyrik und Prosa von Marie Luise Kaschnitz und ein Buch über die Mathematik im Nationalsozialismus (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 18.07.2002

Ina Hartwig begrüßt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtet zur sogenannten Homo-Ehe, bedauerlich findet sie nur, dass Homosexuelle keine Kinder adoptieren dürfen: "Was in Dänemark, Holland, den Vereinigten Staaten von Amerika, neuerdings sogar in Israel möglich ist - die rechtmäßige Adoption von Kindern durch Homosexuelle -, wird es in Deutschland weiterhin nicht geben. Schade. Es hätte diesem Land, in dem einmal Tausende Homosexuelle in Konzentrationslager gesteckt wurden und wo Hunderte von eugenischen Experimenten und Zwangssterilisationen durchgeführt worden sind, gut angestanden, sich dem demokratischen Standard dieser Länder anzugleichen. 

Nun hat sich auch FR-Theaterkritiker Michalzik der hübschen Thomas-Bernhard-Tradition angeschlossen und ein Dramolett verfasst, in dem Schröder, Stoiber, Frau Reiche und die Demoskopie auftreten. Was die Demoskopie zu sagen hat? Zum Beispiel das: "Lass dich bloß nicht beirren, Edmund. Die Leute wollen dich. Die Leute wollen kein Fernsehbild. Das Volk ist klüger als das Fernsehen, Schröder, auch als Du." So was aber auch.

Weitere Artikel: Peter Michalzik schreibt den Nachruf auf die Schauspielerin Lore Brunner. Werner Jung gratuliert Ludwig Harig zum 75. Geburtstag. Michael Tetzlaff wiederum gratuliert dem "Gonzo-Journalisten und Kultautor" Hunter S. Thompson zum vielleicht 65 Geburtstag. Die Kolumne Times Mager sinniert, ob der im Feuilleton gegen den durchgefallenen Walser-Roman "Tod eines Kritikers" evozierte Antisemitismusvorwurf "im Kontext eines Vatermords n-ter Potenz zu betrachten" ist.

Besprochen werden: eine Pariser Ausstellung, die an den Kinomagier Georges Melies erinnert, die Ausstellung "Museotopia" im Karl-Ernst-Osthaus-Museum in Hagen und Bücher, darunter Andre Kubiczeks Debütroman "Junge Talente", die Memoiren Anatoli Rybakows und Claude Simons früher Roman "Wind" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 18.07.2002

Wenig subtil findet Harald Fricke die Vehemenz, mit der in Barry Sonnefelds Film "Men in Black II" Aliens ins All geschossen werden. Außerdem können die Schauspieler nicht mit den Special Effects konkurrieren: "Was ihnen bleibt, ist ein bisschen Romantik und etwas Liebelei, die in gemischten Konstellationen - ob mit zweiköpfigen Nerds oder coolen Wurmtypen - bestimmt noch viele interessante Varianten hervorgebracht hätte. Aber leider gilt auch hier: Aliens küsst man nicht."

Weitere Artikel: Brigitte Werneburg spekuliert, ob Berlin die umstrittene Flick-Sammlung nimmt. Besprochen werden Leon Ichasos Film über den New Yorker Poeten "Pinero" und Tina Engels Inszenierung von Roland Schimmelpfennigs " Fisch um Fisch" am Theater Rampe.

Schließlich Tom.

FAZ, 18.07.2002

Jordan Mejias ist entsetzt: Was die New Yorker Stadtplaner "gestern enthüllten, um Ground Zero mit einem funktionierenden Stadtviertel zu ersetzen, ist so herzzerreißend schlecht, dass eigentlich jeder befolgte Rat nur eine Verbesserung zur Folge haben kann." Gleich sechs Masterpläne wurden vorgestellt, die Hochhäuser, einen Gedenkpark, einen Verkehrsknotenpunkt, wenige Wohnhäuser und 120 Millionen Dollar Rendite im Jahr verbinden sollen. Aber "was von einer den Grundstücksentwicklern hörigen Bürokratie vorgeschlagen wird, ist nichts weniger als die Bankrotterklärung der Phantasie. Business as usual. Geld gegen Kunst. Architektur im alten New Yorker Dilemma. Mehr noch: New York will bauen, als sei nichts passiert." Auch die New York Times ist übrigens nicht begeistert. Material zu den Masterplänen gibt's hier.

Die FAZ eröffnet eine neue Serie. Schriftsteller, darunter J.M. Coetzee und Wolfgang Hilbig (aber höchstwahrscheinlich nicht Martin Walser) antworten auf den "Chandos-Brief", den Hugo von Hofmannsthal vor hundert Jahren veröffentlichte. "Im Verlust jeglicher Gewissheit, im Zweifel an der Beschaffenheit von Ich und Welt, in der wachsenden Skepsis gegenüber den Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache manifestieren sich die Grundgefühle der Moderne", schreibt Hubert Spiegel zu Hofmannsthal berühmten Text, der auf der letzten Seite des Feuilletons noch einmal nachgedruckt wird: "Die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze."

Gerhard Stadelmaier schreibt zum Tod der Schauspielerin Lore Brunner, die nur 51 Jahre alt geworden ist. Dirk Schümer beschließt zu unserem Bedauern seine Kolumne "Leben in Venedig" mit einer Folge über die "Serenissima und ihre maritime Tradition". Patrick Bahners begrüßt den Spruch des Bundesverfassungsgerichts zu den gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. Für die Serie "Im Milieu" beobachtet Andreas Platthaus den Wahlkampf, den die PDS-Politikerin Christine Ostrowski auf ihrer Internetseite betreibt. Andreas Kilb kritisiert die Entscheidung des Berliner Senats, keinen Autoverkehr mehr durch das restaurierte Brandenburger Tor fahren zu lassen. Und Dietmar Polaczek gratuliert dem Taubenvergifter Georg Kreisler zum Achtzigsten.

Auf der Medienseite wird die Meldung, dass die SZ ihre Berlinseite einstellt, bestätigt - am Sonnabend erscheint sie zum letzten Mal. Zhou Derong schickt einen eindringlichen Bericht über die Pressefreiheit in Hongkong, die sich (auch laut der Homepage freeway) unter chinesischer Herrsschaft nicht zu ihrem Vorteil entwickelte. Alxander Bartl verfolgt den "Fall Mehmet" in den Medien. Und Heike Hupertz bringt einen Bericht über das Wall Street Journal, das seine Krise mit der neuen Herausgeberin Karen Elliott House bewältigen will.

Besprechungen gelten dem Musikfestival von Colmar, das den vor zwei Jahren gestorbenen Flötisten Jean-Pierre Rampal ehrte und dem Bollywood-Meisterwerk "Lagaan" (mehr hier) von Ashutosh Gowariker.