20.07.2002. In der FAZ erklärt der irische Autor John Banville, was es mit der Entschuldigung der IRA auf sich hat: Der Krieg ist vorbei. Die NZZ fragt, ob es ein Salzburger Kulturleben außerhalb der Festspiele gibt (irgendwie schon). In der taz entwickelt Daniel Cohn-Bendit eine Horrorvision: Was wäre, wenn die Grünen so viele Wähler hätte wie die taz Leser? Die FR schimpft über rückwärtsgewandte Architektur. Die SZ fragt, warum die Deutschen nur misslingende Volksaufstände mögen.
FAZ, 20.07.2002
Die
IRA hat sich jüngst für die von ihre begangenen Gewalttaten entschuldigt. Der irische Autor
John Banville (mehr
hier)
kommentiert: "Diese Entschuldigung bedeutet in Wirklichkeit, dass '
der Krieg vorbei ist', auch wenn die IRA sich beharrlich geweigert hat, diese Worte auszusprechen, und sie wohl auch niemals aussprechen wird. Wenn sie es täte, klänge es wie eine
Kapitulation, und das könnten die 'Soldaten' der IRA unmöglich akzeptieren - ob Waffenstillstand oder nicht."
Jörg Magenau erklärt die Insolvenz des
Berliner Buchhändlers Kiepert, des größten der Stadt, mit den spezifischen Bedingungen in der Stadt: "Nirgendwo sind die Veränderungen, die der Branche zu schaffen machen, deutlicher sichtbar als hier. Das
verkiezte Berlin, bis 1989 ein friedlicher Ort der gemilderten Konkurrenz, hatte eine Entwicklung nachzuholen, die in anderen Großstädten schon früher einsetzte. Mit dem Einzug der Buchhandelsketten
Hugendubel und
Thalia 1997, mit der Eröffnung des Kulturkaufhauses
Dussmann und der Expansion der allgegenwärtigen Wohlthat-Verkaufsstellen vergrößerte sich die Buchverkaufsfläche in der Stadt schlagartig von 50 000 auf
80 000 Quadratmeter. Mehr Bücher wurden deshalb aber nicht verkauft. Die Krise, die zuletzt auch Hugendubel zur Kurzarbeit zwang, war absehbar. Bereits 2001 schlossen in Berlin
29 kleinere Buchhandlungen."
Hannes Hintermeier
meint, dass die
Frankfurter Buchmesse mit der Bestellung ihres neuen Chefs, des ehemaligen Bertelsmann-Managers
Volker Neumann, einen guten Griff getan hat. Edo Reents
denkt über die Lage der
öffentlichen Bibliotheken nach. Thomas Wagner
gratuliert dem Videokünstler
Nam June Paik (
Bilder) zum Siebzigsten. Verena Lueken
liest amerikanische Zeitschriften und geht unter anderem auf einen
Artikel im
New Yorker ein, der die Leistungen der Unternehmensberatung
McKinsey äußerst kritisch unter die Lupe nimmt. Renate Schostak schreibt zum Tod des Schriftstellers und Kritikers
Werner Ross.
In einer
Chronologie der Skandale weist die
Medienseite nach, dass die Frist zwischen
Enthüllung und
Rücktritt der Politiker immer kürzer wird. Und Jordan Mejias
erzählt von einem von der CBS geplanten "biopicture" über
Adolf Hitler: "The
Fuhrer wird in der Miniserie nicht
über vierunddreißig und nicht
unter siebzehn sein. Für den angehenden Fernsehdiktator ein Idealalter, in dem sich zum
crime auch noch
sex gesellen kann und der schlecht konsumierbare Horror, der nachher nicht zu vermeiden wäre, gar nicht so richtig zur Sprache kommen muß. Die Kontroversen, die es vor Jahrzehnten um die Serie 'Holocaust' gab, sind also schon einmal ausgespart."
In den Ruinen von
Bilder und Zeiten erinnert
Joachim Perels an den Widerstand von
Friedrich Justus Perels, des Justitiars der Bekennenden Kirche. Und Eckart Conze erzählt, wie "der
20. Juli 1944 die Eingliederung des
Adels in die Bundesrepublik erleichterte".
In der
Frankfurter Anthologie stellt Joachim Sartorius ein Gedicht von
Marcel Beyer vor - "Nur zwei Koffer":
"Was dort im Koffer liegt, sagst du, ist allein mir bekannt: doch kein leichtes Rasierzeug, die Borsten gelockert von Hand..."
Besprochen werden die große
Surrealistenschau aus dem Centre Pompidou, die jetzt ins Düsseldorfer
"K20" gezogen ist, der bayerische
Überraschungserfolg "Die Scheinheiligen", eine Provinzposse des Filmhochschulabgängers
Thomas Kronthaler und die
russische Erstaufführung von
Alban Bergs "Lulu" bald siebzig Jahre nach seinem Tod im Moskauer Helikon-Oper.
Auf der
Schallplatten-und-Phono-Seite geht's um ein Schubert-Recital von
Andras Schiff,
Piccinnis Oper "Roland" unter David Golub. Peter Kemper interviewt den Pianisten und Sänger
Wim Mertens. Edo Reents berichtet von einer Klage
Michael Jacksons gegen den Musikkonzern
Sony, der angeblich für sein letztes Album
nicht genug geworben hat. Und Andreas Rosenfelder
feiert das neue Album der
Red Hot Chili Peppers als
Meisterwerk.
NZZ, 20.07.2002
Paul Jandl
untersucht das
Salzburger Kulturleben außerhalb der Festspiele. Scheint eigentlich eine
ganze Menge los zu sein: "Die wilden Salzburger Jahre sind vorbei, die Teilnehmer an der Rebellion gegen den Bürgersinn und die
'Salzenburger Fetzenspiele' (Ernst Jandl) sind dennoch geblieben, was sie waren. Heute weht die
Brise der Tradition über Einrichtungen der Off-Szene wie 'das kino', die Salzburger Elisabethbühne oder die 'Szene Salzburg'. Die harschen Provokationen des 'Kulturgeländes Nonntal' sind noch dazugekommen, ein Rockhaus ist entstanden, und eine
äußerst aktive Tanzszene verschafft der Salzburger Kultur eine neue identitätsstiftende Attraktion."
Weiteres: Samuel Herzog
gratuliert Nam June Paik zum Siebzigsten. Tobias Hoffmann
stellt die Pläne des Berner
Schlachthaus-Theaters für die nächste Saison vor. Besprochen werden ein
David-Bowie-
Konzert beim
Jazz Festival Montreux,
zwei Ausstellungen über den Architekten
Günther Behnisch in Berlin (mehr
hier) und einige
Bücher, darunter
Richard Shustermans Abhandlung "Philosophie als Lebenspraxis" (mehr
hier) und
Eva Leipprands Erzählung "Woher alles kommt" (siehe unsere
Bücherschau morgen ab 11 Uhr).
Auch in der konkurrenzlosen Beilage
Literatur und Kunst geht's diesmal fast ausschließlich um
Literatur. Wolfram Groddeck
stellt in einem Riesenartikel die ersten Bänder der neuen
Thomas-Mann-Ausgabe vor. Martin Meyer
liest den
Briefwechsel zwischen
Theodor W. Adorno und
Thomas Mann. Rainer Hoffmann bespricht
François Dufays Buch über "die Herbstreise"
französischer Autoren nach Nazi-Deutschland im Jahr 1941 (Goebbels lud ein). Und Hans-Jörg Neuschäfer
schreibt zum 200. Geburtstag des Bestsellerautors
Alexandre Dumas. Ferner
erinnert Michael Hampe an den "Regisseur, Prinzipal, Weltbürger"
Leopold Lindtberg, der vor kurzem 100 Jahre alt geworden wäre.
TAZ, 20.07.2002
Wie die
Parteien und ihre Kandidaten sich
um die Jugend bemühen, untersucht Jan Engelmann in einem
Beitrag und stellt betroffen fest: "Das Schreckgespenst eines satanisch grinsenden
@mund-Backlashs haben die Regierungsparteien, die als Besitzstandswahrer arrivierter erscheinen, als ihnen lieb sein kann, den Jungwählern nicht überzeugend einreden können. Im Gegenteil. Die Faszination eines rot-grünen 'Projekts', dessen prekärer Status und
drohendes Ende schon im Begriff mitschwingen, scheint gegenwärtig auf wenig Gegenliebe bei jenen
Existenzbastlern zu stoßen, die gerade die Folgen einer strukturellen Wirtschaftskrise am eigenen Leib erfahren."
Ferner schreibt Ralf Bönt einen etwas
disparaten Artikel über die
Tour-de-France-Etappe Mont Ventoux und das Jan-Ullrich-Syndrom, und Martin Ebner
berichtet, dass
chinesische Zeitungen in den USA jetzt auf Links-rechts-Layout und vereinfachte Schriftzeichen umstellen, was die Leser naturgemäß verwirrt.
Die Tagesthemen begeben sich
unter die Kaviar-Wilderer im Kaspischen Meer und besuchen
Genua ein Jahr danach, unter anderem in einem
Interview mit
Daniel Cohn-Bendit, der den Globalisierungskritikern vorwirft, keine Alternativen zu bieten und die Grünen gegen den Vorwurf verteidigt, den Attac-Leuten kein Heim zu bieten: "Eine grüne Regierungspartei, die nur mit ihrer
Klientel redet, hätte
so viele Wähler wie die taz Leser." Und
taz-Sommerreporter Josef Winkler
stellt klar, dass die Alm auch nicht mehr das ist, was sie war: Von
kriminellen Kälbern und lackledernen "Viehsaugentwöhnern".
Im tazmag
stimmt der Architekt Michael Kasiske ein auf den
Weltkongress der Architekten in Berlin und nennt drei Beispiele für
soziales Bauen in Berlin, und der amerikanische Fotograf Brian McNally schildert eine
haarsträubende Fahrt in der hölzernen
Achterbahn von Coney Island.
Schließlich
TOM.
FR, 20.07.2002
Anlässlich des kommende Woche in Berlin startenden 21.
Weltkongresses der Architektur erklärt Reinhart Wustlich,
was Baukultur nicht ist: Die hybride
Schlossattrappe zum Beispiel und die "finale Begründung", die moderne Architektur habe in Berlin während der vergangenen zwölf Jahre Zeit gehabt, ihre Kunst zu erweisen. "War es denn die
'moderne' Architektur?" Das Unzeitgemäße an der gegenwärtigen Debatte, in der sich die Architekten opportunistisch verhielten, so Wustlich, seien die
Nostalgie und das Ausmaß der
Begriffsverwirrung: "Authentische Geschichte wird mit einem auffällig propagierten, scheinbar alles überwölbenden Schönheitsbegriff überdeckt, so
rückwärtsgewandt, dass er auf die Zeit Schinkels Bezug nimmt."
In einem
anderen Artikel denkt Christian Schlüter nach über
Scheitern als Prinzip und erkennt: "Neben dem bereits klassischen Vorbild
Donald Duck bringt unsere allgegenwärtige Popkultur - wie einst mit Cliff Barnes oder jetzt mit
Rudolf Scharping - immer wieder veritable und vor allem zeitgemäße Prototypen des Scheiterns hervor.
Physiognomien eines unbändigen Trotzes, so als gäbe es einen unstillbaren Bedarf an ihnen. Das Leben scheint tragisch und ist doch erträglich."
Karl Schlögel
verfasst eine kurze
Krisengeschichte der Landkarte und vermisst die Welt nach dem 11. September, "mit den Quellgebieten und
Reibungsflächen des Hasses und jenen Stellen, die berührt werden müssen, wenn man eine funktionierende Zivilisation aus dem Gleichgewicht bringen und in
Panik und Anomie stürzen will".
Im
Interview definiert der südafrikanische Künstler, Trickfilmer und Theatermacher
William Kentridge (mehr
hier) Zeichnen als eine Art zu denken,
Navid Kermani liefert eine
Risiko-Theorie zum
Backgammon-Spiel, Marietta Piekenbrock
entlarvt eine Sitzung mit Münchens
Kulturreferentin Hartl zu deren überkandideltem Medienkunst-Projekt als "Chor von Schöngeistern und Charakterschweinen", ein nicht unterzeichneter
Beitrag handelt von
sexuellem Missbrauch als alltäglicher Erscheinung, Jörg Taszmann
besucht das größte
tschechische Filmfest in
Karlovy Vary und findet, tschechisches Kino kann sich sehen lassen, Hans-Klaus Jungheinrich
gratuliert dem Dirigenten
Michael Gielen zum 75. Geburtstag, und aus einer
Notiz ist zu erfahren, dass Volker Neumann, ehemaliger Vertriebs- und Marketingchef bei Bertelsmann, zum neuen Chef der
Frankfurter Buchmesse gekürt wurde.
Besprechungen widmen sich
Bohuslav Martinus Parabel-Oper
"Juliette" bei den
Bregenzer Festspielen, einem Brief- als
Abschlussband der
Johann Gottfried Seume-Ausgabe im
Klassiker Verlag, einem
Bildband mit "Paintings - Photographs" von
Richard Prince und einem
Sammelband über das Verhältnis von
Philosophie und Ästhetik (auch in unserer
Bücherschau Sonntag um 11).
SZ, 20.07.2002
Ulrich Raulff
erkundet das seltsam spröde Verhältnis der Deutschen zum
20. Juli. Warum hat dieser Tag nie Eingang in den
Mainstream geschichtspolitischer Akzeptanz gefunden, fragt er, wo er doch wie kein anderer den Aufstand des "anderen und besseren" Deutschland gegen die verbrecherische Diktatur symbolisiert? Das Land kennt
keine positive Tradition des Tyrannenmordes, meint Raulff: "Die Deutschen lieben nicht den Aufstand gegen die Obrigkeit - es sei denn die Aufständischen sind unbewaffnet und von vornherein als Opfer kenntlich: wie die Arbeiter des 17. Juni. Mit dem
Widerständler im Waffenrock tut sich die deutsche Gesellschaft, quer durch alle Generationen und politischen Lager, schwer. Den einen gilt er als
Hochverräter, den anderen als
Trittbrettfahrer der Gewalt."
In einem
Interview spricht
David Brooks, Autor von "Bobos in Paradise" (mehr
hier), über die
amerikanische Elite in Zeiten der
Krise und erklärt, dass die ganze antiautoritäre Pose der jüngsten Generation der amerikanischen Bildungsbürgerelite "ein bisschen unattraktiv" geworden ist. "Jetzt geht es wieder weniger um persönliche Unabhängigkeit,
mehr um Gemeinschaften und sogar wieder um die
Anerkennung von Autoritäten. Es ist eben alles ins Schlingern geraten und man muss wieder die Balance finden."
In weiteren Artikeln
erkundet Henning Klüver den
staatlich organisierten Horror von
Genua, ein Jahr danach, und fragt, ob es eine Art strategische Absprache zwischen rechtsextremen Teilen der Politik und Teilen der Sicherheitskräfte gab, Ijoma Mangold
kommentiert die Berufung Volker Neumanns zum neuen Geschäftsführer der
Frankfurter Buchmesse, Susan Vahabzadeh
misst das Kino an der Güte seiner
Remakes, Jens Bisky
annonciert eine große
Wolfgang-Mattheuer-Retrospektive in den Kunstsammlungen Chemnitz, Jürgen Ziemer
porträtiert Paul Oakenfold, den erfolgreichsten DJ der Welt und heimlichen Herrscher von Ibiza, Holger Liebs
gratuliert dem Videokünstler
Nam June Paik zum siebzigsten Geburtstag, Albert von Schirnding
schreibt zum Tod des Publizisten und Schriftstellers
Werner Ross, und Fritz Göttler
bedauert den Tod des Filmemachers
Herbert Vesely.
Besprochen werden Puccinis
"La Boheme" bei den Bregenzer Festspielen,
Katrin Askans Erzählband "Wiederholungstäter", ein
Album "Physiognomischer Studien" zur
Pariser Weltausstellung 1900, Boris Groys'
Gespräche über die "Politik der Unsterblichkeit" und ein
biographischer Roman über das Leben der
Vivienne von Wattenwyl.
Und das Magazin bietet eine
Kurzgeschichte von
Cees Nooteboom über "Hitze, Schnee und Liebe", eine
Hommage zu
Alexandre Dumas` 200. Geburtstag, verfasst von Autoren wie Andrej Bitow und Georg Klein, sowie einen
Hintergrundbericht zu
Dominik Grafs neuem Film
"Der Felsen", von Ingo Mocek.