Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.07.2002. In der SZ verzweifelt der Historiker Moshe Zimmermann an der Radikalisierung der israelischen Gesellschaft. Die FR schildert das drastische French Bashing in den USA. Die taz behauptet, dass die DDR an zuviel Freiheit zugrundeging. Die NZZ erzählt die Geschichte des russischen Liberalismus. Die FAZ meldet, dass die italienischen Prinzen wieder in die Heimat ziehen dürfen.

SZ, 23.07.2002

Der israelischen Historiker Moshe Zimmermann verzweifelt an der stetigen Radikalisierung der israelischen Gesellschaft, die mit dem Argument "Es geht um unsere Sicherheit" oder mit Hilfe des Pauschalurteils "Die Araber sind unsere Feinde" immer leichter gerechtfertigt werden könne, schreibt Zimmermann. "Die noch vor zwei Jahren eher als bizarr geltende Idee vom 'freiwilligen' Transfer der Palästinenser nach 'Transjordanien' erweist sich nun in Umfragen als eine Idee, die von einer Mehrheit getragen wird - und von etwa einem Drittel der Bevölkerung sogar für arabische Staatsbürger Israels beabsichtigt wird. Wandschmierereien 'Ohne Araber - keine Attentate' oder die Markierung von palästinensischen Häftlingen mit Nummern auf dem Unterarm wecken bei der Mehrheit der Bevölkerung scheinbar keine historischen Assoziationen." Auch die Kulturszene sei davon nicht ausgenommen, fügt Zimmermann hinzu, in Haifa wurde der Schauspieler Juliano Mer, Sohn einer jüdischen Mutter und eines arabischen Vaters, mit den Worten "Araber, runter von der Bühne!" schikaniert - die Gewerkschaft fordert seine Entlassung.

Alexander Kissler ist ziemlich deprimiert von einer Veranstaltung des Nationalen Ethikrats auf Schloss Elmau zurückgekehrt: "Unabweisbar ist nach den drei Tagen die Erkenntnis, dass die Arbeit im Ethikrat wenig Freude bereitet, und schuld sind stets die anderen, schuld ist immer die Ethik... Ein Philosoph, der nicht mehr grübeln, und ein Jurist, der über das Menschenbild nicht nachdenken will, sind symptomatisch für einen amtsmüden Ethikrat", dessen Ideal, wie Kissler vermutet, das gekränkte Schweigen sei.

Weitere Artikel: Frank-Rutger Hausmann porträtiert den Romanisten und Widerstandskämpfer Werner Krauss (1900-1976), einen wirklichen "uomo universale", dessen Briefe gerade vom Vittorio Klostermann Verlag herausgegeben wurden. Stefan Koldehoff verfolgt die Debatten um die Flick-Collection in New York und Berlin. Fritz Göttler berichtet, dass die amerikanische Filmakademie die Oscars künftig schon im Februar vergeben will (also etwa zur Berlinale-Zeit) Heinz-Harald Löhlein beginnt seinen Artikel über die Sinnsuche bei den 41. Internationalen Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik mit einer hübschen Anekdote: "'Herr Professor, Sie suchen ein Huhn auf einem abstrakten Bild', entgegnete der junge Karlheinz Stockhausen, als Adorno ihn akademisch unnachgiebig nach 'Motiv, Vordersatz, Nachsatz' abfragte." Und Claus Heinrich Meyer verabschiedet sich von der "Illusions-Utopie, Zeitungen könnten und sollten mehr sein als Tages-Zeitungen".

Besprochen werden "Die Hand des Architekten", eine Ausstellung des Alten Museums in Berlin mit Zeichnungen aus 200 Jahren Berliner Baugeschichte, eine Ausstellung mit Schinkelschen Interieurs im Hamburger Jenischhaus, der Performance Day "Musik der Jahrhunderte" in Stuttgart und Bücher, darunter Stephen L. Carters bisher nur auf Amerikanisch erschienener Campus-Thriller "The Emperor of Ocean Park", Kenzaburo Oes neuer Roman "Der schwarze Ast" und die Neuübersetzung von Andre Bretons "Nadja" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 23.07.2002

Der Kulturkampf zwischen den USA und Frankreiche ist wieder ausgebrochen. Wie Eva Schweitzer bemerkt, steht das French Bashing gerade ganz hoch im Kurs: "Der American Jewish Congress rief zum Boykott von Cannes auf (mehr hier). Das Simon Wiesenthal Center fordert jüdische Reisende auf, bei Fahrten nach Frankreich extrem vorsichtig zu sein. Kommentatoren, allen voran Charles Krauthammer von der Washington Post, ereifern sich über den anti-amerikanischen Kurs der Grande Nation. Der New Yorker Ex-Bürgermeister Ed Koch, ebenfalls ein großer Israel-Freund, beendet seit neuestem seine wöchentliche Radiosendung in einem etwas verballhorntem Latein frei nach Cato mit: 'Omni Gaul delenda est' (ganz Frankreich muss zerstört werden). Und die NBC-Comedy Saturday Night Life parodierte jüngst die französische Tourismuswerbung: Ein Spot, der den Eiffelturm, den Louvre und ein kleines Mädchen mit einen Korb Baguettes zeigt, dazu eine Stimme aus dem Off: 'Die Franzosen: feige, aber rechthaberisch, arrogant, aber übelriechend, Anti-Israel, Anti-Amerikanisch, Judenhasser. Ist es nicht Zeit, dass wir die Franzosen hassen?'" Während nichts so schön duftet wie ein MacDonald Numero 5.

Ursula März wundert sich über die vielen Stilfibeln, die neuerdings wieder auf dem Buchmarkt zu haben sind. Ihnen allen hafte etwas unfreillig Komisches an: "Sie geben vor, Regeln zur Orientierung des Benehmens aufzustellen und sind dabei das beste Beispiel für die Aussichtslosigkeit dieses Projekts. Sie wollen das Bourgeoise retten. Und versetzen ihm, besser als jeder verwahrloste Althippie und jeder Trainingshosenfan es könnte, den tödlichen Stoß ins Irreale."

Weitere Artikel: Hans Wolfgang Hoffmann versucht, dem ostdeutschen Bevölkerungsschwund zumindest städtebaulich etwas Positives abzugewinnen. Natascha Freundel berichtet von einer Berliner Ringvorlesung zur "Männlichkeit als Maskerade". Times mager fragt, ob die etablierten Bürger von heute mehr lesen würden, wenn sie als Studenten mehr geklaut hätten.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Fotos und Videoinstallationen der finnischen Künstlerin Eija-Liisa Ahtila in der Kunsthalle Zürich, die Abschlussarbeit des Studiengangs Bühnenbild an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart (unter Martin Zehetgruber und Johann Kresnik), Kerstin Spechts Stück "Das Goldene Kind" an den Münchner Kammerspielen und Bücher, darunter Jon Fosses Roman ohne einen einzigen Punkt: "Morgen und Abend", die Briefe der Malerin Angelica Kauffmann und Jonathan Lethems Roman "Motherless Brooklyn" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 23.07.2002

Über die Kunst, Arbeitslosigkeit zu verstecken, schreibt Helmut Höge, man könne wohl behaupten, "dass die DDR nicht an zu viel konsumistischer Unfreiheit, sondern an zu viel Freiheit - im Produktionsbereich nämlich - zugrunde ging. Die dabei dort 'versteckte Arbeitslosigkeit' - die also bloß eine seit 1945 mühsam erkämpfte Faulheit war, d. h. eine mangelnde Angst vor Arbeitsplatzverlust und der damit einhergehenden Verelendung - kam also mit den von der Treuhand so genannten 'Großflugtagen', d. h. 'Massenentlassungen' zur Rentabilitätssteigerung der Betriebe, nur ans Licht! Birgit Breuel also war mithin eine (marktwirtschaftliche) Aufklärerin ersten Ranges. Verdunkelt wird ihr Wirken nur dadurch, dass heute andere die durch die Treuhandpolitik hervorgerufene Arbeitslosigkeit erneut wieder verstecken - in den Statistiken der Nürnberger Anstalt für Arbeit."

Sabine Leucht kommentiert die erste öffentlichen Tagung des Nationalen Ethikrats (mehr hier), die am Wochde im bayerischen Schloss Elmau stattfand: "Der Mensch als seine eigene Aufgabe - das Projekt der Zivilisation - scheint dem Menschen zuweilen einige Nummern zu groß. Manch einer wäre wohl lieber in Platons Höhle geblieben. Einmal herausgetreten aber, geht man unweigerlich in Opposition zu sich selbst."

Besprochen werden heute ausschließlich Bücher: Julia Leighs Debüt "Der Jäger", Heike Geißlers Roman "Rosa" sowie Hans-Ulrich Schminckes Band "Vulkanismus". Das Politische Buch stellt zwei neue Bände aus der schwarzen Reihe vor, die die Handlungsspielräume im Nationalsozialismus ausleuchten: Wolfram Wette Studie "Retter in Uniform" und Coen Roods Bericht "Wenn ich es nicht erzählen kann, muß ich weinen", und Alice Cherkis Porträt "Frantz Fanon" (mehr in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Schließlich Tom.

NZZ, 23.07.2002

Felix Philipp Ingold unternimmt anhand russischer Neuerscheinungen einen Streifzug durch die Geschichte des zwar rudimentär entwickelten, aber ideenreichen russischen Liberalismus. Sein Hauptproblem benennt er bündig am Ende seines Artikels: " Die hauptsächliche Schwierigkeit des Liberalismus besteht in Russland nach wie vor darin, dass er ein primär intellektuelles Phänomen geblieben ist, für das es noch immer keinen adäquaten gesellschaftlichen Kontext gibt. Die kurzfristigen Sympathien für die 'liberalen' Reformen der frühen neunziger Jahre sind längst wieder verflogen und durch einen aggressiven Antidemokratismus abgelöst worden, dem eine autoritäre, patriotisch aufgerüstete Staatsführung weit besser entspricht als eine offene Zivilgesellschaft, die auf Eigeninitiative und Verantwortungsbewusstsein der Bürger angewiesen ist."

Weiteres: Andrea Köhler resümiert den Streit um den Wiederaufbau des Ground Zero in New York. Kerstin Stremmel berichtet ausführlich von den "Rencontres Internationales de la Photographie" in Arles, die für sie seit einiger Zeit an "konzeptioneller Unentschiedenheit" leiden. Alice Vollenweider schreibt zum Tod des Italianisten Padre Giovanni Pozzi. Und Claudia Schwartz schickt einen Vorbericht zum 21. Weltkongress der Architektur, der heute in Berlin beginnt.

Besprochen werden die Lucian-Freud-Retrospektive in der Tate Britain in London, eine Ausstellung der Hüte von Philip Treacy (mehr hier) im Londoner Design Museum und einige Bücher, darunter Raoul Schrotts Erzählung und Essay "Khamsin", Kurt Flaschs Band " Vernunft und Vergnügen" über den Decameron (mehr hier) und Barbara Bongartz' und Alban Nikolai Herbsts Roman in Briefen "Inzest". (Siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 23.07.2002

Dirk Schümer meldet die Revision des Artikels 13 der italienischen Verfassung, der männlichen Nachfolgern des italienischen Königshauses die Einreise in das Land verbot. Sie mussten sich aber erst mal (per Fax) zur Republik bekennen: "Bis sie vor der endgültigen Einreise ihre belgischen Behelfspapiere abgeben und endlich Pässe mit dem republikanischen Wappen in Händen halten dürfen, wollen die Savoyer in Neapel - also ausgerechnet am Stammsitz der von ihnen mit Garibaldis Hilfe vertriebenen bourbonischen Vorgängerdynastie und von den römischen Verfassungsorganen durch einen kulturellen Abgrund getrennt - einen standesgemäßen Wohnsitz beziehen. Wenn die Prinzen ihre Lust an der Provokation unterdrücken können, dürfte es weiter keine Probleme geben."

Weiteres: Edo Reents fühlt sich durch die Affäre um Moritz Hunzinger an die Machenschaften des "schönen Konsuls" und Titelhändlers Weyer in den siebziger Jahren erinnert. Auf der Medienseite untersucht die Redaktion zudem das kleine Medienimperium von Moritz Hunzinger, von der Boulevardfoto-Agentur Action Press, über den Verlag der Universitätsbuchhandlung Blazek und Bergmann, die Hunzinger Information AG, die die politischen Salons abhält, bis zu seinen Anteilen am Institut für angewandte Sozialforschung GmbH (Infas). Jordan Mejias meldet, dass die Kritik an den Masterplänen für den New Yorker Plänen für den Ground Zero (er berichtete am 18. Juli) so groß war, dass sie nun revidiert werden sollen. Achim Bahnen wohnte auf Schloss Elmau einem Treffen des Nationalen Ethikrats (mehr hier) bei. In der Reihe "Darf Preußen sein?" verteidigt Dieter Bartetzko das Berliner Stadtschloss und die preußische Baukunst gegen kritische Äußerungen des Architekten Günter Behnisch. Andreas Rossmann resümiert das Literaturfest "Wege durch das Land", das im Kloster Dalheim gastierte. Camilla Blechen schreibt zum Tod des Bildhauers George Rickey (Bilder). Wolfgang Sandner schreibt zum Tod des Ethnologen Alan Lomax (mehr hier). Und in einem Kommentar freut sich "rmg", dass sich unter den 497 Millardären der Forbes-Liste laut dem Art Newspaper immerhin 36 ernsthafte Kunstsammler befinden.

Auf der letzten Seite erinnert Elmar Schenkel an den Sprachforscher Owen Barfield, der Tolkien stark beeinflusste. Regina Mönch berichtet, dass die ehemalige Stasi-Zentrale in der Berliner Normannstraße zu einem Museum der SED-Diktatur umgewidmet werden soll. Und auf der Medienseite erzählt Karl-Peter Schwarz die Geschichte der tschechischen Journalistin Sonja Slonkova von der Zeitung Mlada Fronta Dnes, die manchen Skandal aufdeckte und nun fast zum Opfer eines mörderischen Racheplans wurde. Und auf der Bücher-und-Themen-Seite erinnert Tilman Spreckelsen an Alexandre Dumas, den Erfinder des Feuilletonromans, der in diesen Tagen 200 Jahre alt geworden wäre und demnächst ins Pariser Pantheon umziehen soll.

Besprochen werden eine Bamberger Ausstellung über König Heinrich II. und seine Gattin Kunigunde (mehr hier), ein Auftritt des Tänzers Steve Pxton mit der Lisbon Dance Group beim Wiener ImpulsTanz-Fest, die Münsteraner Ausstellung "Prisoners" des Künstlers Pawel Lathamer, der mit Strafgefangenen zusammenarbeitet, eine Ausstellung des Fotografen Louis Faurer in Aachen.