08.08.2002. Martin Walser bespricht in der SZ die Briefe der in Auschwitz ermordeten Lilli Jahn und ihrer Kinder. Die Zeit fürchtet den neuen Biokapitalismus. Die FR planscht im Prinzenbad. Die taz sucht den Unterschied zwischen Frauen und Pflanzen bei Pedro Almodovar. Die NZZ erfrischt sich am Mainstream. Die FAZ annonciert die Renaissance des Sandalenfilms.
SZ, 08.08.2002
"
Martin Walser weist darauf hin, dass er diese Rezension verfasste, bevor die Debatte über seinen Roman 'Tod eines Kritikers' anhob", hat die Redaktion lapidar unter einer
zeitungsseitenlangen Rezension des Schriftstellers notiert. Walser bespricht den von
Martin Doerry herausgegebenen Band "Mein verwundetes Herz - Das Leben der
Lilli Jahn 1900 - 1944" , in dem etwa 250 Briefe versammelt sind, die vier heranwachsende Kinder aus einer
sogenannten Mischehe in den vierziger Jahren an ihre deportierte jüdische Mutter, die Ärztin Lilli Jahn geschrieben haben, sowie die Briefe der Mutter an ihre Kinder. In keiner Zeile dieser Briefe gebe es auch nur die geringste stilistische oder literarische Ambition, schreibt Walser, aber die
Gegenständlichkeit, die für Walser durch diese Briefe entsteht, hat für ihn ganz unmittelbar einen
historischen Rang. "Und eine
Wirkung, die ein Roman nicht haben kann. Und eine Aussagekraft, die eine Darstellung durch einen Historiker nicht erreichen kann. Der bleibende Lese-Eindruck ist:
vollkommene Glaubwürdigkeit." Kein Wegsehen, nirgends. "Ich habe noch nie von einem Buch gesagt, es gehöre in die
Schule, hier muss ich das sagen. Das ist doch Geschichtsschreibung. Wenn ich das lese, kommt mir der Unterschied, den der Jargon macht zwischen Quelle und Schreibung, irreführend vor. Das ist Geschichtsschreibung, wie Klemperers Tagebücher und
Borchardts Briefe Geschichtsschreibung sind. Es ist ein Buch der vollkommenen Zuständigkeit für diese deutsche Geschichte. Und Walser schreibt auch: "Diese Kinder und ihre Mutter sind ganz unwillkürlich
vehemente Stilisten. Sie sind mitten im Grauen immer zart und immer zärtlich. So kommen Sprachdenkmäler der Menschlichkeit zusammen."
Wolf Lepenies lästert über amerikanische Formen endzeitgemäßer Betrachtungen um dann bei
Oswald Spengler und dessen "Untergang des Abendlandes" zu landen. Und bei
Adorno, der Spenglers Verständnis ökonömischer Vorgänge Lepenies zufolge hilflos genannt hat. Spengler spreche von der Allmacht des Geldes im gleichen Ton, in dem
ein kleinbürgerlicher Agitator gegen die Weltverschwörung der Börse losziehe, wird Adorno zitiert. "Angesichts des Menetekels aber, das heute Schriftzeichen wie
Enron und
Worldcom an die Wand malen, klingt Spenglers Satz prophetisch, dass die Demokratie sich durch das Geld selbst vernichtet, nachdem das Geld den Geist vernichtet hat... Aus
Politikverdrossenheit und Wirtschaftsekel braut sich eine gefährliche Mischung zusammen."
Der deutsch-jüdische Journalist
Richard Chaim Schneider hat den palästinensischen Politiologen
Sari Nusseibeh - Vertreter der
PLO in Ostjerusalem und Direktor der Al-Kuds-Universität in dieser Stadt - zu seinem Positionen zum israelisch-palestinensischen Konflikt
befragt. Nusseibeh hatte in
arabischen Zeitungen eine Petition veröffentllicht, in der er
gegen Selbstmordattentate Stellung bezog: "Wir erklären den Leuten, die hinter den Anschlägen und Selbstmordattentätern stehen: Was ihr tut, ist kontraproduktiv. Was wir als Palästinenser wollen, ist die Unabhängigkeit, was wir wollen, ist ein Staat neben einem Staat, was wir wollen, ist ein Ende der Okkupation, aber was ihr tut, führt ganz und gar nicht dahin, im Gegenteil. Es führt uns
weiter und weiter davon weg."
Weitere Artikel:
Christoph Bartmann berichtet, wie der geplante
Neubau des Dänischen Reichsarchivs über der Ostsee auf- und wieder unterging.
Fritz Göttler beschreibt eine Begegnung mit
Sidney Pollak in Locarno am Rande des Filmfests. Ein mit "sus" kürzelnder Autor
fragt, ob die viel diskutierte
Verlegung der Oscar-Verleihung auf Februar am Ende nur den großen Studios nützt. Außerdem gibt es ein
Gespräch mit dem nordrhein-westfälischen Minister für Städtebau, Wohnen, Kultur und Sport,
Michael Vesper über das geplante "
Haus der Kulturen und der Kunst" in
Köln, für das die alte Kunsthalle abgerissen werden soll, wogegen sich jetzt Widerstand regt.
Besprochen werden
Pedro Almodovars Melodram über die Liebe in den Tagen des Komas "Sprich mit ihr" ("
Habla con ella") inklusive
Gespräch mit Almodovar,
Niklaus Helbling und sein
Theaterprojekt "
Red Cross Over" bei der Schweizer
Expo und die
Marmorbienale in Carrara.
Zeit, 08.08.2002
Nicht Geringeres als das
Ende des Informationszeitalter kündigt der marxistische Klassiker
Claus Koch an und den Beginn einer neuen Ära, des
Biokapitalismus: "Für die biotechnisch bestimmte Marktgesellschaft sind bereits die ersten Signale gesetzt. Sie besagen, dass an das
Marktindividuum neue Angebote, neue Erwartungen und Zumutungen geheftet sein werden... Wenn heute von der raschen Zunahme individualisierter Therapien gesprochen wird, so bedeutet das vor allem: Es werden immer mehr Lebensprozesse
kontrollierbar. Und weil die berechenbar sind, müssen sie auch dem Individuum erkennbar sein. Schon aus diesem Grund: Es kann ihm nicht mehr erspart werden, die Verantwortung für ihre Regelung zum entscheidenden Teil zu übernehmen. Der biomedizinische Fortschritt zwingt dem Menschen die Mündigkeit auf, mit seinem
Biokapital vernünftig, also
sparsam und
rational, umzugehen." Hhmm, früher klang die Zukunft ja ein bisschen aufregender.
Klaus Harpprecht blickt zurück auf die
Fünfziger Jahre - und
verteidigt sie: "Sie waren keine Epochen des Stillstands in
Mief und Muff, obwohl das neue Kleinbürgertum oft danach roch. Sie waren am Ende auch kein Zeitalter der Restauration. Sie waren ein
Anfang, mühselig, stockend unvollkommen, doch manchmal von einer
mitreißenden Liebe zur Welt und zum Leben erfüllt". Und dem
deutschen Fräulein gehört endlich ein
Denkmal gesetzt - für seine Verdienste um die Völkerverständigung und die Liberalisierung der Gesellschaft!
Weitere Artikel: Bayreuths Kronprinzessin
Katharina Wagner übt sich in Würzburg unter nahezu
klandestinen Bedingungen im Regiefach, Peter Roos hat
versucht herausfinden, wie sich die Proben zum "Fliegenden Holländer" bisher gestalten. Peter Kümmel
bemerkt zu den Salzburger Festspielen, dass Flimm, Turrini und Peymann das Theater
gespenstisch alt aussehen ließen. Ulrich Greiner bedankt sich für wertvolle Beiträge der
Deutschen Bank zur Bildungsdebatte ("Ein jeder von uns besitzt mehr Humankapital als alle anderen Vermögenswerte zusammen"). Iring Fetscher
liefert Anmerkungen zu
Moral und
Politik.
Besprechungen: Katja Nicodemus
staunt, dass
Pedro Almodovars himmelschreiend
absurde Liebesgeschichte "Sprich mit ihr" so absolut normal und folgerichtig erscheint, dass man das Gefühl hat, die Welt wäre ohne sie nicht
komplett". Konrad Heidkamp
verteidigt Bruce Springsteens Album zum 11. September "The Rising" gegen die anderen Kritiker. Weitere Besprechungen widmen sich der 5. Werkleitz-
Biennale zur politischen Medienkunst, der Leipziger
Ausstellung "Klopfzeichen" sowie
Phil Robinsons hysterischem
Film "Der Anschlag".
Im
Literaturteil sieht Ulrich Greiner
Paul Auster mit seinem neuen Roman
"Das Buch der Illusionen" auf der
Höhe seines Könnens.
Auf den vorderen Seiten herrscht
Wahlkampf. Michael Naumann
beklagt das deutsche
Konsensmodell. Das Dossier
leidet mit Jugendlichen in der
Pubertät.
FR, 08.08.2002
Eine hübsche Geschichte fürs Sommerloch
schreibt Christian Schlüter über das
Berliner Prinzenbad, dem Sommerseismograf Berliner Befindlichkeit.: "Armut, Ernährung, Sport, Familie, Umwelt - die Badeanstalt ist ein kleiner
Sozialkosmos", wird also fachmännisch konstatiert. "Die Sonne brennt. Zwischen den Duschkabinen flitzen Jungs umher und machen den üblichen Lärm. Bei den Mädchen dagegen ist es ruhig. Hier gelten andere Sitten. Ein Hinweisschild warnt: "Angrabschen! Antatschen! Sexuelle Belästigung! Wehrt Euch! Die Bademeister helfen sofort!" Keiner der Jungs weit und breit, ein Bademeister steht in Sichtweite.... Armut ist hier nicht zu entdecken. Nicht nur, weil in Badeklamotten alle gleich aussehen, eben bunt und vergnügt. Auch das kulinarisch überaus verlockende und vor allem für Familien nicht ganz billige Angebot findet zahlreiche Abnehmer. Am besten geht allerdings immer noch der Klassiker, Pommes mit
Ketchup und Mayo.Viele der Kinder sind
übergewichtig, ein Umstand, der gemeinhin als so genanntes Unterklassenphänomen gedeutet wird."
Weitere Artikel: Die Kolumne t
imes mager sinniert über den
Mythos Großstadt, dem man einst mit Baedeker, und postmodern nun mit dem
Navigationssystem zu Leibe rückt.
Besprochen werden
Phil Aldens Polit-Thriller "
Der Anschlag", die ("herrliche")
Verfilmung von
Annie M. G. Schmidts Kinderbuch "
Die geheimnisvolle Minusch", die
Ausstellung "Die zweite Schöpfung" im
Berliner Martin Gropius-Bau, die
Ausstellung "Schwarzwald Hochstraße" mit zeitgenössicher badischer Kunst in der
Kunsthalle Baden-Baden. Die
Retrospektive des
Filmpioniers Allan Dwan im Rahmen des Filmfestes in Locarno.
Außerdem:
Helmut Höge nähert sich dem Phänomen von
Volksaufstand und Staatsstreich anhand der Erinnerungen des rechten Partisanen Edgardo Sogno und von
BBC-Programmdirektor und Filmregisseur Stuart Hood, der während des Zweiten Weltkrieges unter dem Decknamen "Carlino" gegen die Faschisten kämpfte.
TAZ, 08.08.2002
"Es ist einiges darüber geschrieben worden, dass Almodovar mit
'Sprich mit ihr' ungewohnte Wege geht, insofern er sich nicht den weiblichen, sondern den männlichen Figuren widmet",
schreibt Kristina Nord über
Pedro Almodovars neuen Film. "Zieht man allein den Plot in Betracht, trifft das sicher zu. Nie hat man einen Film Almodovars gesehen, in dem die
weiblichen Hauptfiguren so passiv waren wie in 'Sprich mit ihr'. Ob sie überhaupt noch lebendig sind, ob Austausch mit ihnen möglich ist und sie sich von
Pflanzen unterscheiden, wird denn auch mehrmals verhandelt. Doch ist dies nur eine erste Ebene, hinter der Almodovar etwas anderes unternimmt: Er untersucht, was der Blick mit der weiblichen Figur auf der Leinwand anstellt, er demonstriert gleichsam die
Todesarten, die in der Bildwerdung lauert".
Barbara Schweizerhof bespricht Phil Aldens Aktion-Film "
Der Anschlag" und stellt fest: "Allmählich setzt sich die Erkenntnis durch, dass der
Kalte Krieg mit seinem Abschreckungsprinzip letztlich eine Zeit des
glücklichen Wartens war, denn das gefürchtete Ereignis, der 'Ernstfall', war ja nie eingetreten. So wird in der Rückblende aus dem Kalten Krieg eine Zeit des Spiels, an die man sich mit wohligem Schaudern zurückerinnert." Ferner hat sich Thomas Winkler die südafrikanische Komödie "
Mr. Bones" angesehen.
Auf der Internetseite
stellt Fiete Stegers
Internetseiten der Parteien zum Wahlkampf vor (zum Beispiel
diese und
diese) Und
Tom.
NZZ, 08.08.2002
Pop ist überall! Sogar in der
NZZ. In einem langen kunsttheoretisch versierten Essay
untersucht Ueli Bernays die gewaltige Erfolgsgeschichte des Phänomens Pop, der nahezu alle kulturellen Bereiche erobert hat. Warum? Die
ideologiemüde Postmoderne, besser "Popmoderne", will Unterhaltung. Und "Pop setzt statt auf einen tieferen Sinn auf ansprechende
Oberflächen, für sich selbst sprechende Werke und verspricht statt Utopien raschen
Genuss." Denn die wahre Erfüllung liegt im Massengeschmack, also: "Hinaus aus dem Staub der Eliten, der Nischen und der Ghettos, hinein in den erfrischenden
Mainstream"! Na dann mal los.
Jürgen Tietz hat sich
verliebt in die "
swingende Strandarchitektur" von
Ulrich Müther an der Ostsee im allgemeinen und in den renovierten
"Teepott" in Warnemünde im Besonderen: "Unmöglich, ihn nicht sofort ins Herz zu schliessen, wenn man zur
Sommerfrische nach Warnemünde fährt: Gleich neben der Hafeneinfahrt, dort, wo grosse Ostseefähren und kleine Segelboote einlaufen, schwingt sein weit auskragendes,
luftiges Dach dreimal auf und ab und setzt die bewegte Dünenlandschaft mit architektonischen Mitteln fort."
Weiteres: Über den neuesten Stand im Streit über die Mitwirkung einer
behinderten Frau an der Kopenhagener 'Hamlet'-Inszenierung von
Stefan Bachmann berichtet "sda", der auch die Entdeckung einer punischen
Grabkammer auf Sardinien
meldet. Das war's, der Rest sind Bücher, darunter eines von
Wolf Wondratschek, der sich als "
Mozarts Friseur" versucht hat, oder
Ian Burumas "Anglomania" (mehr
hier), mit der sich
Werner von Koppenfels beschäftigt. (Siehe unsere
Bücherschau ab 14 Uhr.)
FAZ, 08.08.2002
Merten Worthmann liefert eine Momentaufnahme vom
kubanischen Kino, das von den Beteiligten vor allem eins fordert: starke Nerven. Fünf bis zehn Jahre dauert es in der Regel, bis ein Projekt durch sämtliche Instanzen gegangen ist und verfilmt werden kann. Viel Zeit zum Feilen? "Das kann auch
zermürben, Mann wie Werk.
Enrique Alvarez muss gerade den Flop seines statischen Dialogdramas 'Miradas' verkraften. Beim Gespräch im ICAIC übt er
Selbstkritik: 'Als ich meinen Film endlich drehen durfte, hat er mich schon längst nicht mehr interessiert.' Seither sei seine Motivation kaum gewachsen: 'Für die nächste Produktion werde ich mich wieder
ganz hinten anstellen müssen.'"
Peter Körte bereitet uns schon mal auf eine neue Welle von
Antiken-Filme des amerikanischen "Empire" vor: "Allein
Alexander der Große ist derzeit potentieller Held von mehreren geplanten Produktionen: Dino de Laurentiis hat den australischen Regisseur
Baz Luhrmann ('Moulin Rouge') verpflichtet und will Anfang 2003 in Marokko mit den Dreharbeiten beginnen.
Oliver Stone, heißt es, überarbeite ein Drehbuch.
Martin Scorsese soll ebenfalls über eine Alexander-Vita nachdenken, für deren Titelpart sich Leonardo DiCaprio interessiert. Eine Mini-Serie mit Mel Gibson als Hellenenherrscher soll angesichts der Konkurrenz erst einmal auf Eis gelegt worden sein.
James Cameron, der, von 'Titanic' abgesehen, bisher nur dystopische Zukunftswelten bereist hat, interessiert sich für die
Amazonen, und gleich zwei Projekte zeigen sich fasziniert von
Hannibals Alpenüberquerung im Jahr 218 vor Christus. Denzel Washington und Vin Diesel sind als Hauptdarsteller im Gespräch - wobei es sein mag, dass manche in Hollywoods Chefetagen den karthagischen Feldherrn derzeit noch mit
Hannibal Lecter verwechseln."
Weitere Artikel: Felicitas von Lovenberg
erklärt, was ein
Modernes Antiquariat ist. Siegfried Stadler
erkundet das
Milieu der PDS-Wähler vor dem Leipziger Arbeitsamt. Walter Hinck gratuliert dem Germanisten
Egon Schwarz zum Achtzigsten. Jürgen Richter stellt einen Pflegefall vor: die
Rokokokirche im thüringischen
Bebra. Rudolf Petersen
plädiert in der Reihe über das
Ruhrgebiet für eine Verbesserung der Öffentlichen Verkehrsmittel statt den Bau des
Transrapids. Und auf der letzten Seite
erinnert Rainer Blasius an die Grundsteinlegung für das
Marine-Ehrenmal in Laboe vor 75 Jahren.
Besprochen wird die
Ausstellung "Zweite Schöpfung" - eine Bilderchronik der
industriellen Welt - im Berliner
Martin-Gropius-Bau,
Phil Alden Robinsons Film "Der Anschlag" und eine Ausstellung mit
Werken von Ernst Herbeck in der Kunsthalle Krens.