09.08.2002. Richard Powers erklärt im Interview mit der NZZ, worüber der Islam und der Westen eigentlich streiten. Die FR untersucht die schwierige Lage am Buchmarkt. Die taz wirft einen Blick auf das Kulturverständnis der französischen Rechten. Die SZ sieht die SPD auf dem deutschen Weg. Die FAZ stellt ein in Spanien viel diskutiertes Buch über den Bürgerkrieg vor.
NZZ, 09.08.2002
Seit tausend Jahren kämpfen der
Islam und der Westen schon,
sagt der amerikanische Schriftsteller
Richard Powers (mehr
hier und
hier und
hier) im Gespräch mit Conny Teufel, und zwar um die
Beherrschung der Bilder: "Auf der einen Seite gibt es den Traum des Westens: eines Tages Gott zu ersetzen,
Raum und Zeit zu kontrollieren, unsere Bilder wirklich werden zu lassen und unsere Seelen vom
sterbenden Tier zu befreien. Und die islamische Welt sagt: 'Mach dir kein Bild von der Seele, lass deine
Eitelkeit nicht mit Gott in Konkurrenz treten.' Nur Gott kann ein Bild von der Seele machen. Es ist ein Krieg zwischen dem 21. und dem 12. Jahrhundert."
Auch wenn der Name eher nach Gefängnis klingt, die
Libera Universita di Alcatraz von
Dario Fos Sohn
Jacopo in den Hügeln von
Umbrien verbindet seit zwanzig Jahren Lehre mit Genuss,
schwärmt Elsbeth Gut Bozzetti. In der Mensa "Holztische und Bänke im Holzfällerstil, der Boden ein Patchwork aus bunten Fliesen,
Veranda mit Panoramablick und Feigen vom Baum in Griffweite: die funktionale Ästhetik der Jahre, in denen nicht Geld, sondern Phantasie im Überfluss da war." Und die Küche hat vier Sterne!
Weiteres: Aldo Keel
erklärt, warum
Stefan Bachmanns "Hamlet"-Premiere in Kopenhagen gescheitert ist. "zit"
erzählt, warum es bei Paris 2004
keine Expo geben wird. Peter Hagmann hat sich in Salzburg den "Turandot" von
David Pountney angesehen, während Franz Zelger im Münchner
Haus der Kunst das Werk des Romantikers
Johan Christian Dahl besichtigte. Das einzige
Buch heute
beschäftigt sich mit dem "
Bauen in Tirol seit 1980".
Die
Filmseite am Freitag: Unter anderem
fragt sich Georges Waser, ob mit dem Ende des unabhängigen britischen Studios
FilmFour auch die
guten Filme verschwinden werden, und Alexandra Stäheli
wundert sich in
Locarno über die seltsame Liebe zum
Dokumentarfilm.
Auf der
Medien-und-Informatik-Seite
berichtet Marc Zitzmann über
Gewalt- und Porno-Diskussionen in Frankreich. Ferner lesen wir die
Meldung, dass das
jüngere Publikum in Deutschland nach neuen Untersuchungen immer seltener zur
Zeitung greift.
FR, 09.08.2002
Dirk Fuhrig
besucht für uns das
Jammertal Buchmarkt, wo, wie er schreibt, jetzt
strukturelle Probleme der Branche spürbar werden, die in den vergangenen Jahren oft beklagt wurden, an denen sich aber nichts geändert hat. "Die Honorare und Lizenzen für Autoren und Übersetzungs- beziehungsweise
Taschenbuchrechte sind teilweise ins Unermessliche gestiegen. Gleichzeitig werden gerade die
Buchhandels-Ketten immer offensiver, wenn sie den Verlagen ihre Wünsche nach Rabatt und großzügigen Zahlungsbedingungen präsentieren. Nicht fern sieht mancher '
amerikanische Verhältnisse', wo der Buchhandel, nicht mehr der Verleger, bestimmt, was auf den Markt kommt."
Thomas Kapielski stattet der
documenta einen
"Höflichkeitsbesuch" ab. Sowas von nett. Zumal er nicht durchweg glücklich war in Kassel. "Man fadisiert heuer ziemlich", lautet etwa ein zusammenfassender Kommentar, dem
Trendsport Videokunst-Gucken kann Kapielski ohnehin nichts abgewinnen ("Man schaut schon genug fern"), und in der Hitze liefen die Besucher nicht bloß sehr leicht bekleidet umher, sondern auch noch
ausnahmslos tätowiert. "Die jungen Mütter sogar restlos und meist an Stellen, wo sie selbst es gar nicht sehen können!" Was so ungewöhnlich ja nicht ist.
Morten Kansteiner
sah und hörte den vertikalsten aller Rockstars,
Patti Smith, die in Köln ihre
Best-Off Tour eröffnete, "alz"
diskutiert die vom
Deutschen Kulturrat neu gestellte Forderung nach einem eigenen
Bundeskulturministerium, und
Times mager geht der
schwierigen Frage nach,
was Kunst ist, in der Provinz zumal.
Besprechungen widmen sich dem Sommer-Spaß-Album
"We Love Music" des DJ-Kollektivs
International Pony (mehr
hier) sowie einer weniger spaßigen
Ausstellung über die
Kalaschnikow im
Waffenmuseum Suhl, ferner werden
Tahar Ben Jellouns Roman "Das Schweigen des Lichts" (mehr
hier) und
Stephen Frys Roman "Der Sterne Tennisbälle" (mehr
hier) vorgestellt (alle beide auch in unserer
Bücherschau um 14 Uhr).
TAZ, 09.08.2002
Jens Emil Sennewald wirft
einen Blick auf die französische
"exception culturelle", die sich derzeit höchst disparat gestaltet. Da pochen die Rechtsliberalen auf eine
neue alte
Leitkultur, die in der Malerei etwa mit dem Kubismus aufhört, während eine
junge Kunst das
Kollektiv wiederentdeckt. Als ein das Selbstbewusstsein förderndes Mittel zum Zweck freilich: "Man sucht Differenz, übt Machtkritik und pocht auf Singularität. Der gesellschaftliche Entwurf, der sich hier und da abzeichnet, zielt auf
Eigenständigkeit und eine
Selbstverantwortung, die auf den Anderen, sozial Schwächeren gerichtet ist. Gemeinsam ist den höchst diversen Ansätzen der Wille zum 'Se partager' - zum 'Sich (mit-)teilen'." Für eine Leitkultur taugt das selbstredend wenig.
Außerdem
bespricht Harald Fricke neue Platten von
Primal Scream (
"Evil Heat") und - kaum zu glauben -
Boy George (
"U can never b 2 straight"), und Jonathan Fischer
trifft Solomon Burke, den "King of Rock n Soul" der 60er, der inzwischen als
Bestattungsunternehmer und Bischof der "church of let it all hang out" reüssierte und jetzt sein
Comeback-Album "Don't Give Up On Me" vorlegt.
Schließlich
TOM.
SZ, 09.08.2002
Die
SPD auf dem
"deutschen Weg". Ulrich Raulff ist
ganz begeistert vom neuesten, dabei tief ins historische Gedächtnis deutscher Politik hinabreichenden Streich der
Kampa-Strategen: Außenpolitisch sei die Vokabel zwar eine Katastrophe, innenpolitisch betrachtet aber sei sie universal und "tricky im Gebrauch". Man könne den
Neid konservativer Wahlkämpfer nachempfinden, wenn die SPD jetzt das Fähnlein vom "deutschen Weg" schwenkt, erklärt Raulff. "Als Wimpel auf linken Stammtischen wirkt das
schwarz-weiß-rote Tuch allerdings ungleich interessanter. Was immer die Tradition der SPD in den Fünfzigern gewesen sein mag: Im Ohr der Zeitgenossen klingt der Begriff national und
irgendwie 'rechts'. Auf Konservative und Neokonservative, auf Jung- und Altrechte wird er seinen Zauber nicht verfehlen. Andererseits injizieren ihm die spin doctors von der Kampa eine 'linke' Semantik aus
Pazifismus, Antiamerikanismus und
Antikapitalismus. Umwertung der Werte? Nein, nur eine kleine Vokabeldämmerung."
Im Rahmen der dem gescheiterten
Weltkongress der Architektur in Berlin sich anschließenden
Debatte fordert die Direktorin des Deutschen Architekturmuseums,
Ingeborg Flagge, von den Baumeistern eine Besinnung auf den sozialen Wohnungsbau und
weniger "Gottähnlichkeit": "Die Gesellschaft muss begreifen, dass Architektur den Menschen wie eine
Haut umgibt und großen Einfluss auf ihn hat. Man kann ihr nicht entgehen. Deshalb ist gute Architektur so wichtig wie gute Politik. Die Architekten selbst müssen
soziale Kompetenz beweisen und das Schwarzbrot ihres Berufes über den Starrummel stellen. Allerdings höre ich schon all jene, die dies für altmodisch und überholt halten."
Alex Rühle
berichtet von
Frankreichs Rückzieher als Ausrichter der
Weltausstellung 2004 und erklärt das Unternehmen Expo zum anachronistischen Rummelplatz, Sonja Zekri
verfolgt den Streit um die
Ausstellung zur NS-Geschichte im Münchner Stadtmuseum, in den "
Noten und Notizen" versinkt Claus Koch in Melancholie im August (
Krieg im Irak und so), "mott"
untersucht den fortlebenden kolonialen
Drang, Berge zu taufen, und im
Gespräch erklärt der Direktor der Städtischen Bibliotheken in München die Bedeutung der Stadtbibliotheken im Rennen um den
Pisa-Pokal.
Besprochen werden eine
"Turandot" von David Pountney bei den
Salzburger Festspielen, Salvatore Sciarrinos
Oper "Luci mie traditrici" bei den
Tiroler Festspielen in Erl, eine
Ausstellung zum 170. Geburtstag von
Wilhelm Busch im gleichnamigen Museum in Hannover, ein
Haydn-Konzert mit dem Dirigenten
Mariss Jansons und den Wiener Philharmonikern
in Salzburg, ebenfalls in Salzburg (der Nabel der Welt, scheinbar), im Museum
Carolino-Augusteum, wird eine
Autographenschau zum Thema
"Musik und Dichtung" gezeigt. Und an Büchern schließlich werden vorgestellt:
Norman Ohlers Roman "Stadt des Goldes", ein
Sammelband "Zur Aktualität von
Kunstgeschichte" sowie
Parfüm-Poesie (in mehrfacher Hinsicht!) vom Freistaat-Dichter
Albert Ostermaier (siehe auch unsre
Bücherschau um 14 Uhr).
Und hier noch ein Blick auf die
Berlin-Seite der
SZ.
FAZ, 09.08.2002
Paul Ingendaay
stellt ein in Spanien viel gelobtes Buch von
Javier Cercas vor, das jetzt auch auf Deutsch erschienen ist:
"Die Soldaten von Salamis". Cercas ezählt darin die Geschichte des Dichters und extremen Rechten
Rafael Sachez Mazas, der kurz vor Ende des spanischen Bürgerkriegs
von Republikanern erschossen werden sollte, aus unerfindlichen Gründen jedoch verschont wurde. Der Milizionär, der ihn erschießen sollte, drückte einfach nicht ab. Das Buch war sehr erfolgreich bei Lesern und Kritikern - womöglich wegen der "Art, wie die traumatische Erinnerung an den Spanischen Bürgerkrieg geweckt und im selben Zug
anästhesiert wird ... Und zeigt nicht die Geschichte des Rafael Sanchez Mazas, dass die
Opfer des Bürgerkriegs mal auf der einen, mal auf der anderen Seite zu finden waren? Es ist an diesem Punkt, dass Zeitgeschichte aufhört zu schmerzen und ins
wohlig Pittoreske abgleitet." Für Ingendaay zeigt der Erfolg dieses Buchs auch, dass die Literaturkritik - wie auch im Fall von Schlinks "Vorleser" und Grass' "Im Krebsgang" - nicht mehr nach literarischen Qualitäten sucht, sondern nur noch "Aussageabsichten" prüft.
Wer darf Besuchern die
Documenta erklären? Nur
offizielle Führer der Documenta,
berichtet tw. Kunstvereinsleiter, Museumsdirektoren, Professoren etc. dürfen es nicht, hat Bernd Leifeld, Geschäftsführer der Documenta, bestätigt. Für tw. ein Ärgernis: "Wer über die ganze Welt verteilt vier Diskussions-Plattformen abhält, auf der fünften aber vor allem das Echo der eigenen Stimme zu hören wünscht, an dessen Engagement für ein 'transdisziplinäres Handeln im globalen öffentlichen Raum' darf
gezweifelt werden."
Weitere Artikel: In der Reihe
"Lieber Lord Chandos" schreibt heute
James Salter. Peter Gorsen
beschreibt die Suche nach
Zukunftsstrategien des Modernen Museums in Wien, das jetzt mit der Schau "Fokus 01. Rebellion & Aufbruch. Kunst der 60er Jahre. Wiener Aktionismus, Fluxus, Nouveau Realisme, Pop Art" eröffnet hat. Jordan Mejias
meldet einen Akt
surrealer Buchhaltung bei der amerikanischen
Stammzellenforschung. C.B. gratuliert dem Kunsthistoriker
Lucius Grisebach zum Sechzigsten. Siegfried Stadler berichtet, dass in Halle
multisensuelles Design gelehrt wird. Auf der
Medienseite spottet Sandra Theiss über die
taz, weil sie die
Bild-Zeitung für ihre Berichterstattung über die Bonusmeilen-Affäre attackiert hat. Und auf der letzten Seite
schildert Dietmar Bartetzko das Elend der "Villa dei Papiri" in
Herculaneum, die langsam in ihrer Grube verfault.
Besprochen werden
Puccinis "Turandot", in Berios komplettierter Fassung, bei den
Salzburger Festspielen und
Sachbücher, darunter eine Geschichte der
Jeans (siehe auch unsere
Bücherschau heute ab 14 Uhr).