Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.08.2002. Wieviel verdankt Hitler den modernistischen Bewegungen in der Kunst, fragt die FAZ. FR und taz suchen die Frau im Wahlkampf und kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Die SZ sieht den "Notstand zum Hebel zivilisierter Normalität" werden. Für die NZZ hat er Deutchland sogar wiedervereinigt.

SZ, 21.08.2002

Lässt sich der Flut etwas Positives abgewinnen? Wohl kaum. Wolf Lepenies zieht aus der Opferbereitschaft, der Zivilcourage und dem unbändigen Willen der Betroffenen, sich nicht unterkriegen zu lassen, aber immerhin etwas wie Trost: "Vielleicht werden spätere Historiker zu Recht behaupten, die deutsche Einigung sei in der Regenkatastrophe dieses Jahres vollendet worden." Zynisch, meint er, wäre es, von einer neuen Funktion der Katastrophen in unserer Zeit zu sprechen. Dennoch erscheinen ihm solche Katastrophen als ebenso große wie paradoxe Herausforderung: "im Alltag mit friedlichen Mitteln und auf lange Frist jene Energie und Solidarität, jenen Einfallsreichtum und Zukunftswillen zu stärken, deren Freisetzung das große Unglück erst mit sich bringt. In diesem Sinn müsste die Ausnahme zur Regel werden, der Notstand zum Hebel zivilisierter Normalität."

Vor elf Jahren wurde der Putsch gegen Gorbatschow niedergeschlagen. Der Greenpeace-Atomexperte Tobias Münchmeyer, dem man sein Einreisevisum gesperrt hat, wirft einen Blick zurück auf Russlands schwer errungene Freiheit und deren allmähliches Verschwinden: "Mindestens einem Dutzend Menschen, vor allem Menschenrechtlern, Ökologen und Journalisten, die sich zu bestimmten politischen Themen in Russland kritisch äußern, wird inzwischen die Einreise nach Russland verweigert. Glasnost - so scheint es - wird im heutigen Russland immer perfekter simuliert und immer weniger praktiziert." Dazu passt auch eine Notiz, in der mitgeteilt wird, die kremltreue Jugendorganisation "Iduschije Wmestje", die in Moskau gegen Wladimir Sorokin prozessiere, habe noch weitere Autoren im Visier.

Weiteres: Sonja Zekri vermisst den schmalen Grat zwischen Mitleid und Marketing mit den Flutopfern. Petra Steinberger notiert, dass Amerikas Rechte ein Koran-Seminar der Chapel Hill Universität attackieren (und vor Gericht verlieren). Tobias Hürter berichtet von der Verleihung der Fields Medal (mehr hier), der höchsten Auszeichnung der Mathematik in Peking an Laurent Lafforgue und Vladimir Voevodsky (für den Beweis der so genannten Milnor-Vermutung und die bisher eindrucksvollste Bestätigung der Langlands'schen Prophezeihung!!). (Gerhard Matzig begutachtet das Porsche-Werk in Leipzig - ein weiteres Beispiel für "Carchitecture". Kristina Maidt-Zinke hört Musik der Ziffernmonomanin Hanne Darboven bei der Documenta 11 in Kassel. Wolfgang Rihm gratuliert dem geschätzten Komponistenkollegen Wilhelm Killmayer zum Fünfundsiebzigsten, und Gottfried Knapp schreibt zum Tod des großen baskischen Bildhauers Eduardo Chillida.

Besprochen werden die neue CD des norwegischen Jazz- und Dancefloor-Trompeters Nils Petter Molvaer ("Np3"), Silvio Soldinis Kinofilm "Brennen im Wind" (dazu gibt es auch ein kurzes Interview mit dem Regisseur), die "Danae" von Richard Strauss bei den Salzburger Festspielen und Bücher, darunter eine Studie über Kunstpolitik und Historienmalerei im Frankreich des 17. Jahrhunderts, eine andere Studie über die Herrscher- und Papstporträts Gianlorenzo Berninis sowie Nikola Anne Mehlhorns Erzählung "Sternwerdungssage" und Haruki Murakamis Roman "Tanz mit dem Schafsmann" (sämtlich auch in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FR, 21.08.2002

Noch nie waren Politikerinnen und Politikerfrauen so präsent wie gegenwärtig, meint Ursula März in einem Beitrag und illustriert das an Angela Merkel, an unserer Kanzlerdoris und der wundersamen Katherina Reiche sowie an der Kandidatengattin: "Man kann sich nicht erinnern, dass Loki Schmidts Rolle, Loki Schmidts heimlicher politischer Einfluss, Loki Schmidts potentielles politisches Können je zum Gegenstand des Rätselratens geworden wäre ... Wir wissen allerdings noch, dass Politikerinnen wie Hamm-Brücher damals die große Ausnahme waren und es in ihrer Zeit ein Erscheinungsbild gab, in dem sich der Konflikt von Macht und Weiblichkeit bewältigen ließ: Das Bild der Dame - eine Frauenrolle, die Stil und Inszenierung wie zugleich Wissen und Können verlangt. Mittlerweile haben Zeitgeist und Feminismus 'die Dame' diskreditiert, sind Weiblichkeitsstil und weibliche Funktionalität auseinander getreten. Die einen gehen stoisch mit Hosenanzügen durch die Welt. Die anderen machen Fototermine beim Rosenabschneiden und Eindruck mit ihrer Schwangerschaft."

Die Schriftstellerin Annett Gröschner ("Moskauer Eis") schickt einen Bericht von der Wasserfront am Magdeburger Werder: "Um 20 Uhr meldet das Radio: 'Die Evakuierung der ostelbischen Stadtbezirke findet vorerst nicht statt' ... Auf der Zollstraße rufen sich die Leute den neuen Pegelstand zu: 6,68 m. Zwei Zentimeter weniger als vor einer Stunde. Zwei Zentimeter, die für den Werder überlebenswichtig sind ... In der Nacht wird ein paar Kilometer weiter der Deich des Umflutkanals brechen. An einer Stelle, wo niemand damit gerechnet hat."

Außerdem besucht Karl Grobe das sibirische Dorf Owsjanka, wo der Schriftsteller Viktor Astafjew lebte und arbeitete. "Times mager" blättert in der Shell Jugendstudie und stellt fest: Alles so dröge wie immer (die Kids sind unideologisch und leistungsorientiert). Auf der documenta besieht sich Ina Hartwig die Ganzraumplüschinstallation "Articules-Desarticules" von Annette Messager, und Rolf Lauter liefert den Nachruf auf den spanischen Bildhauer Eduardo Chillida.

Besprechungen widmen sich der bei den Salzburger Festspielen neu entdeckten Strauss-Oper "Die Liebe der Danae" und Andi Rogenhagens Komödie "Die Frau, die an Dr. Fabian zweifelte" (mehr hier).

TAZ, 21.08.2002

Wo bleibt die Frau im Hochwassermassen- und im Wahlkampf? Marlene Streeruwitz hat sich das CDU-Regierungsprogramm angesehen und stellt fest: Der "Mensch" spielt die Hauptrolle. "Aber die CDU hat ja auch ein Menschenbild, und das hat ein C im Namen. Familie ist ja da, wo Kinder sind. Wie die da hinkommen, das wird in der Ehevorbereitung besprochen. Bei der CDU gibt es überhaupt nichts Weibliches im Programm. Es geht hier immer um den 'Menschen' ... Sprachpolitisch existieren bei der CDU jedenfalls nur der Mensch und alle männlichen Bezeichnungen. Das Weibliche ist in den männlichen Benennungen mit ausgedrückt. Ist dem Männlichen subsumiert." Genau wie die Frau dem Herrn Stoiber eben.

Aus aktuellem Anlass erinnert Ralph Bollmann an das große Beben von Lissabon 1755 und parallelisiert die damalige Zivilisationskritik, durch Rousseau etwa, einem heutigen Trend in der Umweltpolitik. Detlef Kuhlbrodt stellt Christoph Neumanns Alltagsreportagen aus Japan ("Darum nerven Japaner") vor (auch in unserer Bücherschau ab 14 Uhr), in der Jazzkolumne bringt Christian Broecking einen Seitenhieb gegen das Zeit-Feuilleton an, das mit Norah Jones und Diana Krall gern ein Fräuleinwunder im Jazz einleiten würde - viel zu spät leider (hier der Zeit-Artikel). Und Ulrich Clewing trauert um Eduardo Chillida, einen der wichtigsten Bildhauer unserer Zeit.

Schließlich TOM.

NZZ, 21.08.2002

"Die Jahrhundertflut hat das zusammengebracht, was zusammengehört, behauptet Sieglinde Geisel - Deutschland sei endlich wiedervereinigt. "Vor der Naturkatastrophe jedoch sind alle Menschen gleich. Sie hat etwas bewirkt, was tausend Appelle und Reden nicht geschafft haben: Die Westdeutschen erkennen sich in den Ostdeutschen wieder."

Matthias Bärmann schreibt den Nachruf auf den baskischen Bildhauer Eduardo Chillida (mehr zur Person hier, zur laufenden Ausstellung in Berlin hier), den am Montag verstorbenen Architekten der Leere. "Die Leere ist bei Chillida nicht Mangel, sondern Kraft. Zwischen Materie und Raum schließlich liegt ein Bereich des 'Zwischen', erscheint die Grenze als dynamischer Ort von Vermittlung und Begegnung schlechthin - der Ort von Chillidas Werk."

Weiteres: Marianne Zelger-Vogt rätselt bei den Salzburger Festspielen, ob die neuinszenierte "Liebe der Danae" von Richard Strauss, aufgeführt im Kleinen Festspielhaus, eher eine griechische Operette oder eine mythische Oper ist. Evelyne Polt-Heinzl bricht eine Lanze für den österreichischen Krimiautor Heinrich Steinfest, dessen "anspruchsvolle Vergnügungen" man nicht unbedingt bei seinem jetzigen Verlag Bastei-Lübbe vermuten würde. Ursula Seibold-Bultmann stellt uns den von Fürst Pückler gegründeten Park in Bad Muskau vor, und verweist gleich noch auf eine Ausstellung zur deutsch-polnischen Denkmalpflege am gleichen Ort. Und Marcus Stäbler porträtiert den eigenwilligen Komponisten Wilhelm Killmayer.

Besprechungen widmen sich einer Ausstellung der klassizistischen Möbel von Karl Friedrich Schinkel im Hamburger Jenisch Haus, Neuaufnahmen der Klaviersonate von Leopold Godowsky, eingespielt von Konstantin Scherbakow und Marc-Andre Hamelin, und natürlich Büchern, etwa Marc Blochs neu herausgegebene "Apologie der Geschichtswissenschaft" oder Herrmann Kants Rechtfertigungsroman "Okarina" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 21.08.2002

Eine interessante Diskussion in den USA greift Verena Lueken auf. Sie bezieht sich auf die Ausstellung "Prelude to a Nightmare" im Williamsburg College Museum of Art in Massachusetts, wo neben Gemälden von Klimt und Schiele auch zwei Aquarelle von Hitler zu sehen sind. Lueken zitiert den New-Yorker-Kritiker Peter Schjeldahl, der durch die Ausstellung den Blick auf die künstlerische Moderne verändert sieht: "Denn im Rückblick werde es immer schwieriger, die nationalsozialistische Ästhetik kategorisch von modernistischen Bewegungen vor allem in der Architektur und im Design - zum Beispiel aus dem Bauhaus - abzugrenzen. Ihre gemeinsamen Wurzeln lägen in der Wiener Avantgarde der Jahre vor dem ersten Weltkrieg, welche diese und eine Reihe anderer Ausstellungen in den Berkshires unter dem Oberbegriff 'Vienna Project' dokumentiert. Hitlers Aufstieg bleibe rätselhaft - etwas weniger mysteriös allerdings, wenn man ihn unter dem Gesichtspunkt betrachte, dass er mit der Fähigkeit des Künstlers zur Assimilation die Zeitströmungen seiner Epoche synthetisierte."

Siegfried Stadler zieht eine Schadensbilanz für die Dresdner Kunstsammlungen. Die Kunstwerke konnten weitgehend gerettet werden, die technischen Schäden am Zwinger aber sind katastrophal: "Dort ging nicht nur die Restaurierungswerkstatt komplett unter, die in der jetzigen Situation dringender denn je gebraucht würde, auch die gesamte technische Infrastruktur, angefangen von den Klimaanlagen über die Sicherheits- und Feuerlöschtechnik bis hin zur Heizung, existiert nur noch als Schrott und Sperrmüll. Hundert Millionen Mark flossen in den zurückliegenden zehn Jahren in die Modernisierung des Semperbaus." (Hier einige Informationen auf der Homepage der Sammlungen.)

Weitere Artikel: Gero von Randow und Ulf von Rauchhaupt stellen zwei junge Mathematiker vor, die gestern auf dem auf dem Weltkongress der International Mathematical Union in Peking die Fields-Medaille erhielten - es handelt sich um den 32 Jahre alten Laurent Lafforgue und seinen russischen Kollegen Wladimir Woewodski, die die klassische Zahlentheorie in Zusammenhang mit scheinbar weit entfernten Disziplinen wie der Analysis brachten. Barbara Catoir schreibt zum Tod des Skulpteurs Eduardo Chillida, und Walter Haubrich erinnert an das Hotel Niza in San Sebastian, das Chillida von seinen Eltern geerbt hatte und noch bewirtschaftete, als er längst ein berühmter Künstler war. Christian Schwägerl schreibt einen sehr kritischen Artikel über Greenpeace - die Organisation hat Länder wie Sambia und Zimbabwe dazu gebracht, Hilfslieferungen der USA für die hungernde Bevölkerung nicht zu akzeptieren, weil die Produkte zum Teil gentechnisch verändertes Getreide enthalten. Dieter Bartetzko feiert die Eröffnung des Porsche-Werks in Leipzig als "Hoffnungszeichen in Sachsens höchster Not". Joseph Croitoru berichtet von der Einweihung eines Mahnmals für den 11. September in Jerusalem. Reinhard Veser schreibt zum Tod des litauischen Schriftstellers Ricardas Gavelis, der im Alter von 51 Jahre starb. In der Glosse greift Florian Illies einen Brief von Doris Schröder-Köpf an Friede Springer auf - die Kanzlergattin beschwert sich darin über einen Bild-Artikel.

Auf der letzten Seite porträtiert Jürgen Otten den litauischen Komponisten Valentin Silvestrov, der von der Atonalität zur Dur-Moll-Tonalität zurückkehrte. Und Stephan Wackwitz beschreibt "jene Stimmung des öffentlichen Glücklichseins, die in Krakau herrscht, sobald Johannes Paul II. in der Stadt ist". Die Liebe der Polen ist für Wackwitz leicht verständlich: "Auch ganz ungläubige polnische Freunde sind Johannes Paul II. vor allem dankbar. Sie sind ihm dankbar dafür, dass er zu Beginn der achtziger Jahre - als viele im Westen noch von den Vorzügen und der historischen Unvermeidlichkeit des Sozialismus faselten - jeder und jedem, die dem Totalitarismus zum Opfer gefallen waren, die Gewissheit der eigenen Würde zurückgegeben hat und die erheiternde, den Brustkasten wie vor einem Lachanfall mit Leichtigkeit anfüllende Gewissheit, dass das graue und blutige Kasperletheater nicht mehr ewig dauern würde."

Auf der Medienseite unterhält sich Michael Hanfeld mit Thomas Bellut und und Nikolaus Brender vom ZDF, die sich gegen den Vorwurf ihres Ex-Kollegen Klaus Bresser wehren, dass die politischen Journalisten allzu eng mit den Politikern kuschelten. Hans-Dieter Seidel feiert die Schauspielerin Martine Gedeck. Und Stefan Niggemeier berichtet von der Telemesse.

Besprochen werden Lucrecias Martels argentinisches Kinodebüt "La Cienaga" (mehr hier) ("eines der erstaunlichsten Debüts im Weltkino der letzten Jahre", schreibt Bert Rebhandl in einer engagierten Kritik) und die Richard-Strauss-Oper "Die Liebe der Danae" in Salzburg.