Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.09.2002. In der SZ kritisiert Tariq Ali die Amerikaner (wen auch sonst?). In der taz kritisiert der Künstler Norbert Bisky die hemmungslose Arroganz des Westens (was auch sonst?). Mit der FR reisen wir in einen Iran, der heute lieber wieder Popmusik hört. Die NZZ diskutiert über das Ende des klassischen Kriegs. Die FAZ und die SZ bilanzieren die morgen schließende Documenta.

SZ, 14.09.2002

Tariq Ali lässt ein Jahr Krieg gegen den Terror Revue passieren und fragt sich immer noch, was sich die Bush-Regierung wirklich davon verspricht. Noch mehr Macht etwa? "Einige von Bushs Ideologen in den Medien vergleichen Washington inzwischen mit dem alten Rom. Eine verzeihliche Phantasie, aber diejenigen, die ihr nachhängen, sollten sich klar machen, (a) dass die Römer nie erwartet haben, von den anderen geliebt zu werden, und (b) dass auch Rom unterging."

In einer Rede, die der bosnische Schriftsteller Dzevad Karahasan in Berlin gehalten hat und die die SZ nun leicht gekürzt abdruckt, wehrt dieser sich vehement gegen den von Samuel Huntington geprägten Begriff vom "Kampf der Kulturen". Vielmehr ist "ein universeller, allgemeinmenschlicher Kern allen Kulturen gemeinsam, daher ist der Raum, in dem sich die Kulturen überlagern, relativ weit. Und daher ist der Kampf der Kulturen logisch unmöglich - es müsste darin jede Kultur gegen einen Teil ihrer selbst kämpfen. Die Kreuzzüge waren kein Kampf des Islams und des Christentums als Kulturen, sondern ein Kampf politischer Programme, die sich auf diese Kulturen beriefen", meint Karahasan.

Die elfte Documenta geht zu Ende, und die SZ verabschiedet sie mit einem wahren Artikelreigen: Holger Liebs zeigt sich in seiner Bilanz erleichtert: Die fünfte Plattform war gar nicht so mausgrau wie befürchtet, sondern mutete eher wie ein "alternatives Reisebüro" an, das künstlerische Streifzüge durch die Krisengebiete des Erdballs anbot. Es folgt ein Gespräch mit Thomas Hirschhorn über sein "Bataille-Monument" in der Kasseler Arbeitervorstadt. Abgerundet wird die Documenta Retrospektive durch eine Flut an Kurzkommentaren von Kunsthistorikern, Ausstellungsmachern und Künstlern, als da wären: Peter Weibel, Joachim Bessing, Julian Nida-Rümelin, Rosemarie Trockel, Christian Boros, Roger Willemsen, Marcel Odenbach, Adrian Searle, Kasper König, Wieland Schmied, Klaus Biesenbach, Nicolas Schafhausen, Tom Holert, Maria Lind und last not least David Wagner.

Weitere Artikel: Guido Knapp erinnert daran, wie die selben Politiker, die der neuen Pinakothek der Moderne jahrelang Steine in den Weg gelegt haben, sich jetzt im Glanz des Kunsttempels sonnen. Andrian Kreye ärgert sich über die fortgesetzte Weigerung der USA, einen Internationalen Gerichtshof anzuerkennen. Henning Klüver schildert den Protest italienischer Künstler gegen Berlusconis Justizpolitik, während Bernd Graff die neuen angeblich intelligenten Computer immer noch geistlos findet. Fritz Göttler stellt Robert de Niros Tribeca Film Institute vor, das speziell nach Drehbüchern sucht, die von Wissenschaftlern, Mathematikern oder Ingenieuren erzählen.

Besprochen werden Nikolai Erdmans Farce "Der Selbstmörder" in der Inszenierung von Tom Kühnel am Frankfurter TAT, Eike Besudens und Pago Balkes Road-Movie "Verrückt nach Paris", Luke Smalleys Fotoband "Gymnasium" und Stanley Cavells Essayband "Die andere Stimme" (mehr in unserer Bücherschau Sonntag ab 11 Uhr).

In der SZ am Wochenende warnt Tom Schimmeck uns schließlich noch eindringlich vor der gelben Gefahr, der FDP, denn "diese Partei treibt es mit jedem". Und Stefan Lieser porträtiert den Franziskanerpater Gereon Goldmann, der seine Karriere in der Waffen-SS begann und nun als Heiliger für Japans Arme Millionen sammelt.

FR, 14.09.2002

Zunächst das Magazin: Von Gastfreundschaft, Offenheit und vielen Einladungen erzählt Ariane Bertsch in ihrem lesenswerten Iran-Reisebericht. Denn viele Iraner scheren sich schon lange nicht mehr um die strengen Benimmregeln, die einst Khomeini eingeführt hat. "Der Taxifahrer schiebt eine Kassette in den Rekorder. Orient-Pop. Er dreht sich um, lächelt scheu: 'Good music, eh?' Er tippt auf seine Zigarettenschachtel, dann dreht er sich um und streckt die Hand aus. Zigaretten, Popmusik, Händedruck - dies alles einer Frau anzubieten, gilt als ungehörig."

Susanne Härpfer berichtet von ihrem Treffen mit dem erfolgreichen russsichen Erfinder Michail Kalashnikov (mehr hier), der ihr erzählt hat, wer eigentlich für die erfolgreichste Waffe der Moderne verantwortlich ist - natürlich wir. "Warum die Deutschen? Nun, die besaßen im Zweiten Weltkrieg Maschinengewehre, die Russen nicht. Und Kalashnikov, ein kleiner Mechaniker und Soldat, wollte eben sein Land verteidigen. Motiv: Vaterlandsliebe. So machte er eine Erfindung, die das Töten leichter machte, und die weltweit Verbreitung fand."

Ansonsten warnt uns unter anderem Tom Hanks vor dem Zwang, immer und überall perfekt sein zu wollen, Modedesignerin Britta Steilmann packt aus über ihre Zeit als Polit-Beraterin von Rudolf Scharping, und Stefan Behr präsentiert uns sein Medien-Protokoll des 11. September - 2002.

Nun zum Feuilleton: Martin Mosebach untersucht in einem Essay (der auch im neuen Kursbuch erschienen ist) sein Verhältnis zur Religion. Ulrich Holbein vergleicht Saddam mit der Bärenklaupflanze - beide sind hartnäckig und schwer auszurotten. Michael Kohler schreibt von einer Tagung in Essen, auf der Humanwissenschaftler der Frage nachgingen, was den Menschen nun eigentlich ausmacht. Elke Buhr begutachtet Udo Kittelmanns Neupräsentation der Sammlung im Frankfurter Museum für Moderne Kunst. Renee Zucker rät zu ausgiebigem Telefonieren als Konjunkturhilfe. Stefan Keim meldet, dass die Städtischen Bühnen in Münster aus Geldmangel wohl bald einige Sparten schließen müssen. Und schließlich gibt es eine Leseprobe aus Georg Kleins demnächst erscheinenden Band "Von den Deutschen".

Besprochen wird Nikolai Erdmanns Stück "Selbstmörder" am Frankfurter TAT, weiter zwei neue Filme, nämlich Oliver Parkers Oscar-Wilde-Verfilmung "Ernst sein ist alles" und Andre Techines Film "Weit weg", und natürlich Bücher, darunter Ivan Cankars autobiografische Erzählungen "Der Sünder Lenart", Hajime Satawaris Fotoband "60s" über die sechziger Jahre in Japan und Michael G. Fritz' Roman "Rosa und die Liebe zu den Fischen" (mehr in unserer Bücherschau Sonntag ab 11 Uhr).

TAZ, 14.09.2002

Kolja Mensing hat sich ins Feindesland gewagt, ins tiefbayerische Wolfratshausen, um herauszufinden, ob die Zukunft Deutschlands wirklich in der Provinz liegt, wie der Kanzlerkandidat verlauten lässt. Der Reporter zeigt sich unbeeindruckt: "Auch wenn Edmund Stoiber nun an den Gründergeist der Bundesrepublik appelliert: Die glänzende Oberfläche der Provinz, in der sich früher einmal die Zukunft Deutschlands spiegeln sollte, ist stumpf geworden. Hier trägt man Jogginganzüge statt Business Suits, und statt Existenzgründerdarlehen zu beantragen, führt man lieber seinen Kampfhund spazieren."

Harald Fricke beschreibt verwundert, wie das US-State-Department sich in die Auswahl der Bilder und Modelle für den amerikanischen Pavillon auf der Architektur-Biennale in Venedig eingemischt hat. Für den patriotischen Zweck werden auch drastische Mittel nicht gescheut: "Vor dem Gebäude liegt ein vier Meter langes Stück Stahl aus dem 80. Stockwerk des WTC, das extra für die Biennale eingeflogen wurde. Es soll die Wirklichkeit von New York den Besuchern in Venedig nahe bringen."

Besprochen wird ein Band des französischen Philosophen und Sinologen Francois Jullien "Der Umweg über China" (mehr in unserer Bücherschau sonntags ab 11 Uhr).

Im taz-magazin unterhält sich Nike Breyer mit dem umstrittenen Pop-Art-Künstler Norbert Bisky (hier ein paar Bilder) über schöne, gesunde Körper, Leni Riefenstahl und - wie sollte es anders sein? - den 11.September. "Ich glaube, da passieren zwei ganz fatale Sachen. Das eine ist, dass seitdem in der Kunst wieder ein Trend zu moralischer Aussage- und Bekenntniskunst spürbar wird. Da artikulieren sich übelste Lemuren, die direkt dem Sozialistischen Realismus entstiegen sein könnten. (...) Das andere ist: Ich entstamme ja nun nicht hundertprozentig diesem Kulturkreis. Bin durch meine Herkunft auch ein bisschen fremd hier. Und das ist gut. Das ermöglicht mir, diese hemmungslose Arroganz, mit der eine bestimmte Form von Zivilisation der restlichen Welt gegenübertritt, stärker zu fühlen."

Außerdem: Ulrike Winkelmann denkt über den Erfolg des Rechtspopulisten Ronald Schill nach. Barbara Bollwahn de Paez Casanova porträtiert einen Simulanten, der sich anderthalb Jahre lang in Kliniken kreuz und quer durch Nordrhein-Westfalen als Patient aufnehmen ließ - ohne wirklich krank zu sein. Und Heide Oestreich empört sich darüber, dass den Film "Ainsi va la vie", der die brutale Beschneidung afrikanischer Mädchen dokumentiert, in Deutschland niemand zeigen will. Die taz zeigt den Film trotzdem, einmalig, in einem Kino in Berlin.

Hingewiesen sei schließlich noch auf ein Spezial, in dem es um Berufsperspektiven inmitten der allgegenwärtigen Arbeitslosigkeit geht.

Und Tom.

NZZ, 14.09.2002

Peter Hagmann liefert einen begeisterten Bericht über die Pierre-Boulez-Konzerte beim Lucerne Musikfestival, wo der Komponist selbst als "Composer in Residence" zugegen war: "Ja, er wolle durchaus verführen, sagt Boulez: durch den Witz des Einfalls, durch Schönheit auch. Je älter der Komponist wird und je weiter er sich von den kämpferischen Anfängen der fünfziger Jahre entfernt, desto deutlicher wird, in welchem Maß seine Musik vom sinnlichen Reiz des Klangs lebt."

Weitere Artikel: Uwe Justus berichtet über das Essener Symposion über Philosophie und Naturwissenschaften. Andrea Köhler macht sich Nachgedanken zum Jahrestag des 11. September in New York. Besprochen werden ein Konzert des Philharmonia Orchestra London unter Christoph von Dohnanyi in Luzern, der Dokumentarfilm "Marlene Dietrich: Her Own Song" und einige Bücher, darunter Paul Nizons Journal aus den Jahren 1961 bis 1972 und ein Buch über den brasilianischen Architekten Paulo Mendes da Rocha (siehe unsere Bücherschau morgen ab 11 Uhr).

Krieg und Architektur bilden die Schwerpunkte von Literatur und Kunst.

Der Politologe Herfried Münkler (mehr hier) denkt über das Ende des "klassischen" Krieges nach. "Davon, dass die Staaten die legitimen wie faktischen Monopolisten des Krieges sind, wie dies in Europa von der Mitte des 17. bis ins 20. Jahrhundert der Fall war, kann keine Rede mehr sein. Der Krieg hat sich seiner Fesselungen an die Staatlichkeit, die ihm völkerrechtlich mit dem Westfälischen Frieden angelegt worden sind, entledigt, er hat sich entstaatlicht, um nicht zu sagen privatisiert." Den Westfälischen Friede als Modell einer Friedensordnung untersucht zugleich der ehemalige Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde. Uwe Justus Wenzel bespricht in diesem Zusammenhang ferner Ulrich K. Preuß' Buch "Krieg, Verbrechen, Blasphemie".

Die Architektur-Artikel stehen im Kontext mit der Architektur-Biennale in Venedig. Roman Hollenstein unternimmt einen ausführlichen Rundgang durch die Schau. Markus Jakob beschreibt die Präsenz der Stadt Barcelona in Venedig, die hier unter anderem mit Projekten von Chipperfield, Herzog & de Meuron, Nouvel und Perrault vertreten ist. Und Hubertus Adam stellt das mexikanische Cultural Center Guadalajara vor, ein riesiges Kongresszentrum, das sich ebenfalls in Venedig präsentiert.

Zuguterletzt würdigt Carl Wilhelm Macke den Drehbuchschreiber Cesare Zavattini, der in diesen Tagen hundert Jahre alt würde.

FAZ, 14.09.2002

Thomas Wagner resümiert die Documenta 11, die morgen schließt, und macht auch eine Anmerkung zu ihrer Größe: "Es war zeitweise sehr voll in Kassel, zu voll. Wenn sich die Besucher scharenweise durch die Säle und Raumlabyrinthe schoben, dann war dies kein Ort mehr, an dem Kunst angemessen rezipiert werden konnte." Auch Niklas Maak bilanziert: Es kamen mehr Kunstinteressierte denn je, der Altersdurchschnitt verringerte sich und die Utopie kam zurück: "Die Documenta 11 ist geradezu konservativ, was ihre Rückbesinnung auf das Humane betrifft. Sie ist das vorläufige Ende einer Kunst, die sich damit begnügte, die Kühle der Gesellschaft in frostigen Gewaltexzessen abzubilden. Keine lustvoll gemarterten Körper, keine schreienden Köpfe, keine zersägten Kühe begegnen dem Besucher in Kassel; An die Stelle eines elegischen Nihilismus tritt die Renaissance der Utopie - nicht als heiter-naives Märchenbild versprengter Spätmarxisten, sondern als paradoxes, nie erreichbares, aber notwendiges Ideal."

Der konservative amerikanische Historiker Paul W. Schroeder (mehr hier) plädiert in einer scharfen Polemik gegen einen Präventivkrieg gegen den Irak. "Die neue Bush-Doktrin ist im strengen und objektiven Sinn des Wortes imperialistisch. Sie beansprucht für die Vereinigten Staaten einseitig das Recht, für zahlreiche Länder der restlichen Welt über vitalste Fragen nationaler Interessen, der Sicherheit und der Stellung innerhalb des internationalen Systems zu bestimmen. Sie lädt andere Staaten zur Nachahmung ein, und sie wird solche Nachahmer finden. Dadurch ließe sich dann nahezu jeder kriegerische Angriff eines Staates auf einen anderen rechtfertigen. Sie ist ein Verrat an der amerikanischen Ideologie..."

Weitere Artikel: Joseph Croitoru liest arabische Zeitungen, die in den meisten Fällen die USA für den 11. September verantwortlich machen. Zeitschriften Christian Geyer resümiert ein Essener Symposion über das Verhältnis von Philosophie und Naturwissenschaft, an dem unter anderen Jürgen Habermas und Richard Rorty teilnahmen. In einer Meldung lesen wir, dass die Zahl der Aussteller auf der Frankfurter Buchmesse sinkt. Eine weitere Meldung unterrichtet uns, dass die Stadt Münster drastische Einsparungen in ihrem Theater plant (was nichts gegen Berlin ist, wo der Finanzsenator nun doch eine Oper schließen will, wie der Tagesspiegel berichtet). Joseph Croitoru berichtet über einen Streit um das geplante Museum der Toleranz in Israel. In der Glosse auf Seite 1 setzt sich "Si." kritisch mit dem neuen Merkur-Heft über das Lachen auseinander.

Besprochen werden Nikolai Erdmanns Stück "Selbstmörder" im Frankfurter TAT, Oliver Parkers Wilde-Verfilmung "Ernst sein ist alles" und eine Ausstellung der spätgotischen Meister Syrlin und Erhart in Ulm (hier ein fantastisches Bild). Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht es um zwei neue CDs von Frank Black (ehemals Pixies), um Daniel Barenboims Einspielung von Wilhelm Furtwänglers Zweiter Sinfonie, um eine CD des britischen Elektronik-Duos Underworld, um eine CD von Kimya Dawson und um Jubiläums-CDs des Labels ECM.

In den Ruinen von Bilder und Zeiten schreibt Jürgen Kaube zum hundertsten Geburtstag des Juristen Ernst Forsthoff. Und Dietmar Dath versucht allen Ernstes, den Geist des Pop aus den Traumata des Ersten Weltkriegs herzuleiten.

In der Frankfurter Anthologie stellt Ruth Klüger ein Heine-Gedicht vor - "Babylonische Sorgen":

Mich ruft der Tod - Ich wollt, o Süße,
Daß ich dich in einem Wald verließe,
In einem jener Tannenforsten,
Wo Wölfe heulen, Geier horsten
Und schrecklich grunzt die wilde Sau,
Des blonden Ebers Ehefrau...."