Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.09.2002. Die FAZ hat eine Schauspielerin entdeckt. Sandra Hüller heißt sie, und "es ist dieser Julia heilig-nüchterner Ernst mit der Liebe". Die NZZ fragt ernst: Warum betrachtet sich Weimar nicht als Bach-Stadt? Die SZ findet: Mit der Pinakothek der Moderne ist München besser als Berlin und eigentlich nur noch mit Paris, London etc. zu vergleichen. Die taz, die FR und alle anderen resümieren den Historikertag in Halle.

FAZ, 16.09.2002

Der größte Sprengstoff steckt in einer Meldung auf Seite 1: Angeblich will der Berliner Finanzsenator Abermillionen bei Kultur und Wissenschaft einsparen: Allein "der Opernetat wird um knapp sechzig Millionen Euro jährlich schrumpfen, wonach mindestens ein Haus dichtmachen müsste." Wir sind gespannt auf die Reaktionen. Wir verlinken auch auf einen Kommentar im Tagesspiegel.

Aber dann das Erfreuliche. Martin Halter war in Basel, wo er Sebastian Nüblings "Romeo-und-Julia"-Inszenierung gesehen hat. Und er hat eine neue Schauspielerin entdeckt, Sandra Hüller, neu im Basler Ensemble, als Julia: "Wenn sie, barfuß und breitbeinig im weißen Ballettröckchen, von ihrer Liebe spricht, ein ungeduldiges 'Oh Mann!' oder 'Ach, Papa!' in die alten Blankverse einflechtend, scheint sie innerlich zu kichern und jeden Augenblick losprusten zu wollen: So redet heute doch niemand mehr! Wahrscheinlich kann sie nicht einmal Nachtigallen- von Lerchengesang unterscheiden. Aber es ist dieser Julia heilig-nüchterner Ernst mit der Liebe, und jedes Wort, mit dem sie den Geliebten streichelt, ist so frisch wie am ersten Tag."

Eduard Beacamp begrüßt die Eröffnung der Pinakothek der Moderne in München: "Die Sammlung ist reich und wechselvoll, doch mit absoluten Spitzenwerken nicht allzu gut bestückt." Johan Schloemann resümiert den Historikertag in Halle. Jordan Mejias berichtet über den triumphalen Enpfang, der der Amerika-Kritikerin Arundhati Roy (mehr hier und hier und hier) bei einer Rede vor Studenten in New York bereitet wurde (und wenn wir als nächstes über den triumphalen Empfang eines Islamkritikers in Mekka lesen, ist die Welt wieder in Ordnung). Chal. hat einer Frankfurter Podiumsdiskussion über "Alte und neue Biopolitik" mit den Historikern Götz Aly und Philipp Sarasin zugehört. Andreas Rossmann berichtet von der Eröffnung des neuen Konzerthauses in Dortmund. Tilman Spreckelsen besuchte eine Lesung Peter Esterhazys in Frankfurt, der den in Deutschland gerade erst übersetzten Jugendroman "Fancsiko und Pinta", ein "faszinierendes Seitenstück" zu seiner "Harmonia Caelestis" vorstellte. Andreas Rosenfelder begleitet für die Wahlkampfserie "Im Milieu" Jürgen Trittin nach Köln.

Auf der letzten Seite berichtet Dietmar Polaczek über die von Nanni Moretti organisierte Riesendemo gegen Berlusconi in Rom: "Von einer Million Teilnehmern sprachen euphorisch die Organisatoren, von fünfhunderttausend die ersten neutralen Schätzungen, von zweihundertfünfzigtausend Roms Stadtpolizei, auf nur unbedeutende hundertachtzigtausend kam der gestrenge zählende Blick der Quästur, die Berlusconis Innenminister untersteht." Andreas Rossmann fürchtet, dass Karlsruhes Botanischer Garten von der Erweiterung des Bundesverfassungsgerichts bedroht sei. Und Felicitas von Lovenberg stellt den britischen Komiker Ali G. vor, der zur Zeit auch in dem Film "Ali G. in da House" zu besichtigen ist. Auf der Medienseite porträtiert Heike Hupertz den Schauspieler, Drehbuchschreiber ("Good Will Hunting" und Medienunternehmer (Live Planet) Ben Affleck. Und Zhou Derong berichtet von einem "Anti-Subversions-Gesetz", mit dem Hongkong engeren Anschluss an die Zensur in China sucht.

Besprochen werden die beiden deutschen Filmkomödien "Wie die Karnickel" (mehr hier) und "Verrückt nach Paris" (mehr hier), Ibsens "Nora" am Hamburger Thalia und eine Berliner Konzertreihe zum 100. Geburtstag des Komponisten Stefan Wolpe (dessen voltenreiche Biografie und übervirtuose Musik Stephan Mösch eindringlich schildert).

NZZ, 16.09.2002

Dass Weimar neben den geläufigen Dichtergrößen auch auf ein musikalisches Erbe zurückblicken kann und diese Tatsache niemand so richtig wahrnimmt, erstaunt Sieglinde Geisel. "Bei so viel Literatur hat die Musik das Nachsehen: Nur Weimar verzichtet auf das Etikett 'Bach-Stadt' obwohl Bach hier von 1708 bis 1717 den ersten wichtigen Abschnitt seiner Laufbahn verbrachte. Der wenig aussagekräftige Bach-Saal im Stadtmuseum ist das Einzige, was heute an das Bach-Jahrzehnt erinnert." Erst in letzter Zeit wurde die musikalische Seite der Klassikerstadt aufgegriffen, zum Beispiel in Gestalt eines Lisztmuseums oder durch den Ausbau des Fachs Musikwissenschaft in der hiesigen Hochschule.

Die Pinakothek der Moderne wird heute in München erstmals ihre Tore öffnen, wie Birgit Sonna berichtet. "Diese neue Institution erweitert die angrenzenden Sammlungen der Alten und der Neuen Pinakothek zu einem einzigartigen Museumskomplex, der Kunstwerke vom späten Mittelalter bis zur Gegenwart umfasst. Dieser größte Museumsneubau Deutschlands bedeutet für die Bayrischen Staatsgemäldesammlungen auch, dass Moderne und Gegenwart nun endlich in das Angebot mit eingeschlossen werden können." Die Einrichtung temporärer Ausstellungen ist vorerst nicht angedacht. Die Sammlung wird Werke der Moderne ab dem Jahr 1980 umfassen.

Weitere Themen: Beatrice von Matt führt uns in die Expo-Ausstellung über die Schweiz, die sich mit der Frage "nach den Möglichkeiten der Übersetzung der Schweiz in Literatur" befasst: "Wie verfahren etwa Keller, Hürlimann, Schweikert, wenn sie das Land mit ihren Mitteln ausstellen?" Besprochen werden unter anderem das Stück "Der Rosenkavalier" von Richard Strauss, das Marianne Zelger-Vogt zufolge auf "glanzvolle" Weise die Spielzeit im Theater Sankt Gallen einläutete, die Aufführung von Richard Wagners "Tannhäuser" in Basel und das dreitägige Architektursymposium in Pontresina. Christoph Jahr erstattet Bericht vom "routiniert abgewickelten" 44. Deutschen Historikertag in Halle.

FR, 16.09.2002

Ulrich Speck berichtet vom zu Ende gegangenen Historikertag in Halle. Die Veranstaltung unter dem Motto "Visionen und Traditionen" zeigte seiner Ansicht nach allerdings vor allem die allgemeinen "Orientierungslosigkeit" der Disziplin. "So war der Mehrzahl der Sektionen das Bemühen anzumerken, sich an aktuelle Diskurse anzukoppeln: Migration, Globalisierung, Zivilgesellschaft, Europa, Sozialstaat - kaum ein 'anschlussfähiges' Stichwort fehlte, vor allem in der diesmal das Programm dominierenden Zeitgeschichte. Anschluss auch in sprachlicher Hinsicht: Unübersehbar war das Bemühen, Wissenschaftsjargon zu vermeiden. 'Sind Priester Männer?' - mit diesem Titel dürfte der einstweilige Höhepunkt der Verpoppung des Faches erreicht sein."

Weitere Themen: Peter Iden analysiert anlässlich der Eröffnung der Münchner Pinakothek der Moderne die Stärken und Schwächen der bayrischen Sammlungen, und in der Kolumne Times mager staunt RuW über die in der Schweiz allen Ernstes beschlossenen Promotion, vulgo: Umbenennung des Lehrers in einen "Kulturwirt". Besprochen wird schließlich noch die Uraufführung der "Hollywood-Elegien" des Punkmusikers Schorsch Kamerun auf der Ruhr-Triennale (mehr hier) in Essen.

TAZ, 16.09.2002

Auch die taz resümiert ausführlich den Historikertag in Halle. Hier konstatiert Ralph Bollmann die offenbar gelungenen Bemühungen der "Geschichtsforscher, ihre Kompetenz vor der Öffentlichkeit zu verbergen". Gleich eingangs geht er auf eine sträflich verpasste Chance ein: "Die Historiker hätten es nicht besser treffen können. Ihr großer Fachkongress, der nur alle zwei Jahre stattfindet und daher lange vor dem 11. September 2001 geplant war, fiel just auf den ersten Jahrestag des weltgeschichtlichen Ereignisses. Ein ganzes Jahr lang hatten die Historiker also Zeit, um ihre geballte Kompetenz in Fragen von kulturellem Austausch und militärischem Konflikt unter Beweis zu stellen, ihren Sachverstand zu Amerika, Nahost oder Islam zu demonstrieren. Welch eine schöne Gelegenheit, der Öffentlichkeit (...) zu zeigen: Seht her, ihr braucht uns, wir sind wichtig! Nicht aus Nachlässigkeit, sondern aus bewusstem Trotz haben die deutschen Historiker diese Chance ausgeschlagen. Ihr Verbandspräsident Manfred Hildermeier erklärte auf dem Kongress in Halle, die Geschichtswissenschaft sei 'nicht primär berufen', sich mit den Ursachen und Folgen des 11. September zu beschäftigen."

Weiteres: Kolja Mensing liefert einen Halbzeitbericht vom zweiten Internationalen Literaturfestival (mehr hier) in Berlin. Susanne Messmer stellt in der Reihe "personal der wahl" den hessischen Leberwurst-in-der-Aktentasche-Träger Hans Eichel vor. Jenni Zylka bespricht ein Berliner Konzert und eine neue CD von Lee Hazlewood. Und auf der Medienseite schreibt Steffen Grimberg anlässlich des 90ten Geburtstags der ehemaligen Ufa-Studios in Babelsberg eine Art Abgesang auf den traditionsreichen Produktionsort.

Und hier TOM.

SZ, 16.09.2002

Einen hübschen Strauß hat die SZ heute zur Eröffnung der Münchner Pinakothek der Moderne gebunden. Gottfried Knapp feiert ein Ereignis, "das die bayerische Kunst- und Museumsstadt im nationalen Rahmen fast uneinholbar weit nach vorn und den vier Museums-Metropolen Paris, London, Berlin und New York ein gutes Stück näher bringt. Es fehlt nur noch das griffige Wort, das die Situation und den Rang des geschaffenen neuen Museumsverbands eingängig umschreibt." Knapp schlägt "Museums-Karree" vor.

Christoph Wiedemann rühmt den "überraschend mäzenatischem Bürgersinn" der Süddeutschen, ohne deren "herausragende Schenkungen" es wenig auszustellen gäbe. "Und letztendlich wäre das neue Museum selbst nicht einmal gebaut worden, hätte nicht die 'Stiftung Pinakothek der Moderne' fast 13 Millionen Euro Zuschuss zu den Baukosten gesammelt." Dorothee Müller erzählt die Geschichte der Pinakotheken. Gerhard Matzig beschreibt die Konkurrenz zwischen Architekten und Künstlern und schickt ein Lob an Stephan Braunfels, dem es "gelungen ist, ein Museum zu erbauen, das die nur 'dienenden' und die nur 'spektakulären' Kunsthäuser als Museen einer vergangenen Epoche erscheinen lässt". Vorgestellt werden in kurzen Porträts die wichtigsten Mitarbeiter der Pinakothek: Florian Hufnagl, Carla Schulz-Hoffmann, Winfried Nerdinger, Michael Semff, Reinhold Baumstark und die wichtigsten Sammlungen: Die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, die Neue Sammlung, die Architektursammlung und die Staatliche Graphische Sammlung. Lothar Müller schließlich sinkt auf den "Ort von Euphorie und Erschöpfung" - die Sitzbank.

Weitere Artikel: Geldmangel, Überalterung der Professoren, 11. September - den Deutschen Historikertag focht das nicht an, berichtet Frank Ebbinghaus: "Er verwahrte sich gegen alle Zumutungen und schwang sich zur erhabenen Routine einer weitgehend konfliktfreien Fachtagung auf." Eine Woche vor der Wahl lässt die SZ einige Minister Revue passieren: Den Anfang macht heute Umweltminister Jürgen Trittin, dem Gustav Seibt ein kleines Loblied singt. Alexander Kissler bereitet sich innerlich auf die "kommende Gerontokratie" vor: "Milde lächelnd wird die Gesellschaft den Junioren als einer schrulligen Normabweichung begegnen." Willi Winkler berichtet über die Schließung von Adolf Hitlers Männerwohnheim in Wien. Und Harald Eggebrecht meldet, dass Christian Thielemann, der ab 2004 die Münchner Philharmoniker übernehmen soll, nur die Hälfte der Levine-Bezüge erhalten soll.

Besprochen werden Bücher, darunter Navid Kermanis "Buch der von Neil Young Getöteten" und Rüdiger Bubners Studie "Polis und Staat" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).