Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.09.2002. Die SZ startet eine Reihe über die "neuen Führer" in Europa: Den Anfang macht Jörg Haider. Die NZZ fragt, wie es Gerhard Schröder mit den Intellektuellen hält. In der taz entdeckt Diedrich Diederichsen nach der Arbeit nun das Leben. In der FR beklagt Bernd Greiner dass innige Verhältnis von Macht und Medien in den USA. Die FAZ entdeckt die Schönheit abgesaugten Fetts.

SZ, 18.09.2002

Alex Rühle kündigt eine Serie an, in der die "neuen Führer" vorgestellt werden, "die in Europa seit etwa zehn Jahren das politische Klima mitverändert haben; vielleicht ergibt sich aus der Überblendung so unterschiedlicher Figuren wie Jörg Haider oder Jose Maria Aznar, aber auch einiger aus linken Parteien stammenden Ministerpräsidenten wie Tony Blair oder Göran Persson eine Physiognomie des zeitgemäßen Populisten."

Den Anfang macht Karl-Markus Gauß, der Jörg Haider als einen Mann porträtiert, der die auch von anderen Parteien zum Teil als notwendig angesehenen Pillen in schmackhafter Form verabreichen kann: "Es ist das Kennzeichen des österreichischen Populismus, dass er den Neoliberalismus zugleich kritisiert und ihn unterstützt. Haiders FPÖ hat sich immer als Bewegung der kleinen Leute präsentiert, die sie niemals war. In der Regierung hat die FPÖ eine Politik betrieben, die mit den so genannten Werten der Europäischen Union, mit wirtschaftsliberaler Modernisierung und Sozialabbau zu Zwecken der Budgetsanierung kompatibel war. Nur durfte das keiner merken. Und der geeignete Mann, die Leute darüber hinwegzutäuschen, was wirklich geschah, war Jörg Haider; jener Mann, der sich mit den Insignien von Reichtum umgibt und zugleich erfolgreich den Robin Hood spielte, der den Enterbten zu ihrem Recht verhalf."

Weitere Artikel: Willi Winkler porträtiert Joschka Fischer. Sonja Zekri berichtet über den fragwürdigen Prozess gegen den Schriftsteller Eduard Limonow, Gründer der radikalen "Nationalbolschewistischen Partei", der in Russland wegen der Planung von Terroranschlägen vor Gericht steht. Alexander Kissler hat zugehört, wie beim 6. "Philosophicum" in Lech der "Medienkanzler" kritisiert wurde. Im Interview erklärt Sylvia Schoske, Leiterin des Ägyptischen Museums in München, warum die Roboter-Erkundung eines schon seit 1993 bekannten Schachtes in der Cheops-Pyramide "eine aufgebauschte Sache um Nichts" war (mehr dazu auch auf der Seite 3 der SZ). Jonathan Fischer stellt das amerikanische Fat-Possum-Label vor und dessen Chef Matthew Johnson, einen "grauhaarigen Hünen", der "mit den blutunterlaufenen Augen den Urzustand einer einst zu Recht mit dem Teufel assoziierten Musik" verkörpert: "roh, gewalttätig, unberechenbar". Kristina Maidt-Zinke berichtet über eine Tagung der Hugo von Hofmannsthal-Gesellschaft. Und Fritz Göttler gratuliert dem "filmischen Weltfahrer und Forums-Chef Ulrich Gregor" zum siebzigsten Geburtstag.

Besprochen werden Michael Apteds Film "Genug" mit Jennifer Lopez, eine "Romeo und Julia"-Aufführung in der Inszenierung von Sebastian Nübling am Theater Basel, Barry Adamsons Klangfilm "King of Nothing Hill", Aufführungen von Händels "Il Trionfo del Tempo e del Disinganno" und Gerald Barrys "The Triumph of Beauty and Deceit" bei den Berliner Festwochen, CDs von Gordon Gano, Mamani Keita und Tuxedomoon und Bücher, darunter Ian McEwans Roman "Abbitte" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 18.09.2002

Wie hält er?s der deutsche Kanzler mit Künstlern und Intellektuellen, fragt Sieglinde Geisel. Sie hat bei Autoren nachgefragt, die sich öfter mit Gerhard Schröder getroffen haben und allesamt sein ernsthaftes Interesse preisen. Aber wie zu den gloriosen Zeiten Willy Brandts kann es heute nicht mehr sein: "Im Gegensatz zu Willy Brandt ist Gerhard Schröder keine Symbolfigur. 'Brandt hatte das ungeheure Plus, in den fünfziger und sechziger Jahren als integre Figur aufzutauchen, während es in der CDU-Elite viele Nazi-Mitläufer gab', sagt Friedrich C. Delius, der im Wahlkontor ebenso mitgearbeitet hatte wie Peter Schneider ... Die Lager sind heute viel weniger scharf geteilt als damals, als Ludwig Erhard mit seinem (auf Rolf Hochhuth gemünzten) Wort vom 'ganz kleinen Pinscher, der in dümmster Weise kläfft', der SPD ein unbezahlbares Wahlkampfgeschenk machte."

Weitere Artikel: Christian Wildhagen schildert die Turbulenzen an der Hamburgischen Staatsoper und fürchtet, dass die Premiere von Luciano Berios "La vera storia" die letzte des Gerneralmusikdirektors Ingo Metzmacher gewesen sein könnte. Elisabeth Schwind schreibt ein großes Porträt des Komponisten Stefan Wolpe, dem zu seinen hundertsten Geburtstag eine ganze Reihe neuer CDs gewidmet wurden. Klaus Englert resümiert ein urbanistisches Symposion in Düsseldorf, das die Frage des "Embellissement" der heutigen Städte erörterte. Marc Zitzmann gratuliert dem französischen Verlag Larousse zum 150. Jahr seines Bestehens

Besprochen werden neue Forsythe-Choreografien in Frankfurt, Händel- und Bach-Einspielungen unter Diego Fasolis und einige Bücher, darunter zwei Werke über das maurische Spanien und die Konquistadoren, Verena Lenzens Studie "Jüdisches Leben und Sterben im Namen Gottes", ein neues Du-Heft über Pedro Almodovar und Kurzgeschichten von Christoph Janacs (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 18.09.2002

Diedrich Diederichsen feiert in einer seiner unübertrefflichen Zeitdiagnosen die Entdeckung des Lebens in der Linken und denkt dabei an Attac, die "Glücklichen Arbeitslosen" und das Revival des Situationismus in den neunziger Jahren: "Wenn die Arbeit abgeschafft ist, rückt das Leben in den Mittelpunkt. Während im Attac-Slogan das Leben schöner wird, wenn die Welt besser geworden ist, wäre das Glück der Arbeitslosen auch in einer Welt denkbar, die gar nicht nach anderen Prinzipien funktioniert als heute, nur mit ihrer stetig wachsenden und längst strukturell gewordenen Minderheit anders umgeht."

Weitere Artikel: Christian Broecking befasst sich in seiner Jazzkolumne mit dem britischen Komponisten Mark-Anthony Turnage. Und Ira Mazzoni feiert etwas verspätet (aber die taz ist ja eine Berliner Zeitung) die Eröffnung der Pinakothek der Moderne.

Schließlich Tom.

FR, 18.09.2002

Schön, wenn das deutsche Feuilleton den amerikanischen Kollegen erklärt, wie Journalismus funktioniert. Die FR druckt einen Vortrag von Bernd Greiner (Hamburger Institut für Sozialforschung), in dem dieser das innige Verhältnis zwischen Medien und Macht in den USA beklagt. Thomas Jeffersons "Information is the currency" gelte nicht mehr, statt dessen ein starker Kursverfall der Öffentlichkeit. "An erster Stelle ist von Trivialisierung zu reden. Und davon, dass die Welt der Politik ein einziges Sportereignis zu sein scheint. Was zählt, ist nicht, wie sich politische Programme auf das Leben der Einzelnen oder die gesellschaftliche Entwicklung auswirken könnten. Gefragt wird nach der Taktik im Spiel... Die bloße Vorstellung, ein Politiker könnte meinen, was er sagt, wird wie ein Relikt aus prähistorischer Zeit gehandelt."

Niels Werber macht sich für Menschenrechte in der Stadt stark, die zwar in einer Europäischen Charta festgehalten seien, aber kaum Beachtung fänden. Hilal Sezgin hat sich in der Nacht zu Dienstag um den Schlaf gebracht und die Live-Übertragung aus der Cheopspyramyde angesehen. Ursula März schreibt nicht weniger enttäuscht von einer SPD-Wahlkampfveranstaltung auf dem Berliner Gendarmenmarkt. Stephan Hilpold ist durch das neu eröffnete "quartier 21" im Wiener Museumsquartier gewandert. Und Christoph Schröder gratuliert Jan Costin Wagner, der für seine "Nachtfahrt" mit dem Marlowe-Preis für den besten deutschsprachigen Krimi des Jahres ausgezeichnet wurde.

Besprochen werden Michael Apteds pseudo-feministisches Rachedrama "Genug" und Cy Twomblys Lepanto-Zyklus in der Alten Pinakothek in München.


FAZ, 18.09.2002

Dietrich Wildung, Chef des Ägyptischen Museums in Berlin, ist sauer auf die gestern Nacht vom Fernsehen übertragene Roboter-Show in der Cheops-Pyramide und entlarvt das ganze als inszenierten Mediencoup: Denn "der 'Pyramid Rover' war schon vor Monaten im Einsatz, das Loch durch die Verschlussplatte des Schachtes, die schon Gantenbrink entdeckt hatte, war längst vor dieser Nacht gebohrt. Und es wird wohl niemand so naiv sein zu glauben, dass das Endoskop nicht schon längst vor der Live-Sendung hinter die Platte geführt wurde und einen Blick auf die Weltsensation freigab, die punktgenau für wenige Sekunden vor Schluss der Sendung um 5.25 Uhr auf den Bildschirm kam. Was war zu sehen? Ein kurzes Stück Schacht und ein nur roh bearbeiteter, von Rissen durchzogener Steinblock, der schnell zur versiegelten Tür umgedeutet wurde. Zahi Hawass stellte angesichts dieses peinlichen Flops fest, wie erstaunlich doch die alten Ägypter gewesen seien, und kündigte weitere Untersuchungen an. Das war's." Aber wenn der peinliche Flop vorher bekannt war, warum hat man ihn dann so grandios präsentiert?

Niklas Maak bespricht eine Aktion der Künstlerin Teresa Margolles (mehr hier), die in Berlin eine Wand mit abgesaugtem Fett aus Schönheitsoperationen bestreicht: "Die Wand entwickelt einen merkwürdigen Sog. Sie wirkt schön, ein Eindruck, der ärgerlicherweise auch dann nicht ganz verschwinden will, wenn man erfährt, was das goldschimmernde Material auf der Wand ist: sieben Kilo flüssiges menschliches Fett, gewonnen bei Liposuktionen, abgesaugt in den Schönheitsfarmen von Mexiko."

Weitere Artikel: Christian Geyer ärgert sich über den Kanzler, der die irakische Kehrtwende in der Frage der Waffeninspektionen als Erfolg seiner Verweigerungshaltung gegenüber Bush verkauft. Hans-Jörg Rother gratuliert dem unermüdlichen Ulrich Gregor, Gründer des Berlinale-Forums, zum Siebzigsten. In einer Meldung erfahren wir, dass Jean-Luc Godard, neben dem deutschen Maler Sigmar Polke, dem italienischen Bildhauer Giuliano Vangi und dem britischen Architekten Norman Foster aus der Hand des japanischen Prinzen Hitachi den mit 128.000 Euro dotierten Premium Imperiale erhalten wird. Heinz Berggruen erinnert sich in einer der kleinen Geschichten, die er ab und an für die FAZ schreibt, an die Zeit vor seiner Emigration im Jahr 1936, als er Glossen für die "Zeitschrift des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" schrieb. Verena Lueken liest amerikanische Zeitschriften (unter anderem die neue Atlantic Monthly und die Los Angeles Times Book Review), die sich mit der Zukunft des Katholizismus befassen.

Auf der letzten Seite berichtet Tilman Spreckelsen über die Verramschung der Bestände des pleite gegangenen Haffmans-Verlags, die nun vom Großhändler Fourier gekauft wurden und zum Teil bei 2001 im Angebot stehen. Heinrich Wefing hat sich in die futuristischen Räume der Firma Counterpane im Silicon Valley begeben, die sich auf Sicherheit im Netz spezialisiert hat und seit dem 11. September boomt. Schließlich porträtiert Jürg Altwegg den französischen Schulminister Luc Ferry.

Auf der Medienseite fragt Holger Christmann: "Welche Verbindung besteht zwischen dem Interview des Senders Al Dschasira mit dem mutmaßlichen Al-Qaida-Terroristen Ramzi Binalshibh und dessen Festnahme in Karachi?" Jürg Alwegg meldet die drohende Übernahme der Vivendi-Verlage durch die Lagardere-Gruppe, die dann einen bescheidenen Marktanteil von siebzig Prozent am französischen Verlagswesen hätte.

Besprochen werden Doris Dörries Film "Nackt", bei dem Hans-Dieter Seidel den Vergleich mit Marivaux nicht scheut, Luciano Berios "azione teatrale" "La vera storia" in Hamburg, ein Elvis-Costello-Konzert in Köln und eine Ausstellung des Skulpteurs Miguel Berrocal in Valencia.