Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.09.2002. Die FAZ streift die Asche von Schröders Zigarre ab. Die FR feiert die Renaissance der italienischen Piazza. Die NZZ löst sich von Kritikern, die am Kunstwerk kleben. Die taz sucht vergeblich nach Toleranz im Islam. Die SZ schildert die Qual der Wahl.

NZZ, 21.09.2002

In der Beilage Literatur und Kunst geht Samuel Herzog mit den Kritikern ins Gericht. Stets missverstehen sie die Künstler und kleben gleichzeitig wie ein lästiger Kaugummi am rezensierten Kunstwerk: "Die Kritiker sind sich schon seit langem bewusst, dass sie eine Kaugummi-Existenz am Kunstwerk führen. Und es ist ihnen ein wenig peinlich. Die Ängstlichen versuchen deshalb, möglichst wortreich gar nichts zu sagen, kritisieren das Publikum anstelle der Kunst oder vermeiden alles, was über eine möglichst ungenaue Beschreibung hinausgeht - wäre eine genaue Beschreibung doch schon wieder eine Möglichkeit, gravierende Missverständnisse in Schrift zu setzen."

Auch Ernst Ludwig Kirchner wünschte sich "Kunstkritik, ohne Schmuserei und qualliges Geschwöge". Weil er die nicht fand, avancierte er selbst zum Kritiker (auch seiner eigenen Werke!) und legte sich zu diesem Zweck ein Pseudonym zu, berichtet Christian Saehrendt.

Weitere Artikel: Andrea Gnam würdigt Carl Einsteins frühen und beinahe seherischen Versuch, eine Kunstgeschichte des 20. Jahrhundert zu verfassen - 1926! Die Entwicklung eines neuen Bürgertums in Deutschlands konstatiert Tilmann Allert.

Besprochen werden wieder eine Reihe von Büchern, darunter "H. G. Wells. Der Prophet im Labyrinth", eine essayistische Erkundungsreise, die Elmar Schenkel zu Wells und seinen düsteren Visionen unternimmt. Wie Eva Leipprand findet, ist das dem Autor exzellent gelungen: "Elmar Schenkel, Professor für englische Literatur in Leipzig, fügt in seiner Monographie die verschiedenen Seiten von H. G. Wells zu einem Gesamtbild, das gleichzeitig eine Zusammenschau der Strömungen seiner Zeit ist. 'Der Prophet im Labyrinth' erscheint als Exponent dieser aufregenden Epoche um die Jahrhundertwende, einer Zeit des Umbruchs, die einerseits vom Glauben an Wissenschaft und Fortschritt geprägt, anderseits aber genau dadurch in ihren Grundfesten erschüttert wurde."

Rezensiert werden weiter die pünktlich zur aktuellen Debatte erschienene Darstellung Karl-Heinz Meier-Brauns zur deutschen Einwanderungsgeschichte, der Rückblick des Amerikaners Neal Stephenson auf die Geschichte der Informationstechnologie (ja, auch die hat schon eine Historie!) und das Werk des Linzer Philosophen Paul Pfaller über die Illusionen und Mythen, die die unterschiedlichen Kulturen bei Laune halten (siehe auch unsere Bücherschau Sonntag ab 11 Uhr).

Im Feuilleton stellt Joachim Güntner den "Wahlomat" vor, den Studenten des Otto-Suhr-Instituts entwickelt haben. Die Ergebnisse sind mitunter eine böse Überraschung! Kerstin Stremmel teilt uns mit, dass der Kunstsommer in Wiesbaden erst begonnen hat, und zwar mit der Ausstellung "40 Jahre: Fluxus und die Folgen". Vom XI. Europäischen Kongress für Theologie in Zürich berichtet Uwe Justus Wenzel. Warum die Koblenzer Ausstellung zur Rheinromantik genau "zur rechten Zeit" eröffnet worden ist, erzählt uns Hubertus Adam. Außerdem: Das Potenzial, eine "neue Ära" im Kulturleben Dortmunds einzuläuten, hat laut Elisabeth Schwind die jüngst eröffnete "Philharmonie für Westfalen". Und rit. bedauert, dass sich Daniel Jeannet, der dem Centre Culturel Suisse jahrelang beste Dienste erwiesen hat, nun (verdientermaßen) zurückzieht.

FAZ, 21.09.2002

Das FAZ-Feuilleton entfaltet seinen berühmten Humor und stellt eine Liste der Dinge zusammen, die vom Kanzler bleiben werden und einst im Haus der Geschichte ausgestellt werden könnten. Gerhard Stadelmaier schreibt über die Asche: "Die Asche einer guten Zigarre zerfällt nicht in Flocken. Sie bleibt in der Form eines Türmchens zurück: kompakte, doch luftige Zylinder, die von feinen Adern und Graten durchzogen werden, anhand deren man Struktur und Wicklung der Vegas (Blätter) sozusagen in verflüchtigt-verewigter Form erkennen kann."

Derselbe Gerhard Stadelmaier gedenkt auch der Schaubühne, die in diesen Tagen 40 Jahre ihres Bestehens feiert. Der schöne Anfang eines wunderschönen Artikels: "Es ist eine der schönsten Legenden, die über ein Theater erzählt werden können: Im Keller der Berliner Schaubühne würden etliche Regalmeter Aktenschuber gelagert, auf die jeweils ein Zettel geklebt sei mit der schwungvollen Aufschrift: 'Völlig unwichtig. Kritiken' an manchen ein zweiter Zettel: 'Nicht lesen'." Hier sei eine Ausnahme empfohlen!

Weitere Artikel: Gerhard R. Koch begrüßt in der Leitglosse Christoph von Dohnanyi als neuen Chef-Dirigenten des NDR-Orchesters in Hamburg. Andreas Rossamann verreißt Peter Sellars' Inszenierung der "Kinder des Herakles" bei der Ruhrtriennale: "Ohne Bildkraft wird seine Tragödie in eine kunstlose Gegenwart übersetzt, deren Nerv aber nicht getroffen." Nils Ninkmar begleitet Günter Grass auf Wahlkampreise. Dietmar Dath meditiert über den versierten Öffentlichkeitsarbeiter Jassir Arafat. Jürg Altwegg schreibt zum 95. Geburtstag von Maurice Blanchot. Andreas Rosenfelder beobachtete Jürgen Möllemann, wie er am Donnerstagabend nicht zu eine Wahlkampfveranstaltung erschien.

Auf der Medienseite stellt der Chefredakteur des Schwäbischen Tagblatts seine Version der Geschichte um Herta Däubler-Gmelins Bush-Hitler-Vergleich dar.

Besprochen werden ein Konzert von Lee Hazlewood in Darmstadt, die Uraufführung von John Adams' Werk "On the Transmigration of Souls", das dem Angedenken an den 11. September gewidmet ist, mit den New Yorker Philharmonikern unter Lorin Maazel, Artur Schnitzlers "Komödie der Verführung" in Hannover, der Film "Genug" mit Jennifer Lopez,

In der Frankfurter Anthologie stellt Wolfgang Schneider ein Gedicht von Robert Gernhardt vor -"Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs":

"Sonette find ich sowas von beschissen,
so eng, rigide, irgendwie nicht gut;
es macht mich ehrlich richtig krank zu wissen,
dass wer Sonette schreibt..."


Und außerdem legt Ian McEwan, der für seinen Roman "Abbitte" jüngst so gefeiert wurde, in den Ruinen von Bildern und Zeiten eine Erzählung vor. Ihr Anfang: "Ich schreibe nicht wie meine Mutter, doch viele Jahre habe ich wie sie gesprochen, und ihr eigentümliches, argwöhnisches Verhältnis zur Sprache hat auch meine eigene Beziehung zu ihr geprägt."

Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht's unter anderem um eine Doppel-CD mit spanischer Musik aus der Zeit um 1600 ("Music for the Duke of Lerma"), eine Neuaufnahme der Pariser Fassung von Glucks "Alceste" mit Anne-Sofie von Otter, um neue Aufnahmen der finnischen Komponisten Kaija Saariaho und Magnus Lindberg und um eine neue CD von Paul Weller.

FR, 21.09.2002

Axel Honneth, Professor für Sozialphilosophie in Frankfurt, spricht mit Harry Nutt und bescheinigt den Grünen dabei, die Partei mit dem ausgeprägtesten Debattier- und Gerechtigkeitssinn zu sein. Erstens, sagt Honneth, werden "die politisch-moralischen Zerreißproben als öffentlich sichtbare Lernprozesse ausgetragen, was ich für ziemlich einzigartig in der deutschen Parteiengeschichte halte. Zum anderen aber scheint mir die Partei auch insofern den anderen Parteien überlegen, als sie gesellschaftspolitische Alternativen nicht nur unter dem Gesichtspunkt von Macht- und Reichtumssteigerung oder der Erhaltung bestimmter Ordnungsfunktionen entscheiden, sondern am normativen Maßstab der Sicherung intakter Lebensformen."

In einem kundigen Essay zeigt Steffen Richter, dass die italienische Piazza - die als politischer Versammlungsort gerade eine Renaissance erlebt - in der nationalen Literatur und Kunst eher vernachlässigt wurde. Gut, dass es so wundervolle Ausnahmen gibt, wie die Eröffnungsszene von Leonardo Sciascias Mafia-Roman "Tag der Eule" demonstriert: "Die Piazza Garibaldi in einem kleinen sizilianischen Ort liegt schweigend im Grau der Morgendämmerung. Da hastet ein Mann zum gerade abfahrenden Autobus. Der Schaffner öffnet noch einmal die Tür, als der aufs Trittbrett springende Mann von zwei Schüssen getroffen zusammensinkt. Während die Carabinieri eintreffen, verlassen die Fahrgäste den Bus. Die potenziellen Zeugen ?strebten den Rändern des Platzes zu und bogen, nach einem letzten Blick zurück, in die Gassen ein'. Schaffner, Fahrer und Pastetenverkäufer haben nichts gesehen, die Wahrheit kennt allein die leergefegte Piazza Garibaldi."

Weitere Artikel: Michael Buselmeier schmökert genussvoll in einem Stapel Literaturzeitschriften. Renee Zucker sinniert über ihre Tante Eva, das Telefonieren und die Piazza Navona. Rolf C. Hemke sah sich die von Peter Sellar auf der Ruhrtriennale inszenierten und mit Rap-Einlagen versehenen "Herakliden" des Euripides an, während Peter Iden in Hannover in Arthur Schnitzlers "Komödie der Verführung" sah.

Besprechungen: Daniel Kothenschulte wird nicht warm mit Disneys "Peter Pan 2", in dem das Piratenschiff jetzt digital animiert ist und Peter Pan aussieht "wie irgendein Teenager". Buchkritiken gibt es heute unter anderem zu einem Filmbuch über Max Ophüls "Lola Montez", Antonio Tabucchis neuem Liebesbriefroman und Bruno Richards "Desaster", ein Roman mitten aus dem Berliner Sumpf (mehr in unserer Bücherschau sonntags ab 11 Uhr).

Im Magazin lesen wir noch ein Gespräch mit der UN-Waffeninspektorin Gabriele Kraatz-Wadsack, in dem sie enthüllt, wie preußisch die Iraker doch sind. Henning Kober schreibt aus dem einst beschaulichen Bournemouth, das jetzt zur Partymetropole mutiert. Und schließlich: der Wahltest für Unentschlossene.

TAZ, 21.09.2002

Hoch lebe das tazmag! Siegfried Kohlhammer untersucht in einem langen Dossier den Islam auf die ihm oft nachgesagte Toleranz und findet - nicht viel. "Die Gleichberechtigung der anderen Religion anzuerkennen, wäre nicht nur ein absurder Widerspruch zum Anspruch der einen absoluten Wahrheit, sie stellte auch eine sträfliche Vernachlässigung religiösen Ernstes und Eifers dar. Die Verachtung und Demütigung der anderen Religion(en) ist somit nicht dem Belieben der einzelnen Gläubigen anheimgestellt und deren Sadismus oder Gutmütigkeit, sondern religiöse Pflicht." Dazu noch ein paar Stichwörter, von Al-Azhar-Universität bis Steinigung.

"Ich bin wild, lesbisch, gut", behauptet die Sängerin Chavela Vargas von sich. Ulrike Fokken porträtiert die 83-jährige Diva Mexikos und die Muse Pedro Almodovars, die jetzt noch einmal zu spätem Ruhm kommt. "Rund zwanzig Jahre lang, bis in die Siebzigerjahre, war Chavela Vargas in Mittel- und Südamerika so bekannt und verehrt wie Edith Piaf in Europa. Ihre Lieder, seit jeher einzig von zwei Gitarristen begleitet, gehören zur kulturellen Identität der Südamerikaner des 20. Jahrhunderts. Sie verkörperte die gleiche melancholische Verheißung und laszive Hingabe wie Billie Holiday." Hier noch die Karriere der Vargas im Überblick.

Weitere Artikel im tazmag: Auf Spielplätzen hat Walter Erhart die neuen Männer entdeckt: Einsame Actionhelden sind passe, der Familienvater kommt. Auch hierzu gibt es Hintergrundinformationen. Christian Schneider prophezeit für Sonntag den Sieg der Alten Mitte über die Neue Mitte. Denn "was 1972 das sozialliberale Experiment rettete - die Angst seiner Anhänger vor einem Rückfall in eine vormoderne Republik -, wird sich diesmal als schwächer erweisen als die älteste Angst der Deutschen: die vor dem wirtschaftlichen Niedergang." Schließlich fragt sich Malte Oberschelp, ob Tipp-Kick und Play Station das echte Fussballspielen nicht überflüssig machen. Und nochmal Fakten zum Thema.

Im Feuilleton heute ausschließlich Rezensionen: Morten Kansteiner hat sich die von Peter Sellar in Hannover inszenierten "Herakliden" angesehen. Tobias Rapp stellt den amerikanischen Autor Jonathan Lethem und seine beiden neuen Bände vor. Zudem werden zwei Bücher besprochen, die Neuauflage von Helmuth Plessners Plädoyer "Grenzen der Gemeinschaft" und Hans Girods kriminalistischen Reportageband "Der Kannibale" (mehr in unserer Bücherschau sonntags ab 11 Uhr).

Tom - ist heute morgen leider nicht im Netz!

SZ, 21.09.2002

Günther Rohrbach geißelt lustvoll die "Gedankenblässe" und die Technokratendebatten des Wahlkampfes 2002. Als Filmproduzent weiß er, was wirklich zählt: Gefühle! "Die vielzitierte Politikverdrossenheit hat einen einzigen relevanten Grund, die Unfähigkeit der heutigen Politik, Ziele zu formulieren, die uns bewegen, die Hoffnung geben auf eine Welt, in die wir unsere Kinder und Enkel ohne schlechtes Gewissen entlassen können. Bis dahin streiten wir uns über das Dosenpfand."

In die gleiche Kerbe schlägt auch Martin Z. Schröder. Kein Wunder, schreibt er, wenn es kurz vor der Wahl noch so viele Unentschlossene gibt: Wer kann sich da auch entscheiden? "Der Wähler droht nicht wie Buridans Esel vor zwei Heuhaufen zu verhungern, er weiß nicht einmal, ob das überhaupt Heu ist: Hier die Sozialdemokratie mit dem jovialen Jedermann an der Spitze, der Politik nach Laune betreibt, der keine politische Idee zu formulieren, aber jedem die Hand zu drücken vermag, vor allem als starke Geste sich selbst, um gefühlige Wörter wie "Solidarität" zu illustrieren. (...) Und auf der andern Seite? Die Christliche Union wird von einem haspelnden Zauderer geführt, der den Heimatwald verließ und nach Berlin marschiert, ohne recht sagen zu können warum."

Weitere Artikel: Michael Struck-Schloen stellt das belgische Wunder vor, Brüssels neuen Opernchef Kazushi Ono. Henning Klüver meldet sich aus Turin, wo Renzo Piano den zwanzigjährigen Umbau des ehemaligen Fiat-Werks Lingotto in ein Kulturzentrum nun mit der Pinakothek für die Kunstsammlung der Agnellis vollendet hat. Andrian Kreye war dabei, als Lorin Maazel New York seinen Einstand bei den Philharmonikern mit der Premiere der 9-11-Komposition von John Adams gab. Heiko Flottau porträtiert die britische Abenteurerin Gertrude Bell (mehr hier), die für die Grenzen des heutigen Irak verantwortlich ist. Alex Rühle verabschiedet sich termingerecht von Edmund Stoiber. "W.S" macht sich Gedanken über Katharina Wagner und ihre Inszenierungspremiere am Wahlabend im Mainfrankentheater Würzburg. Arnd Wesemann hat den vierzigsten Geburtstag der Berliner Schaubühne mit dem Tanzstreich "d?avant" begangen.

Besprechungen widmen sich Mahlers Siebter, aufgeführt von den Münchner PhilharmonikernArthur Schnitzlers "Komödie der Verführung" in Hannover, dem von Peter Sellars auf der Ruhrtriennale inszenierten Stück "The Children of Herakles" und "Hin zur Flamme", dem "Orchesterstück mit Lichtbegleitung" des Gesamtkunstwerkers George Lopez in Basel, einer Ausstellung des Malers Jörg Immendorf in Peking, einer Schau über Manet und die Impressionisten in der Staatsgalerie Stuttgart, Mehdi Charefs Film über die Nächte der "Marie-Line" und Tony Gatlifs neuem Film "Swing", schließlich Büchern, darunter Zsuzsa Banks erstaunlichem Romandebüt "Der Schwimmer" oder einem Sammelband über die Verbindung von Lachen und Heilkunst. (mehr in unserer Bücherschau sonntags ab 11 Uhr).

In der SZ am Wochenende denkt Holger Gertz über das Verlieren nach, sehnt sich Rebecca Cassati nach den lässigen Tennisspielern von damals, die Weiß trugen und Charakter hatten. Herrmann Unterstöger geht dem Phänomen des überlangen Händedrucks nach, gern gesehen bei offiziellen Empfängen. Lilli Brand macht bei jedem Gewinnspiel mit und ist danach immerhin an Erfahrung reicher.