Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.09.2002. Die FAZ ist hocherfreut über einen Tenor, der sich nach vier lyrischen Duetten entleibt - und sowas soll abgeschafft werden! Die taz weiß nicht, ob sie über das neue Merkur-Heft lachen soll. Die FR kommentiert die Implosion der Berliner Republik. Die SZ sucht den Tod in Zwickau.

FAZ, 23.09.2002

Den Wahlausgang können die Feuilletons wegen ihres frühen Redaktionsschlusses noch nicht kommentieren.

Hocherfreut berichtet Eleonore Büning über die erste Berliner Opernpremiere der Saison, Massenets "Werther" in der Deutschen Oper, der sowohl Buh- als auch Bravostürme entfesselte: "Dass man sich noch so in die Wolle kriegen kann über das Schicksal eines liebeskranken Tenors! Der sich immerhin in vier Akten (die er weitgehend in poetischer Passivität verbringt) in vier lange, lyrische, aber doch vergebliche Duette mit dem ersten Sopran verstrickt (die freilich alle aus dem gleichen melodischen Material gebaut sind) und alsdann abgeht und sich entleibt." Und darum ist Büning gegen die in Berlin so innig gewünschte Abschaffung der Opern: "Zwar sind Opernhäuser, als personalintensive Betriebe, teurer im Unterhalt als beispielsweise Kinos, aber deshalb nicht automatisch nur Klunkerausführmeilen für eine vergnügungssüchtige Oberschicht - früher Establishment oder Bourgeoisie genannt -, die es zu dekonstruieren oder in die Luft zu sprengen gilt. Es handelt sich in erster Linie immer noch um Orte der Verständigung einer Gesellschaft über sich selbst: kein Betäubungs-, Zerstreuungs- und Wellness-Institut, sondern Aufklärungsstätte, Gemütsaufrüttler, Gefühlskraftwerk." Bravo!

Weitere Artikel: Ilona Lehnart meldet in einer gut recherchierten Hintergrundgeschichte Zweifel an der Realisierbarkeit der titanischen Pläne für die Berliner Museumsinsel an. Michael Jeismann resümiert eine Rede Karl Heinz Bohrers über das mangelnde Stilbewusstsein der deutschen Politiker. Jordan Mejias verweist auf ein auch im Internet veröffentlichtes Manifest amerikanischer Künstler und Intellektueller gegen einen möglichen Irak-Krieg - zu den Unterzeichnern gehören Claes Oldenburg, Jane Fonda und der unvermeidliche Noam Chomsky. Ziemlich angetan resümiert Volker Weidermann das Internationale Literaturfestival, das gestern in Berlin zu Ende ging. Wolfgang Sandner schreibt zum Tod des Jazz-Bassisten Peter Kowald. Ingeborg Harms liest deutsche Zeitschriften, die sich mit Konstruktionen der Männlichkeit, unter anderem in der arabischen Welt, befassen. Christa Lichtenstern gratuliert dem Bildhauer Joannis Avramidis zum Achtzigsten

Auf der letzten Seite schreibt Ilona Lehnart ein Profil der neuen stellvertretenden Direktorin des Jüdischen Museums in Berlin, Cilly Kugelmann. Mark Siemons hat die Party der Schaubühne zu ihrem vierzigsten Geburtstag besucht. Und Regina Mönch bewundert die Tatkraft, mit der die Kleinstadt Pirna die Flutschäden bewältigt. Auf der Medienseite schildert Chris Burns, der Deutschland-Korrespondent von CNN, den deutschen Wahlkampf als "faszinierende und zwischenzeitlich sogar amüsante Berg-und-Tal-Fahrt vor dem Hintergrund der ernsten Frage, wie eine Volkswirtschaft mit vier Millionen Arbeitslosen wieder in Schwung gebracht werden kann". Und Ingolf Kern berichtet über die Wiederauferstehung des "Formel 1"-Moderators Peter Illmann als Moderator des Wahlabends der Grünen im Berliner Tempodrom.

Besprochen werden ein "Hamlet" am Schauspiel-Frankfurt, Tony Gatlifs Musikfilm "Swing" und eine Bühnenfassung von Einar Schleefs "Gertrud" im Berliner Ensemble.

TAZ, 23.09.2002

Ein Doppel-Beitrag setzt sich mit dem neuen Merkur-Heft über das Lachen auseinander. Rene Aguigah mag dem Plädoyer der Herausgeber für den westlichen Hedonismus nicht recht folgen: "Auch wenn sich Merkur-Leser in den letzten Monaten an dessen Neigung zum Kulturchauvinismus gewöhnt haben mögen, stockt einem doch der Atem angesichts des bedenkenlosen Tempos, mit dem Jochen Hörisch etwa die ach so ausgeprägte Paradoxiefähigkeit von jüdischer und christlicher Religion gegen einen nur unitarisch denkenden Islam ausspielt - als gäbe es keinen Fundamentalismus im Namen Jahwes oder der Dreifaltigkeit." Jan Feddersen dagegen folgt den Herausgebern: "Im Spott Stefan Raabs auf Kanzler Schröders Bierflaschenorder steckt mehr göttliche Wahrheit über unser säkulares System als in einem Sinfoniekonzert mit Werken klassisch-abendländischer Komponisten." (Was wir nun wieder für Humbug halten.)

Weitere Artikel: Nils Michaelis berichtet von einer Retrospektive der Trash-Filme von Russ Meyer in München - sogar die berühmten Hauptdarstellerinnen aus "Faster Pussycat! Kill, Kill!" waren an einem Abend zugegen. Und Christine Heise bespricht ein Konzert der britischen Folkmusikerin Beth Orton. Hinzuweisen ist ferner auf ein Interview mit Percy MacLean, dem ersten Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte, auf den Tagesthemen-Seiten.

FR, 23.09.2002

Schrecklichste Alpträume haben Christian Schlüter vor der Wahl geplagt. Bush, Hitler, Möllemann, Däubler und Gmelin begegnen ihm Unter den Linden. "Aus weiter Ferne war ein Donnergrollen gar deutlich zu vernehmen. Unheimlich, Adolf-Nazi ist zwar schon tot, aber George Dabbelju lebt noch: 'Nur ein schweigender Deutscher ist ein guter Deutscher!' ließ der mächtige Mann aus Übersee verkünden, genug sei schließlich genug. Deutschland, halt's Maul? Wer hätte gedacht, dass diese Parole der eigentlich marginalisierten Nie-wieder-Deutschland-Linken noch einmal so großen Beistand erfahren würde. Israel und Irak, Antisemitismus und 'deutscher Weg', es ist einerlei: Das vor gut vier Jahren in den Umlauf gebrachte Fantasma der Berliner Republik ist spätestens an diesem Montagmorgen, nach der Wahl und all der Qual, an sich selbst zu Grunde gegangen, regelrecht implodiert."

Besprochen werden ein "Hamlet" in der Inszenierung von Anselm Weber am Frankfurter Schauspiel, ein "Werther" in der Adaption von Sebastian Baumgarten an der Deutschen Oper Berlin, Edith Clevers Monologversion von Einar Schleefs "Gertrud" und Bücher, darunter Peter Merseburger Willy-Brandt-Biografie sowie Rüdiger Jungbluths Geschichte der Quandts (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr)

NZZ, 23.09.2002

Der Hamburger Politologe Michael Marek entdeckt konzeptionelle Tücken in der Lagerung von Kulturschätzen in Deutschland. Das in einem Bergwerksschacht im süddeutschen Oberried gelegene "kulturelle Gedächtnis der Nation" leidet demnach unter methodischen Problemen: "Von den zuständigen Kommissionen wird ein Archivbegriff gepflegt, der sich ausschließlich am Staat orientiert. Das heißt, was der Staat, was seine Repräsentanten und Behörden nicht selbst archivalisch produziert und erfasst haben, bleibt draußen vor dem Stollen.(...) Das Archiv ist selbst Teil einer Entwicklung, vor der ihre Verwalter warnen. Und sie gehören mit zu jenen Mächten, die das Erinnern und das Vergessen regulieren."

Der russische Schauspieler Sergei Bodrow ist durch die Gletscherlawine im Süden Russlands ums Leben gekommen. Maja Turowskaja zeichnet ein Porträt des 30-jährigen Schauspielers, der vor allem in der Rolle des einfältigen Danila Bagrow in dem Film "Bruder" berühmt wurde: "Die jüngsten Zuschauer, die dem sozialen Hamletismus der Väter abgeschworen hatten und in die 'totale Verweigerung' abgedriftet waren, verliehen diesem Danila sogleich Kultstatus. Die Kritik warf ihm vor, geistlos, unmoralisch und antiintellektuell zu sein, manche sahen darin ein gefährliches schlechtes Beispiel."

Ilija Trojanow hat die neuen Alternativtouristen beobachtet. Viel hält er nicht von ihnen: "Die vielgeschmähten Hippies von einst hingen zwar auch in Katmandu oder Lamu herum, aber unter ihnen gab es doch viele, die sich auf die Fremde einließen, die sich dem Unbekannten aussetzten, so dass es eine Chance hatte, sie zu verändern. Das Gros der heutigen Rucksacktouristen scheint keine solchen Ambitionen zu hegen. Ihnen reicht die in den Traveller-Ghettos servierte gefilterte und gechlorte Fremde völlig aus. Sie unterscheiden sich kaum von den Pauschaltouristen, denen sie sich mit einigem Dünkel überlegen fühlen. Sie betrachten die fernen Kulturen als Lieferanten von Versatzstückchen, die etwas Farbe in ihre behagliche und abgesicherte Existenz bringen können."

Weitere Artikel: Paul Jandl berichtet über Kulturtage in Lana, die den Dichter Oskar Pastior feiern. Ursula Seibold-Bultmann hat die Ausstellung im Schlossmuseum von Weimar gesehen, die eine Bildergalerie aus der Goethezeit zu rekonstruieren versucht. Musica, das seit zwanzig Jahren stattfindende Straßburger Festival für zeitgenössische Musik, hat Alfred Zimmerlin besucht, und findet das "größte und inhaltlich breiteste Festival seiner Art" durch das Programm bestätigt. Eine Tell-Adaption des Schweizer Regisseurs Christoph Frick am Luzerner Theater hat Tobias Hoffmann gesehen, die "auf die Denunziation schweizerischer moralischer Dumpfheit hinauszulaufen" scheint.

SZ, 23.09.2002

Die SZ erklärt Zwickau zur modernsten Stadt des Landes. Zumindest was den Rentner-Anteil an der Bevölkerung betrifft, wird in Zukunft überall Zwickau sein. Der Schriftsteller Thomas Brussig hat einen Blick in die rauhe Wirklichkeit geworfen: "Zuerst die schlechte Nachricht: Die 'Violetta' hat dichtmachen müssen, die roten Herzen blinken nicht mehr. Aber Apotheken gibt's en masse, auch die Ladendichte bei Hörgeräten und Orthopädieartikeln ist gut entwickelt. Der Bestattungsunternehmer war nie ans Telefon zu kriegen, Taxifahrer wissen ihrer Kundschaft Kurfahrten auf Krankenkasse schmackhaft zu machen, und der Bauleiter Michael Glös erklärt: 'Was hier wie verrückt gebaut wird, sind Pflegeheime und Krankenhäuser.' Auch das verfallene Schloss Osterstein wird entgegen früheren Plänen kein Hotel, kein Einkaufszentrum, kein Schulungs- und Kongresszentrum, sondern - ein Pflegeheim. In der neuerbauten Stadthalle, dem größten Veranstaltungsort, läuft tendenziell Volksmusik." Auch Brussigs Feng-Shui-Diagnose fällt vernichtend aus: "Die Stadt ist vom Bergbau unterhöhlt. Alle Energien fließen ab. Hier entsteht nichts. Wenn mal ein gutes Geschäft aufmacht, dann ist es nach zwei, drei Jahren vorbei. Diese Stadt ist tot."

Andrian Kreye berichtet mit spürbaren Unwillen von einem Vortrag des amerikanischen Atomwissenschaftlers David Kay vor dem Middle East Forum, der erklärte, warum Waffeninspektionen Saddam Hussein nicht davon abhalten werden, Massenvernichtungswaffen zu entwickeln. "Die entscheidenden Folgerungen von Kay beruhen natürlich auf Vermutungen. So kommt er zu dem Schluss, Saddam Hussein arbeite mit Sicherheit noch an verbotenen Waffenprogrammen, weil sonst 'Saddam das Embargo, das sein Land bereits 140 Milliarden Dollar in Außenhandelsverlusten gekostet hat, nicht in Kauf nähme'. Aber war der Irak unter dem Embargo überhaupt noch in der Lage, ein kostspieliges Atomprogramm aufrechtzuerhalten? 'Dreißig Tage nach dem 11. September hat der Irak Bauteile für Atomanlagen gekauft.' Kein Einwand, den Kay nicht lakonisch pariert. Und immer wieder funktioniert der Hinweis auf Ground Zero im naheliegenden Süden von Manhattan als rhetorischer Kunstgriff."

Weitere Artikel: Fritz Göttler kündigt einen "sonnigen Herbst" für Hitler an: In den USA sind sind diverse Film- und Fernsehproduktionen über den "jungen Kunstmaler" geplant. Franziska Augstein warnt mit Uri Avneri vor "Unfällen" in und um Arafats belagerten Amtssitz. Siggi Weidemann meldet, dass das Amsterdamer Stedelijk Museum für Moderne Kunst endlich renoviert, wenn auch nicht erweitert wird. Gottfried Knapp klagt über die drohende Zerstörung des Wittelsbacher Alten Hofs in München. Anja Rützel empfiehlt für den Herbst das "reizende Zirpen des Thai-Pops". "agrb" erklärt das Erfolgsrezept des Internet-Buchhändler ABEbooks, der ungebrochen schwarze Zahlen schreibt und inzwischen seinen größten europäischen Konkurrenten, JustBooks, übernommen hat. Lothar Müller hat beim "2. Internationalen Literaturfestival Berlin" genossen, wie Ingo Schulze und Richard Ford Kurzgeschichten von Raymond Carver lasen.

Besprochen werden Jan Bosses Inszenierung von Molieres "Menschenfeind" am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, die Uraufführung von Armin Petras' "Zeit zu lieben Zeit zu sterben" am Hamburger Thalia Theater, Wolfgang Rihm beim Frankfurter "Auftakt"-Festival, Peter Kerns Trash-Komödie "1.April 2001: Haider lebt", der neue Peter-Pan-Film "Return to Neverland" und Bücher, darunter Meinhard Miegels Streitschrift über "Die deformierte Gesellschaft", Guido Knopps Buch zur Fernsehserie "Der Jahrhundertkrieg", sowie Martin Mulsows Habilitationsschrift "Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680-1720" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).