Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.09.2002. In der taz klagt Karen Duwe, dass die Frauen den Männern die Musik überlassen haben. Die SZ ruft Peter Sloterdijk zur Raison. Die FAZ erzählt, wozu heimliches Stöbern auf dem Dachboden führen kann: zum Fund Dutzender Briefe sämtlicher Größen der Naturwissenschaft. Die NZZ ergeht sich mit liebeskranken Indern im Monsun.

FAZ, 25.09.2002

Auf der letzten Seite erzählt Klaus P. Sommer, wie er 132 Briefe des Mathematikers David Hilbert (mehr hier) auf dem Dachboden seiner Vermieterin, Frau Rellich, fand. Aus "Neugier" hatte er dort eine Blick in eine "große Truhe" geworfen und darin einen Leitzordner gefunden, der unter anderen "11 Briefe von Planck, zwei von Nernst (plus einem Antwortentwurf Hilberts), 18 von Einstein, sieben von Debye, 21 von Born" enthielt. Außerdem 21 Briefe von Sommerfeld, "von Weyl und Courant fünf, von Ehrenfest einer und von Korrespondenz mit dem Ministerium 39, hierunter auch zwölf Entwürfe Hilberts selbst." Auch "die vermissten Originale, in denen Einstein erstmals die richtigen Gravitationsgleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie mitteilte, hatten hier auf dem Dachboden gelegen". Frau Rellich wurde allerdings sehr wütend, als ihr Untermieter plötzlich mit den Briefen vor ihr stand: "Sie donnerte mich an: 'Was unterstehen Sie sich, bringen Sie die Sachen sofort wieder dorthin, wo Sie sie weggenommen haben!' In meiner Scham kam ich auf die Briefe nie mehr zu sprechen." Erst nachdem Frau Rellich gestorben war, erzählte Sommer den Erben von den Briefen, die sie der Handschriften-Abteilung der Göttinger Universitätsbibliothek schenkten. (Auf Hilberts berühmter Liste von 23 Problemen finden sich übrigens immer noch ein paar ungelöste.)

Ingolf Kern beschreibt die piefige Kulturpolitik der rot-roten Regierung in Berlin. "Die genuin kulturfeindliche Berliner SPD, die alles für Luxus hält, was sich außerhalb von Stadtteilbibliotheken regt, und in der Sondersitzung des Parlaments allenfalls gegen eine Verdoppelung der Kita-Gebühren zu Felde zieht, trifft auf eine verzagte PDS, die in den winzigen Teilen des roten Adels noch ein bürgerlicheres Verständnis von Kultur hat, was sich jedoch ausnahmslos auf das Ost-Berliner Parkett beziehen dürfte." Finanzieren will man nur noch Kiezkultur, den Rest soll der Bund übernehmen - oder man schafft es gleich ab.

Weitere Artikel: Dietmar Dath schildert seine Korrespondenz mit einer israelischen Journalistin. Kerstin Holm berichtet kurz über den offenbar manipulierten Prozess gegen Eduard Limonow in Russland. Jordan Mejias porträtiert den großen Mäzen Alfredo Vilar. Regina Mönch schreibt den Nachruf auf die Berliner Buchhandlung Kiepert.

Auf der Stilseite erzählt Andreas Rosenfelder, wie er mit einem kulturkritischen Reiseführer unterm Arm Portugal besucht hat, und Ralf Drost beklagt den Tod des Popjournalismus.

Besprochen werden die große Max-Beckmann-Ausstellung im Pariser Centre Pompidou (endlich revidieren die Franzosen ihre Vorurteile gegen den Künstler, schreibt Werner Spies) und Dani Levys Film "Väter".

TAZ, 25.09.2002

"Männern die Musik zu überlassen, ist noch ein schlimmerer Fehler, als dass wir ihnen das Feuer überlassen haben", meint die Schriftstellerin Karen Duwe, die sich mit Susanne Messmer über ihren neuen Roman "Dies ist kein Liebeslied", über Magersucht und eben über Musik unterhält: "Ich erinnere mich, wie in meiner Schule einmal eine Band gespielt hat und alle Mädchen überlegten, wen von der Band sie am liebsten mochten. Da merkte ich plötzlich, dass ich keinen Bassisten oder Schlagzeuger abkriegen, sondern selbst da oben stehen wollte. Aber dann habe ich das nie verfolgt. Ich bin also auch nicht besser. Schande, Schande über uns."

Hans Nieswandt macht uns mit der neuesten Errungenschaft der DJ Kultur vertraut, die so sexy ist, "dass allen DJs davon schwindlig wird": Final Scratch. "Der Witz daran ist, dass man anstatt Kisten, Taschen und eventuell auch noch Tüten voller schwer wiegender Platten nur noch ganze zwei Stück davon mitnehmen muss, eine pro Plattenspieler. In diese beiden Platten sind keine Rillen mehr gefräst, sondern ein Timecode. Die Musik kommt in Wirklichkeit von der Festplatte des Laptops. Zwischen sie und den Plattenspieler ist ein Kästchen geschaltet, in das man während der Show die Songs zwischenlagert und sie dann von dort aus mit der Schallplatte ansteuert."

Mark Terkessides denkt über Deutschland, die Einwanderung, den Wahlkampf und den Populismus nach. Brigitte Werneburg bespricht im "Modernen Lesen" neue Bücher von Claudio Besozzi, Gilbert Adair, Paul Maenz und Amelie Nothomb.

Hinzuweisen ist noch auf die Meinungsseite. Dort beobachtet Harald Fricke das Art Forum Berlin und wie im Herbst die "frisch gebügelten Galeristen aus ihren Büros schlüpfen und den Schimmer des Besonderen verbreiten.

NZZ, 25.09.2002

Von den traditionellen Feierlichkeit und den Sehnsüchten der Menschen zu Beginn der indischen Monsunzeit berichtet B.N. Goswamy. Die Meldungen über die vielen Flutkatastrophenmeldungen können die Stimmung der Menschen dort nicht trüben. Statt dessen ist man liebeskrank: "Glaubt man der indischen Dichtung, dann wird der oder die Geliebte nie so schmerzlich vermisst wie zu dieser Jahreszeit. Da wird von Liebenden berichtet, denen schon der Anblick aufziehender Wolken unerträglich ist; von Herzen, die den Ruf des Papeeha-Vogels - von dem es heißt, er ernähre sich einzig von im Fall aufgefangenen Regentropfen - fühlen wie einen scharfen Stich."

Das Wiener Museum für angewandte Kunst kämpft um seine Identität. Von finanziellen Nöte ist die derzeit ausgestellte MAK-Sammlung, eine der bedeutendsten europäischen Dokumentationen der "Applied Arts", bedroht, wie Paul Jandl berichtet. "Mehr Sponsorentum braucht das Museum für angewandte Kunst zur Erhaltung der Sammlung und eben zum Ankauf der ausgestellten Objekte." Noch bis zum 6. Oktober ist diese zu sehen.

Weitere Artikel: Ferenc Bonis gratuliert dem ungarisch-österreichischen Komponisten Jenö Takacs zu dessen 100. Geburtstag. Er stand "unter dem Einfluss von Bartok und Schönberg, aber auch unter dem der Folklore der Völker, die er besucht hatte." Es wird gemeldet, dass der 41-jährige slowenische Dirigent Marko Letonja zur Spielzeit 2003/2004 neuer Chef des Sinfonieorchesters Basel wird, und dass der Belgier Chris Dercon 2003 der Nachfolger von Christoph Vitalis am Münchner Haus der Kunst wird. Alexandra Stäheli hat die noch bis zum 3. November dauernde Ausstellung "Michel Foucault und die Künste" in Karlsruhe besucht, die sich den Erfahrungswelten des 1984 verstorbenen Theoretikers widmen möchte. Jürg Huber schwärmt von dem zuende gegangenen 102. Tonkünstlerfest in Biel. Andrea Springer bespricht das Ausstellungsprojekt Artcanal im schweizerischen Seeland, das noch bis zum 20. Oktober andauert.

Besprochen werden außerdem: Ernst Schuberts historisches Buch über den "Alltag im Mittelalter". Gertrude Steins "Sachen machen. Ein Buch von ABCs und Geburtstagen", das Kinderbuch "Kasimir hat einen Vogel" von Wolfdietrich Schnurre und Manfred Bofinger, Isabel Allendes Jugendbuch "Die Stadt der wilden Götter" und David Grossmans Jugendroman "Wohin du mich führst".

SZ, 25.09.2002

Die Ära der deutsch-amerikanischen Missverständnisse ist noch nicht zu Ende. Amerikanische Intellektuelle hatten nach dem 11. September in einem Manifest den Krieg gegen Afghanistan gerechtfertigt. Deutsche Intellektuelle hatten sie dafür kritisiert, worauf die Amerikanischen spöttisch antworteten. Nun sind die Deutschen wieder dran (Intellektuelle wie Walter Jens, Hans-Peter Dürr und Konstantin Wecker) und stellen den Begriff des "gerechten Krieges" in Frage. Nicht der Angegriffene, sondern nur eine übergeordnete neutrale Instanz könne Gerechtigkeit herstellen: "Kann man wirklich - wie Sie suggerieren - 'unbeabsichtigt' getötete Zivilisten in Afghanistan moralisch geringer werten als absichtlich getötete Zivilisten in den USA? Und wer bestimmt schon in einem konkreten Fall, was gerecht ist?"

Im selben Zusammenhang fragt Andreas Zielcke, was Peter Sloterdijk geritten hat, der in einem Interview mit Profil zu den deutschen Wahlen die USA und Israel als die eigentlichen "Rogue states" der Weltpolitik bezeichnete.

Weitere Artikel: H. G. Pflaum schreibt einen freundlichen Verriss über Dani Levys neuen Film "Väter". Im Interview mit Anke Sterneborg erläutert Maria Schrader, was sie an ihrer Rolle in diesem Film so reizte, und warum sie über seine schlecht Aufnahme so enttäuscht ist. Dirk Peitz meditiert über den Künstler Jeff Koons, der es schafft, selbst in seinen dreidimensionalen Werken zweidimensional zu bleiben, und der jetzt in Bielefeld ausschließlich Zweidimensionales ausstellt. Das Volk stellt in Person von Jens Bisky "sieben Forderungen an den Bildungsminister" und in Person von Ulrich Raulff "sieben Forderungen an den Staatsminister für Kultur". Jürgen Berger schreibt zum Saisonauftakt in Frankfurt mit Shakespeares "Hamlet" und Gesine Danckwarts "Girlsnightout". Wolfgang Schuller erinnert an Ernst Salomon, der in diesen Tagen hundert Jahre alt würde. Dorothee Müller schreibt zum Tod des Bildhauers Michael Croissant.

Besprechungen gelten einer Ausstellung der Werke Anselm Feuerbachs in Speyer und dem Festival MEXartes in Berlin und einigen Büchern, darunter Tim Pages Glenn Gould-Monografie und Monika Marons Roman "Endmoränen" (mehr hier).

FR, 25.09.2002

Zu den Wahlen werden noch einige Kommentare nachgereicht. Michael Rutschky versucht, dem Wähler mit Entfremdungstheorien beizukommen. Er selbst hat ja die ganze Zeit gewusst, dass Rot-Grün die Wahlen gewinnen wird: "Dass die Demoskopen die ganze Zeit das Gegenteil herausfanden, erklärte ich mir mittels dieser Interpretation: Der Wähler stellt mittels der Umfragen überhaupt erst fest, was er eigentlich will; die Vermehrung der Umfragen und die Medienhermeneutik, die sich ihnen widmet, erzeugen eine Intensität, die nach Alexander Kluge die politischen Gefühle kennzeichnet."

Der Schriftsteller Jochen Schimmang verrät, dass Schröder durchaus ein Mann von Prinzipien sei. "Zu diesen Prinzipien gehört, dass Macht zwar korrumpieren kann, Ohnmacht aber auch."

Außerdem meldet die FR, dass die pazifistische Fraktion der deutschen Intellektuellen im Streit mit ihren amerikanischen Kollegen eine neue Schrift verfasst haben: Darin heißt es: "Wir unterschätzen nicht die Gefahr des Fundamentalismus und der darauf beruhenden Gewaltbereitschaft in der islamischen Welt. Die Abwehr fundamentalistischer Gefahren - davon sind wir fest überzeugt - kann am wirkungsvollsten dadurch gewährleistet werden, dass das Vertrauen der Machtlosen dieser Welt in die universellen Werte, wie die Unantastbarkeit der Menschenwürde und der individuellen Freiheiten und die universellen Rechtsprinzipien, gestärkt wird."

Elke Buhr kommt aus dem Schwärmen über Becks neues Album "Sea change" gar nicht mehr raus: "Wunderbar melancholisch" findet sie es, und der Weg bis zum Ende des Dunkel scheine "unendlich". Besprochen werden außerdem Dani Levys neuer Film "Väter", Jan Bosses Inszenierung des "Menschenfeind" am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, eine Ausstellung von Ellsworth Kelly in der Fondation Beyeler.