30.09.2002. In der FAZ erklärt Doug Bandow, früherer Sonderberater von Präsident Reagan, von welchen Illusionen die europäischen Regierungen Washington kurieren sollten. Die NZZ berichtet vom erschütterten Selbstbild der Holländer. Die FR widmet sich Norman Mailer. Die taz schreibt die Geschichte der Bauern und der Wölfe. Die SZ findet amerikanisches Fernsehen "Spitze".
FAZ, 30.09.2002
Nach Ansicht von Doug Bandow, früher Sonderberater von Präsident
Reagan, stand es in der Nachkriegszeit um die
deutsch-amerikanischen Beziehungen noch nie so schlecht wie jetzt. Doch gerade in diesem Konflikt sieht Bandow eine Chance: "Tatsächlich wird
Washington erst dann verantwortungsvoller handeln, wenn andere größere Mächte nachhaltig und entschlossen
Widerstand leisten. Amerikanische Regierungen interpretieren widerwilliges Nachgeben als begeisterte Zustimmung. Die europäischen Regierungen müssen Washington
von diesen Illusionen kurieren."
Die
Deutsche Oper könnte dem Berliner Sparzwang zum
Opfer fallen, berichtet Eleonore Brüning. Dass nun Intendant
Udo Zimmermann das Handtuch wirft ist für sie die Konsequenz einer
desaströsen Kulturpolitik: "Der Vorwurf, ein Theater trage sich nicht selbst aus dem Kartenerlös, ist
historisch ahnungslos, weltfremd und absurd. Den Kartenverkauf aber gar implizit zur Grundbedingung des Subventionsverhältnisses zu machen - gleichgültig, was gespielt wird - wie es im Fall Zimmermann geschieht und auch im Fall Marthaler in Zürich bereits geschah, das bedeutete folgerichtig dann
das Ende jeder Kulturpolitik."
Weitere Artkel: Paul Ingendaay
stellt die diesjährigen
Wettbewerbssieger des
Filmfestivals in
San Sebastian vor. Andreas Rosenfelder war auf dem
19. Deutschen Kongress für Philosophie in Bonn (mehr
hier), der unter dem Motto "Grenzen und Grenzüberschreitungen" stand, und denkt darüber nach, ob Philosophen heute noch in
Brunnen fallen. Wie beliebig die
Architektursymbole der DDR genutzt werden,
zeigt Peter Müller am Beispiel des renovierten
Berliner "Cafe Moskau". Siegfried Stadler berichtet, dass nun der
Rohbau des Leipziger Museums steht, und wundert sich, dass sich niemand Gedanken um die Ausstellungsfläche macht. Das wahre
Gold des Tanzherbstes,
findet Wiebke Hüster, wird in Berlin nicht auf den Festwochen gezeigt, sondern in der
Schaubühne. Dass mit der
Vergangenheit nicht zu spaßen ist, und auch vor dem Kolosseum nur strafrechtlich unbescholtene
Touristen-Legionäre stehen dürfen,
weiß "dp" zu berichten. "em" meldet, dass
Wolfgang Kos zum neuen Direktor des
Wiener Historischen Museums wird.
Auf der
Medienseite porträtiert Michael Hanfeld Stoibers
Wahlkampfberater Michael Spreng, für den nach der Wahl nicht vor der Wahl ist. Und Stefan Niggemeier findet, dass
Jürgen Fliege sich zunehmend als
ARD-Jesus gebärdet.
Besprochen werden Bücher,
Richard Brautigans Roman "Eine unglückliche Frau",
Gilbert Adairs "Adzio und Tadzio" über Thomas Manns Venedig, Sachbücher (siehe die heutige
Bücherschau, ab 14 Uhr), Ausstellungen, die
Rekonstruktion von
Goethes "Bildergalerie" im
Weimarer Schlossmuseum und die
Von der Heydt-
Ausstellung im
Museum Wuppertal,
Hermine Huntgeburths Kinderfilm
"Bibi Blocksberg", die
Aufführung von
Benjamin Brittens "War Requiem" in Peenemünde und Andre Wilms'
Inszenierung von
Jenny Erpenbecks Theaterstück "Katzen haben sieben Leben" am Frankfurter Theater.
NZZ, 30.09.2002
Im Rahmen eines Thementages im
Amsterdamer Kulturzentrum liefert Auslandskorrespondent
Rene Vautravers einen Bericht über das
"erschütterte Selbstbild" der Holländer. Ursache für die derzeit recht angespannte Sicht auf das multikulturelle Zusammenleben: die New Yorker Terroranschläge und der sagenhafte Aufstieg
Pim Fortuyns. "Der Umgang mit den Vertretern ethnischer Minderheiten ist
härter geworden. Die Kulturbeauftragte der Stadt Amsterdam, Hannah Belliot, meint, die
Unzufriedenheit über das Gesundheitswesen etwa und über die
mangelnde Sicherheit entlade sich mit voller Kraft gegen die Schwächsten in dieser Gesellschaft. Es sei ein
Sündenbock gefunden worden für die langen Wartelisten in den Spitälern und für die
unzureichende Kriminalitätsbekämpfung durch die Polizei. Auch fühlten sich manche Einwanderer diffamiert von den jüngsten Äußerungen des Ministers für Immigrations- und Asylfragen,
Hilbrand Nawijn von der Liste Pim Fortuyn."
Navid Kermani, Publizist und Islamwissenschaftler,
weist darauf hin, dass
Indonesien das größte islamische Land ist und sich auch hier -verstärkt in den Armenvierteln - zunehmend
fundamentalistische Tendenzen etablieren. Von der Bevölkerung werden die (noch) verächtlich als "Wahhabiten"
belächelten Islamisten mit
Befremden wahrgenommen. Die Ursache sieht Kermani nicht wie in anderen Ländern nur bei der (ohne Zweifel vorhandenen) Schere zwischen Arm und Reich: "Dass die
Gutgestellten sich vom Rest der Stadt
abschotten, ist längst nicht mehr nur eine Entwicklung südländischer Metropolen. In den Vereinigten Staaten und allmählich auch in Westeuropa ziehen es immer mehr Bürger vor, im
privaten Musterländle der gated communities zu leben, statt sich den zunehmenden Tücken des öffentlichen Raumes auszusetzen. In
Jakarta ist das soziale Schisma weniger frappant als etwa in Indien, Thailand oder manchen Städten Südamerikas, insofern es nicht jene
Schreckensbilder letztgültiger Verelendung bietet. Ins Auge sticht hier vielmehr die
kulturelle Dimension der
Abkopplung."
Weitere Artikel: Joachim Güntner
lächelt über die Verleihung des
neuen Kritikerpreises des Verlages Hoffmann und Campe an
Martin Walser. Teil des Preises sind nämlich ausgerechnet 99 Flaschen
Rotwein, was angesichts der Tatsache, dass
Reich-Ranicki das Walsersche Buch
"Tod eines Kritikers" als im
Alkohol entstandenen Fehlgriff umschrieb, Güntner ausgesprochen amüsiert. "Befreiendes Gelächter indessen will sich nicht einstellen, zumal Walser
kundtut, er habe eine 60-seitige
Fortsetzung zu seinem Roman verfasst."
Außerdem: Von der
Aufführung von
Schönbergs "Pierrot lunaire" in
Zürich berichtet Thomas Schacher. Cornelia Isler-Kerenyi
gefällt die neue
Ausstellung über
Pharaonen im
Palazzo Grassi in
Venedig, Alexandra Stäheli
lässt uns an ihren Impressionen der
Ausstellung über den Künstler
Erich "Ricco" Wassmer in
Bern teilhaben, und die Ergebnisse des
XIX. Deutschen Kongresses für Philosophie in
Bonn resümiert Uwe Justus Wenzel.
FR, 30.09.2002
Petra Kohse
war beim Polit- und Kulturereignis des Wochenendes in Berlin:
Norman Mailer las zusammen mit seiner (sechsten) Frau
Norris und
George Plimpton das Stück "Zelda, Scott and Ernest", das auf dem Briefwechsel zwischen
Hemingway und
Fitzgerald beruht. Alles in allem, findet sie, war das "eine liebevolle
Salonveranstaltung, in der Leute, die jemand sind, an Leute erinnern, die jemand waren". Nur leider sollte die Tagespolitik keine Rolle, wie sich die Gastgeberin, American Academy erbat, was dem Publikum leichter zu fallen schien als Mailer, meint Kohse: "Als ein einziger Zuschauer ihn - unter dem Gezische der Umsitzenden - ganz am Ende doch nach seiner Meinung zum drohenden US-Schlag gegen Irak fragte, antwortete der 79-Jährige zwar nicht, verwies aber darauf, dass er vorhabe, sich am nächsten Tag dazu zu äußern. Was er in einer Pressekonferenz im Berliner Hotel Adlon denn auch tat. Und zwar mit
deutlicher Kritik.
"Weiteres: Christine Pries
berichtet vom
Philosophie-Kongress in Bonn, auf dem besonders
Hermann Schmitz für Furore gesorgt haben soll mit einem Plädoyer, die "heute weitgehend
fehlende Verbindung zur Lebenserfahrung" wiederherzustellen.
Besprochen werden ein
Gastspiel der britischen Theatergruppe
Forced Entertainment in Frankfurt,
Klaus Michael Grübers Inszenierung des "Don Giovanni" zur Ruhr-Triennale im Recklinghauser Festspielhaus.
Und
politische Bücher: etwa
Daniel Jonah Goldhagens neue
Studie "Die Katholische Kirche und der Holocaust",
Elazar Barkan Band über eine neue internationalen Moral "Völker klagen an" oder
Volker Heins NGO-Kritik "Weltbürger und Lokalpatrioten" (mehr in unserer
Bücherschau heute ab 14 Uhr).
TAZ, 30.09.2002
Gabriele Goettle scheint im
Urlaub zu sein. Jedenfalls gibt es heute - am letzten Montag des Monats - keinen Text von ihr. Stattdessen
schreibt Helmut Höge unter dem Titel "Der Hass der Unbeholfenen" eine Geschichte der
Bauern und der
Wölfe, in der er es schafft, die
Bauernkriege und
Thomas Müntzer, Engels, die Romantik, das Jahrhundert der Wölfe und die
New Economy unter einen Hut zu bringen.
Jan Engelmann
war bei
Hemingways Statthalter auf Erden:
Norman Mailer hatte zusammen mit seiner sechsten Frau Norris und George Plimpton eine szenische Lesung des Stücks "Zelda, Scott und Ernest" in der Berliner Akademie der Künste gegeben. Zu bewundern gab es dabei, so Engelmann, vor allem die in jeder Ehe perfektionierte hohe Kunst der
versteckten Schläge.
Hinzuweisen ist noch auf einen
Beitrag von
Alfred Grosser, der auf den Tagesthemen- Seiten in gewohnter Eloquenz die
deutsche Wahl und die
Zukunft Europa kommentiert.
Und schließlich
Tom.
SZ, 30.09.2002
Bei der
SZ gibt es heute anscheinend einige Probleme, zumindest steht sie
nicht im Netz. Dabei hat sie durchaus einige interessante Texte im Blatt:
"Amerikas Kino- und
TV-Produktion bleibt
Spitze - und intelligent", erklärt Fritz Göttler allen, die es nicht wissen wollen, nämlich den
europäischen Intellektuellen und Kulturbürokraten. Serien wie "West Wing" mit fiktiven Episoden aus dem Weißen Haus, der Terrorismusthriller "24" oder die Familienserie "Six Foot Under" aus dem
Bestattungsinstitut seien sogar so gut, dass sie gar nicht mehr für den
deutschen Markt vermittelbar seien - ganz zu schweigen von
Steven Spielbergs und
Tom Hanks zehnteiligen Weltkriegsepos "
Band of Brothers", der ganz neue Maßstäbe gesetzt habe. Denn hier, schreibt Göttler, gelten Serien "als
leichtes Futter, als Füllmenge, und je geringer der individuelle Geschmack ist, desto besser. Fernsehbetrieb als Abfütterung, die
TV-Anstalt als Gulaschkanone. 'Mit der Serie macht man es sich
gemütlich, sie ist gefühlvoll, familiär und heimatlich', verkündet im 'Spiegel' ZDF-Programmchef Hans Janke." Ohne rot zu werden.
Dass der russische Schriftsteller und Führer der Nationalbolschewistischen Partei
Eduard Limonow so viele Solidaritätsadressen erhält, seit er vor Gericht steht, findet Markus Mathyl vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung völlig unverständlich. Ihm scheint es, "als wolle die kritische russische Öffentlichkeit nicht zur Kenntnis nehmen, womit sich Limonow in den vergangenen zehn Jahren beschäftigt hat: mit dem
Aufbau einer radikal nationalistischen Jugendorganisation, die alle Experten als neofaschistisch beurteilen, die sich als wichtigste politische Organisation der
Gegenkultur ein Umfeld geschaffen hat, das weit über die politisch Aktiven hinausreicht und für
rassistische Übergriffe mitverantwortlich ist. Diese Bewegung nach den mageren Ergebnissen ihrer sporadischen Wahlabenteuer zu beurteilen, hieße, hiesige Skinheads mit dem Verweis auf eine fehlende parlamentarische Vertretung der 'Glatzen' für nicht existent zu erklären."
Weitere Artikel: In der SZ-Serie zum Internet, beschreibt Andrian Kreye, wie die
Cyber-Ideologen den Erfolg der Computer-Industrie als
gesellschaftliche Revolution verkaufen. Ulrich Kühne berichtet vom
Philosophie-Kongress in Bonn. Jens Bisky war bei
Norman Mailers Lesung in Berlin. Dorothee Müller vermeldet erfreut, dass die
Porzellansammlung August des Starken demnächst wieder im
Dresdner Zwinger zu sehen sein wird.
Auf der Medien-Seite kündet Lars Langenau vom ersten christlichen Fernsehprogramm im deutschsprachigen Abendland, das morgen auf Sendung gehen wird: "Ich glaube. Ich sehe.
Bibel TV".
Besprochen werden
Klaus Michael Grübers "Don Giovanni" bei der Ruhr-Triennale in Recklinghausen, der verpatzte Saison-Auftakt am Deutschen Theater in Berlin mit Stücken von
Eugene O?Neill und
T. S. Eliot, eine Aufführung von
Benjamin Brittens "War Requiem" in der
Peenemünder V2-Produktionsstätte.
Und
Bücher: etwa Dagmar Leupolds Roman "Eden Plaza", ein Band über die Abteikirchen in Blaubeuren oder Markus Krajewskis Schrift "Zettelwirtschaft".