Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.10.2002. In der taz kritisiert der libanesische Autor Abbas Beydoun das schizophrene Verhalten der arabischen Intellektuellen. Die FAZ schildert, wie Silvio Berlusconi den Rechtsstaat demontiert. Die NZZ nennt das Fehlen politischer Repräsentanten bei der Verleihung des Friedenspreises peinlich. Der SZ fand den interkulturellen Dialog bei dieser Gelegenheit bodenlos.

TAZ, 14.10.2002

Auf der Tagesthemenseite kritisiert der libanesische Schriftsteller und Journalist Abbas Beydoun im Interview die arabische Welt und ihre Intellektuellen: Einerseits täten sie alles, um sich an den Westen anzupassen. Da ihnen dies nicht gelinge, gerieten sie ins "Fabulieren und Romantisieren": "Die meisten von ihnen hängen aus den Gründen, die ich die 'Tragödie der Ohnmacht' genannt habe, einer Positivkultur an, die das Gegenteil von Hinterfragen und Anzweifeln ist, die statt dessen das Volk und seine Traditionen streichelt, aber eben auch seine Aggressionen. In der Debatte nach dem 11. September habe ich den arabischen Intellektuellen vorgehalten: Ihr seid nicht imstande, euch an die Stelle des anderen zu versetzen, und diese Tatsache treibt euch zu schizophrenem Verhalten."

Der demokratische US-Abgeordnete Marc McDermott warnt seine Regierung davor, dem Resolutionsentwurf für eine Kriegsermächtigung des Präsidenten zuzustimmen. Seine Rede vor dem Kongress ist im Wortlaut auf der Meinungsseite der taz abgedruckt. Darin fordert McDermott die Alliierten Amerikas zu mehr Widerstand auf und warnt vor einem Alleingang der USA, der die internationalen Bündnisse stark gefährden würde: "Wenn der Kongress diese Kriegsermächtigung beschließt, schaffen wir zwei Präzedenzfälle, die wir in Zukunft noch bedauern werde: Der Kongress überträgt den Präsidenten das Recht, einen Krieg zu beginnen und Amerika kann "präventive Kriege" führen. Lehnen Sie diesen Resolutionsentwurf ab und wahren Sie das Prinzip unserer Verfassung, wonach nur der Kongress einen Krieg erklären kann. ein krieg kann nicht begonnen werden lediglich auf Befehl eines Präsidenten, dessen Interesse an einer diplomatischen Lösung erschöpft ist und der den Kongress erst 48 Stunden nach Abschuss der ersten Raketen informieren muss."

Ebenfalls auf der Meinungsseite: Steffen Grimberg berichtet, dass der Süddeutsche Verlag, zu dem auch die Süddeutsche Zeitung gehört, in ernsten Schwierigkeiten steckt, und erklärt in einem Kommentar, dass nicht nur das Missmanagement an der allgemeinen Zeitungskrise Schuld ist. Auf der Medienseite freut sich der russische Schriftsteller Wladimir Sorokin in einem Interview, dass der Kreml wieder liest - auch wenn ihm das einige Unannehmlichkeiten beschert.

Nun zur Kultur: Gerrit Bartels ist überrascht, wie gut die Stimmung auf der Frankfurter Buchmesse war - trotz der Krise. Parallel zur Frankfurter Buchmesse fand auch die Konferenz "Futura Mundi" statt, auf der man, wie Rene Aguigah bezeugt, die Schriftsteller mit der Rettung der Welt betraut hat. Besprochen werden das Moby-Konzert in der Berliner Arena und Rene Polleschs "24 Stunden sind kein Tag" an der Berliner Volksbühne.

Und schließlich TOM.

FAZ, 14.10.2002

Dietmar Polaczek setzt seine verdienstvolle Berichterstattung über die Aushebelung des italienischen Rechtsstaats durch Silvio Berlusconi, die in den Nachbarländern so gar keine Proteste auszulösen scheint, fort. Vor einiger Zeit berichtete er über ein Gesetz, das es erlaubt, leitende Beamte umstandslos zu feuern und durch "zuverlässige" Marionetten zu ersetzen (was inzwischen dutzendfach geschehen zu sein scheint). Nun geht es den Richtern durch die Konstruktion eines "legitimen Verdachts" auf deren Befangenheit an den Kragen: "Mit dem 'legitimen Verdacht' lässt sich jeder Prozess aushebeln, einem Gericht entziehen und einem anderen übertragen - und das so lange, bis der rechte Richter gefunden, Verjährung eingetreten oder vielleicht in einem weiteren Ausnahmegesetz der Straftatbestand als solcher verschwunden ist." Wie lange wird das skandalöse Schweigen in den Nachbarländern anhalten?

Weitere Artikel: Tilman Spreckelsen liefert einen Stimmungsbericht von der Frankfurter Buchmesse: "Das Gespenst, das durch die Hallen schleicht, heißt Askese." In einer Meldung wird darauf aufmerksam gemacht, dass der neue Nobelpreisträger Imre Kertesz die FAZ in einem Interview mit der Sonntagsausgabe in ihrem unerschrockenen Einsatz gegen Martin Walsers Antisemitismus bestätigte. Verena Lueken stellt die Zeitschrift Correspondence vor, die die Amerikaner mit intellektuellen Debatten außerhalb der USA bekannt machen soll. Frank Pergande äußert angesichts des in Potsdam wiederaufgebauten Schlossportals Zweifel, "ob es Sinn hat, ein unwiderruflich verlorenes Bauwerk in der Gegenwart noch einmal zu errichten", aber nur um sich dem Deus ex machina dann doch gleich zu ergeben. Eberhard Rathgeb gratuliert Peter Nadas zum Sechzigsten.

Auf der letzten Seite berichtet Harald Biermann über neue Dokumente, die John F. Kennedy in der Kuba-Krise weit weniger heroisch erscheinen lassen als bisher angenommen. Jochen Hieber singt eine kleine Hymne auf den lesenden Fußballer Marco Bode. Und Christoph Albrecht resümiert ein Podium über "Europa", das die Zeitschrift Kommune zu ihrem zwanzigsten Geburtstag veranstaltete. Auf der Medienseite beschreibt Anne Schneppen den beneidenswerten Zeitungskonsum der Japaner. In einer Meldung erfahren wir, dass die Süddeutsche Zeitung angeblich zum Verkauf steht.

Besprochen werden die Uraufführung von Walter Hillers Oper "Pinocchio" in München, Istvan Szabos Tschechow-Inszenierungen in Kassel, der Film "Lies - Lust und Lügen" von Jang Sun-Woo, Percy Adlons Berliner Inszenierung von Donizettis "Liebestrank" und eine Ausstellung über sowjetische Fotografie der Zwischenkriegszeit in Wien.

NZZ, 14.10.2002

In der Frankfurter Paulskirche wird der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels an den nigerianischen Schriftsteller Chinua Achebe (mehr hier) verliehen und die deutschen Politiker glänzen durch Abwesenheit, wie Joachim Güntner sich wundert: "Kennen Deutschlands höchste Repräsentanten ihre kulturellen Pflichten nicht mehr? Als am Dienstag die Frankfurter Buchmesse eröffnet wurde, ließ sich Kanzler Schröder vertreten, und gestern fehlte Bundespräsident Rau an der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels." Dieses sei jedoch der einzige Wermutstropfen einer ansonsten würdigen Preisverleihung gewesen.

Entgegen anderslautenden Meinungen, die in der Frankfurter Buchmesse lediglich einen Nebenschauplatz sehen, sieht Roman Bucheli die Messe nach wie vor als Ort der besonderen Art, der für ein vitales Zusammentreffen zwischen Schriftstellern, Verlegern und Kritikern sorgt. Diese Begegnungen "halten einem bewusst, dass die Kunst selbst und die Auseinandersetzung mit ihr immer den Ausnahmezustand, nie die Normalität darstellen." Der mancherorts als Highlight angekündigte Kongress "Frankfurt Futura Mundi" hingegen hatte Uwe Justus Wenzel zufolge nicht viel mehr als große Worte zu bieten. Für ihn "war der Erkenntnisgewinn insgesamt bescheidener als der Unterhaltungswert, der seinerseits nicht übermässig stark zu Buche schlug." Die Zukunft des Kongresses ist für ihn fraglich.

Weitere Artikel: Zwei Monate nach der großen Flut hat Hubertus Adam Dresden besucht und gibt eine detailierte Beschreibung vom Zustand der Kultureinrichtungen, die noch sehr unter den Folgen zu leiden hätten. Auch die Zurückhaltung der Touristen mache der Stadt zu schaffen. Lilo Weber berichtet von der zuende gegangenen Biennale de la Danse in Lyon, die ganz dem lateinamerikanischen Tanz gewidmet war und "Begehren pur" zu bieten hatte.

Besprochen werden "The Pianist", der neue Holocaust-Film von Roman Polanski, Bizets "Carmen" in einer Neuinszenierung von Christian Sedelmayer am Luzerner Theater, sowie Marie Hermansons Roman "Die Schmetterlingsfrau".

FR, 14.10.2002

In Times Mager berichtet "U. Sp.", dass Daniel Jonah Goldhagen zum Auftakt seiner Deutschlandtournee im Frankfurter Schauspielhaus die katholische Kirche, unter anderen "Sühneleistungen", aufgefordert hat, das Neue Testament von allen antisemitischen Stellen zu säubern. Goldhagens moralischer Grundsatz, man müsse sich für angetanes Leid entschuldigen, "das Opfer entschädigen und dafür sorgen, dass es nie wieder passiert", sei zwar selbstverständlich und einleuchtend, gestalte sich jedoch auf historischem Gebiet schwierig: "Bei der historischen Rekonstruktion von Ereignissen geht es um Bezüge, um Kontexte, mit anderen Worten, um Bedingtheiten. Was der strikten Moral als Ausflucht und Beschönigung erscheint, als Versuch, individuelle Verantwortung herabzuspielen, ist für die Geschichte die Voraussetzung dafür, die Vergangenheit der Gegenwart als Erfahrung überhaupt erst verfügbar zu machen: Erst wenn die Bedingtheiten des Handelns geklärt sind, lassen sich die Handlungsspielräume von Individuen ermessen. Eine Moral, die sich dagegen über historische Umstände erhebt, schwächt sich selbst, indem sie einen Absolutheitsanspruch erhebt."

Weitere Artikel: Judith von Sternburg war dabei, als der nigerianische Autor Chinua Achebe, der sonst eher als Unruhestifter in Sachen Rassismus gilt, den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche entgegennahm. Christian Schlüter zeigt sich überrascht von den überhöhten Preisen auf dem Frankfurter Symposium "Futura Mundi. Bridges for a Worl Divided" und konnte auch den vielzitierten multikulturellen Dialog nicht vorfinden.

Besprochen werden Marius von Mayenbergs Stück "Feuergesicht", gespielt vom Theater Oskaras Korsunovas im Frankfurter Mousonturm, ein "west-östliches" Fagottkonzert mit dem Solisten Pascal Gallois und Nenas Jubiläumskonzert in der Frankfurter Jahrhunderthalle.

SZ, 14.10.2002

Ijoma Mangold war dabei, als der nigerianische Schriftsteller Chinua Achebe den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche entgegennahm. Es war "eine Sternstunde der interkulturellen Kommunikation": "Wie Rettungsringe warfen die Redner Begriffe wie 'Erinnerung', 'Dialog' oder die 'Kraft des Wortes' in die Wogen dieser bodenlosen Kommunikation - in der Hoffnung, dass man sich an ihnen gemeinsam festhalten könnte. Das so rührend wie ehrenvolle Ringen um den Dialog zeigt sich auch in einem vollkommenen Mangel an Humor."

Dass der Terror "auf die Sicherheit, die Selbstsicherheit und -verständlichkeit der modernen Welt zielt", hat das jüngste Attentat auf Bali bestätigt, meint Fritz Göttler und prophezeit mit finsterem Pathos: "Ground Zero war ein Ende mit Schrecken. Der eigentliche Terror aber will ein Schrecken ohne Ende sein."

Weitere Artikel: Martin Mosebach zeigt, dass es ganz auf die Perspektive ankommt, ob man dem deutschen Buchhandel die Krise abnimmt oder nicht. Margarete Huber war auf einer Tagung zum Thema "Idole" an der Evangelischen Akademie Tutzing. Helmut Schödel berichtet, dass die Verleihung des Nestroy-Theaterpreises in Wien seltsam politisch geraten ist, was für einige Befremdung gesorgt hat. Für die Reihe Deutschland Extrem, hat der Schriftsteller John von Düffel das älteste deutsche Seemannsheim in Bremen besucht. Die auf der "Futura Mundi" geschlagenen Brücken findet Franziska Augstein eher rhetorisch. Wolfgang Schreiber war auf der "Musica viva" in München, wo zwei Extremfiguren der modernen Konzertmusik aufeinander getroffen sind.Uwe Mattheis berichtet, dass der Dalai Lama höchstpersönlich wird im Grazer Messezentrum das buddhistische Ritual für den Weltfrieden, was nicht nur auf Verständnis von Seiten der Öffentlichkeit stößt. Es wird gemeldet, dass die im Exil lebende Schriftstellerin Taslima Nasrin in ihrem Heimatland Bangladesh wegen Gotteslästerung zu einem Jahr verurteilt wurde und dass bei der "Frankfurter Rundschau" die Chef-Redaktion neu besetzt wird.

Auf der Medienseite widmet sich Michael Ebert Helmut Zerlett, dem zurückhaltenden Bandleader der Harald-Schmidt-Show.

Besprochen werden Nenas Bühnenjubiläum in Frankfurt, Percy Adlons Inszenierung von Donizettis "Liebstrank" an der Berliner Staatsoper, die Uraufführung von Dario Fos Satire-Stück über Berlusconi, Maxim Billers Regiedebüt "Kühltransport" am Mainzer Staatstheater, Istvan Szabos "Drei Schwestern" in Kassel, Kino - Jang Sun Woos Film "Lies - Lust und Lügen" und Natasha Arthys "Miracle" - und schließlich Bücher, der letzte Band von Tad Williams' "Otherland"- Tetralogie, ein Fotoband über Afghanistan und zwei Sachbücher zum Thema Terrorismus (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).