Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.10.2002. In der SZ gibt Robert Menasse einen Grundkurs in Wiener Logik. Die FAZ schlägt eine Umbenennung des Münchner Salvatorplatzes in Rabbi-Jesus-Platz vor. In der FR verabschiedet sich Niels Werber von Plateaus, Netzen und Rhizomen. Die taz bricht eine Lanze für singer-songwriters. Die NZZ beklagt einen neuen Konservativismus in der russischen Literatur.

FAZ, 18.10.2002

Patrick Bahners begleitet Daniel Goldhagen auf Lesereise mit seinem umstrittenen Buch "Die katholische Kirche und der Holocaust" und hat einen ganz und gar üblen Eindruck von dem Mann, der für ihn den Katholizismus selbst mit dem Antijudaismus identifiziert: "Antisemit, weil Katholik", lauter Bahners' griffige Formel für Goldhagens Argumentation, und so ist wohl auch die polemische Frage am Anfang seines Artikels zu verstehen: "Das Münchner Literaturhaus liegt am Salvatorplatz. Wenn in ein paar Jahren Daniel Goldhagen hier wieder Station macht, um seinen dritten von der Fachkritik einhellig verrissenen Bestseller vorzustellen, vielleicht 'Hitlers willige Testamentsvollstrecker', wird dann der Platz umbenannt sein in Rabbi-Jesus-Platz?"

Weitere Artikel: Joseph Hanimann fragt, ob Frankreich sittlich werden will - man diskutiert über das Verbot von Büchern, die von Pädophilie handeln, der Prostitution und von Pornografie im Fernsehen. Ilona Lehnart hat die rotgrüne Koalitionsvereinbarung gelesen und herausgefunden, dass die Kultur nur eine Nebenrolle spielt: "Weder wird der Kompetenzbereich der designierten Kulturstaatsministerin Christina Weiss erweitert noch beschnitten." Martin Kämpchen kommentiert indische Debatten zum 11. September. Brita Sachs stellt einen Skulpturenschrein von Anselm Kiefer in Salzburg vor. Nils Aschenbeck meldet den drohenden Abriss der "Südzentrale" in Wilhelmshaven, eines architektonisch bedeutenden Kraftwerks vom Beginn des letzten Jahrhunderts (mehr hier). Christian Schwägerl resümiert britische Diskussionen über die "Verhaltensgenetik". Peter Körte schreibt ein kleines Profil des in Montreal lebenden (und gerade in Berlin lehrenden) Autor Yann Martel, dessen neuestes Buch "Life of Pi" (Auszug) als Kandidat für den Booker Prize gehandelt wird.

Auf der Medienseite freut sich Michael Seewald, dass Bettina Reitz zur Fernsehspielchefin des Bayerischen Rundfunks gekürt wurde. Und Thomas Scheen schildert die Rolle der Medien im Bürgerkrieg an der Elfenbeinküste.

Besprochen werden eine Aufführung von Kathrin Rögglas "fake reports" am Wiener Volkstheater, eine Ausstellung mit Zeichnungen von Antonin Artaud (Bild) in Wien, die Kafka-Ausstellung "The City of K." im Jüdischen Museum von New York, eine Aufführung der "Endstation Sehnsucht" mit Glenn Close in New York, das Jazz-Festival von Vilnius und Iain Softleys Film "K-Pax".

FR, 18.10.2002

Niels Werber nimmt Abschied vom Netzwerkdenken der vergangenen Jahre. In Zukunft wird es wieder klare Positionen, klare Gegensätze und klare Konflikte geben. "Die schon oft totgesagte Geopolitik triumphiert über die vermeintliche Deterritorialisierung der Weltgesellschaft. Es geht nun um nicht weniger als eine neue Welt-Raum-Ordnung. Und die ist binär. Es mag zwar nach wie vor Tausende von Plateaus, Netzen und Rhizomen geben, doch gibt es eine Differenz, die alles supercodiert: Zentrum und Peripherie. Die Lage der Welt ist weder einfacher noch friedlicher, sicher aber übersichtlicher geworden."

Wie man einer sterbenden Stadt wieder Leben einhaucht, zeigt Gabriella Vitiello am Vorbild des Oriol Bohigas, dem ehemaligen Bürgermeister im katalanischen Salerno. "Bohigas verabschiedet sich vom beengten, kleinbürgerlichen und übertrieben individuellen Wohnmodell mit seinen Vorbildern im amerikanischen und nordeuropäischen Raum. (...) Der Urbanist strebt hingegen eine möglichst kompakte Stadt an - ohne Lücken und zerfranste Ränder."

Weiteres: Als anmaßend empfindet Manfred Schneider die Behauptung des Washingtoner Heckenschützen, er sei Gott, als "irren, irrlichternden Doppelgänger des Präsidenten" kann er ihn sich aber durchaus vorstellen. "Esch" erklärt, warum New Yorks Bürgermeister Mike Bloomberg es sich mit den Italienern seiner Stadt verscherzt hat. Christian Schlüter ist ganz begeistert von der Power-Point-Präsentation Bruno Latours (Kurzbiografie hier) während seines Vortrags über "Das Versprechen des Konstruktivismus" in Potsdam. Tim Gorbauch hört das Herz des europäischen Jazz in Norwegen schlagen.

Besprechungen widmen sich dem neuen Album des britischen Indie-Pop Trios Saint Etienne, einer Hommage an Antonin Artaud (mehr hier und hier) im Wiener Museum Moderner Kunst, einer Ausstellung über das Christusbild in der Fotografie im Pariser Hotel des Sully, Natasha Artys frechen Dänen-Film "Miracle - Ein Engel für Dennis P." und Iain Softleys Science-Fiction-Streifen "K-Pax".

TAZ, 18.10.2002

Jörg Feyer bricht eine Lanze für diejenigen amerikanischen Songschreiber, die ihren kritischen Blick auch in solch patriotischen Zeiten nicht verloren haben. Manchmal ist er bei der Beschreibung der Folgen von 9/11 auf die Musiker aber auch etwas kryptisch: "Doch dann saß auch Steve Earle ཀྵ Minuten geschockt vorm Fernseher' und fürchtete gleich, sein Engagement gegen die Todesstrafe sei nun 'völlig umsonst' gewesen (was sich zu seiner Überraschung als falsch herausstellte)." Na dann.

Birge Schade spricht über ihre Rolle in Christoph Roths Film "Baader" und die reale Ulrike Meinhof. Und wundert sich über den Umgangston unter Revolutionären. "Die haben sich nicht mit Samthandschuhen angefasst. Für uns war es gewöhnungsbedürftig, wenn Frauen unentwegt als 'Fotze' bezeichnet wurden. Schwer nachzuvollziehen, wie man das aushält." Daneben gibt es eine Besprechung des Films von Stefan Reinecke.

Auf der Medienseite stellt Peter Nowak schwer resigniert fest, dass die Bild-Zeitung "selbst in linken Wohngemeinschaften nicht mehr als Provokation angesehen" wird. Steffen Grimberg berichtet von der Blockade bei der Wahl des künftigen ZDF-Programmdirektors.

Besprochen werden die neuen Alben von Truth Hurts und Ms. Dynamite.

Und schließlich TOM.

NZZ, 18.10.2002

In der russischen Kultur- und Literaturszene tobt ein revolutionsähnlicher Richtungskampf gegen die "Westernisierung" und "McDonaldisierung" der russischen Literaturszene, wie Felix Philipp Ingold berichtet. "Machtvoll und aggressiv zeichnet sich neuerdings eine 'konservative Revolution' ab, die den literarischen Westimport und dessen russische Adepten mit allen Mitteln - sei es durch öffentliche Büchervernichtung oder durch spektakuläre gerichtliche Verfahren - zurückzudrängen versucht im Namen einer 'reinen, nicht käuflichen' künstlerischen Kultur, die zugleich 'authentisch russisch' sein sollte. Dieser neue Konservatismus wird nicht nur von weithin bekannten älteren Autoren wie Rasputin, Solschenizyn oder Wassiljew lautstark propagiert, sondern auch von jungen, eher politisch denn literarisch engagierten Aktivisten aus dem Umkreis der Putin'schen 'Einheit'-Partei." Dass sich die anspruchsvolle Literatur in Russland in einer Krise befindet, wird aber auch von den liberalen Kritikern nicht bestritten.

Respektvoll zeichnet Joachim Güntner ein Porträt der zukünftigen deutschen Kulturstaatsministerin Christina Weiss. Sie hat "einen emphatischen Kulturbegriff, sie glaubt daran, dass substanzielle Kunst den Menschen klüger macht, dass die Kultur - nicht die Politik - die Grundlagen für das menschliche Miteinander legt und dass erst der durch Kunst und Kultur gebildete Mensch wirklich gemeinschaftsfähig ist."

Weitere Artikel: In einem Gespräch mit Thomas Binotto plaudert der Kameramann Michael Ballhaus über sein früheres Idol und die erfolgreiche Zusammenarbeit mit Martin Scorsese (mehr hier). Anlass ist die Präsentation seines Buches "Das fliegende Auge", in dem er mit Tom Tykwer über seine filmische Arbeit spricht. Marc Zitzmann freut sich auf die Eröffnung des ersten irischen Kulturzentrums 'Centre Culturel Irlandais' in Paris, von dem er sich eine stärkere Wahrnehmung der irischen Kultur erhofft. Und "gü" meldet, dass Siegfried Unseld mit seiner Klage gegen seinen Sohn Joachim Erfolg gehabt hat, in der um Geschäftsanteile an der Verlagsgruppe Suhrkamp-Insel gestritten wurde.

Besprochen werden heute zwei CDs des Komponisten Heiner Goebbels, das in Wien aufgeführte Stück "fake reports" von Kathrin Rögglas, Fritz Hausers Stück "Schallmaschine" in der Basler Kaserne, elf elfminütige Filme zu den Attentaten vom 11. September, der ägyptischen Film "Alimby", Christopher Nolans Thriller "Insomnia" mit Al Pacino, und ein Buch über den tiefen Fall des Leo Kirch von Thomas Clark.

SZ, 18.10.2002

Vor der Wahl in Österreich gibt uns der Schriftsteller Robert Menasse (mehr hier) noch einmal einen vergnüglichen Crashkurs in Sachen Landeskunde. Das Grundprinzip: "Man stelle sich das Gegenteil dessen vor, was man für logisch hält, und setze es als österreichische Normalität voraus." Beispiel? Bitte sehr: "Der führerzähmende 'Reformpolitiker', der sich als Dritter der Wählerzustimmung das Kanzler-Amt erschlichen hat, gibt bekannt, dass er leider Neuwahlen ausschreiben müsse, weil ein ressentimentgeladener Chaotenhaufen, nämlich sein Koalitionspartner, abgesprungen sei - und fügt hinzu, dass er nach der Wahl am liebsten ebendiese Koalition fortsetzen möchte... Wie reagiert die öffentliche Meinung in Österreich auf den Vorschlag, durch Neuwahlen jene Regierung zu bestätigen, die diese vorzeitigen Neuwahlen notwendig gemacht hat? Sie gibt, laut Meinungsumfragen, diesem Politiker, der eben noch abgeschlagen Dritter in der Wählerzustimmung war, die Mehrheit, die besten Zustimmungsdaten für seine Partei seit sechsunddreißig Jahren."

Zum Niedergang von Fiat weiß der italienische Autor Carlo Fruttero nichts zu sagen, wie er zugibt, aber er hat ein paar sehr schöne Erinnerungen an Fiat und Turin: "Ich sah die Familienväter, wie sie sonntags aus den Bäckereien mit Tabletts voller kremiger Meisterwerke kamen, und ich sagte mir: warum auch nicht, das hat nichts Demütigendes. Hinter ihnen steht Fiat, das ihnen ihre kleinen Freuden erlaubt, sie bürgerlich unter den Arkaden spazieren und Zuckerbäckereien essen lässt, wie die schönen Damen beim Dichter Guido Gozzanos und seinem Turiner Kreis des 'Crepuscolarismo', der Gefühlsdämmerung. Wohingegen etwas weiter, in der großen weiten Welt, Fiat sich mit der Weltwirtschaft, den Weltherrschern, den Weltproblemen messen musste. Die Spiegelungen dieses Bühnenbildes waren deutlich auf den Marrons Glaces zu erkennen. Auch ich kaufte sie, ganz unbeschwert.

Weitere Artikel: Wer reist, lebt gefährlich. Michael Winter schreibt über den Wandel des Touristen zum Frontsoldaten. Claus Koch macht sich Notizen zur Kulturmacht Amerika und der Selbstbehauptung Europas. Fritz Göttler erzählt den Erfolg Michael Moores mit einem unbequemen Film. Marc Deckert erklärt New York zur Welthauptstadt des Rock. "sko" meldet, dass Penthouse-Verleger Robert Guccione seine Kunstsammlung verkaufen muss. "KB" verurteilt die einfallslose Musikindustrie, die nichts mehr kann als Altes wieder aufzubereiten. Thomas Thieringer hat erfahren, dass Simone Young, künstlerische Leiterin der Opera Australia, das jüngste Opfer der Krämerseelen im Kulturbetrieb geworden ist. Katharina Kramer macht auf die deutschen Minderheitensprachen aufmerksam. Ralf Berhorst berichtet von einer Tagung zur Kuba-Krise in Berlin. Jens Bisky weiß von einer unbekannten Kleist-Handschrift, die zum 225. Geburtstag des Dichters in Frankfurt an der Oder vorgestellt werden soll. "cjos" schreibt zum Tod des Historikers Timothy Reuter.

Die Medienseite widmet sich dem Stillstand bei der Wahl des künftigen ZDF-Programmdirektors sowie der "Berliner Republik", der Zeitschrift der neuen SPD-Generation.

Besprochen werden eine Retrospektive der Werke Stephan von Huenes im Münchner Haus der Kunst, Antoine Uitdehaags zwiespältige Inszenierung von Martin Crimps "Auf dem Land" im Münchner Cuvillies Theater, Yvan Attals gelungene französische Filmkomödie "Meine Frau, die Schauspielerin" und Bücher, Nelly Arcans Debütroman "Hure" (die Website zu Buch und Autorin), einen Bildband über die architektonische Kunst des Weglassens und Avraham Barkais Geschichte des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).