Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.10.2002. In der FR erzählt György Dalos, wie schwer es der heutige Nobelpreisträger Imre Kertesz als Autor in Ungarn hatte. Die SZ plädiert angesichts der Geiselnahme in Moskau dringend für eine politische Lösung im Tschetschenienkrieg. Die NZZ geht Wandern mit Heidegger. Die FAZ will nicht, dass die Türkei in die EU aufgenommen wird.

FR, 25.10.2002

György Dalos (mehr hier) berichtet mit einem lachenden und einem weinenden Auge, wie schwierig es für den frischgebackenen Literaturnobelpreisträger Imre Kertesz (mehr hier) einst war, in Ungarn als Schriftsteller anerkannt zu werden. "Wie es in braven sozialistischen Ländern üblich war, hatte auch Ungarn zwei große Verlagshäuser für seine Literatur. Bei einem davon klopfte der damals bereits über 40-jährige Kertesz schüchtern an. Aufgrund von Lektorengutachten (die im übrigen für das Verständnis der Zeit nicht weniger interessant sind als Spitzelberichte) lehnte der Direktor das Manuskript ab. 'Die künstlerische Gestaltung Ihres Lebensstoffs ist misslungen, obwohl dieser erschütternd ist', lesen wir heute und können es kaum glauben, und: die 'ungeschickt und umständlich formulierten Sätze des Romans' könnten auf manche Leser 'verletzend wirken'."

Der amerikanische Historiker David Schoenbaum spricht über die Spiegel-Äffare, die sich morgen zum vierzigsten Mal jährt. Schoenbaum hat nicht nur ein Buch darüber veröffentlicht, er ist wohl einer der wenigen Amerikaner überhaupt, die mit dem Begriff etwas anfangen können. Er nimmt's gelassen, wie es scheint: Frage: "Sie haben das Buch für ein amerikanisches Publikum geschrieben. Wie war das Echo auf die Veröffentlichung in den USA?" Antwort: "Gleich Null. Als das Buch 1968 erschien war das Interesse für 1962 längst verpufft. Großes Interesse für die gelungene Demokratisierung Nachkriegsdeutschlands hat es sowieso nicht gegeben." Frage: "Wie war das Echo aus der Bundesrepublik nach dem Erscheinen des Buches in deutscher Sprache?" Antwort: "Ebenfalls gleich Null, obschon ich als Erster und, so viel ich weiß, bis dato einziger, auf die Atomspiele des damaligen Verteidigungsminister Strauß aufmerksam machte, die die Affäre auslösten, und damals bei der NATO als kosmisches Geheimnis eingestuft waren."

Außerdem bringt Eckhard Henscheid ein dreifaches Hurra auf Wladimir Kramnik aus, der dem Schachcomputer Deep Fritz gezeigt hat (mehr zum Duell hier), wozu das Auslaufmodell Mensch noch fähig ist. In Times mager erklärt "thm" Boris Becker zum Auslaufmodell, dessen Schicksalsschläge schon in den neunziger Jahren niemanden interessiert haben. Thomas Veser gratuliert der Bertelsmann Stiftung, die in Kairo eine Modellbibliothek hingestellt und dabei mit den landestypischen "Gepflogenheiten aufgeräumt" hat. In Mohns Haus kann man nun "junge Mütter beobachten, die dem Nachwuchs aus Büchern vorlesen." Aha.

Besprochen werden Maria von Helands sehenswertes Debüt "Große Mädchen weinen nicht", Ole Christian Madsens dogma-orientierter Film "Kira", eine Schau mit Werken von Richard Phillips in Hamburg, eine Ausstellung über die Kulturgeschichte des Ostseeraums in Kopenhagen, und als CD der Woche ist der Zyklus "Zeit und Wasser" des isländischen Komponisten Atli Heimir Sveinsson nominiert.

SZ, 25.10.2002

Die SZ hat offensichtlich viele Russlandkontakte, und nicht die schlechtesten: Informativ und ironisch fällt die Lageeinschätzung Alexander Ikonnikows (mehr hier) zur Rückkehr der Angst im Allgemeinen und dem Moskauer Geiseldrama im Besonderen aus, in der er die Publicity für den verhängnisvollen Krieg in Tschetschenien begrüßt. Denn alleine kommt Russland da wohl nicht mehr raus: "Unter den Geiselnehmern sollen auch Frauen sein, die ihre im Tschetschenien-Krieg gefallenen Männer rächen wollen. Das ist gut möglich. Die Tradition der Blutrache ist ja einer der Gründe, warum der Krieg so eskalierte. Verwandte eines gefallenen Soldaten müssen ihn rächen. Und so zieht die Gewalt immer weitere Kreise. (...) Ich begreife einfach nicht, warum Russland immer versucht, seine Probleme militärisch zu lösen. Ich bin sicher, es gibt eine politische Lösung für den Tschetschenien-Krieg. Es muss sie geben." Sein Wort in Putins Ohr.

Weitere Artikel: Alex Rühle hat im Internet (nämlich hier und hier) erfahren, dass wer häufig masturbiert, als Scharfschütze völlig ungeeignet ist. Gottfried Knapp hat sich nach Bali begeben und scheint bei der Betrachtung von Markus Heinsdorffs dort über einem Reisfeld schwebenden Kunst-Zeppelin Skyplace etwas "von den unversöhnlichen Gegensätzen zu ahnen, die, wenn sie offen ausgestellt sind wie in den ordinären Tummelplätzen des Massentourismus unten am Meer, den Zorn geradezu herausfordern." Wolf Lepenies liest einen eigentlich literaturwissenschaftlichen Essay von Jonathan Franzen im New Yorker (leider nicht im Netz gefunden), den man aber auch gut als Angriff auf den "politischen Autor" George W. Bush beziehen kann. Fritz Göttler erzählt von der hektischen Suche des Random House Verlags nach einem Autor für eine Fortsetzung der legendären Godfather-Reihe, eine Art "Der Pate kehrt zurück". Stefan Koldehoff weiß, warum es immer mehr Prozesse um Künstlernachlässe gibt, wie etwa den Streit um Alberto Giacomettis Hausrat, der auf 150 Millionen Euro geschätzt wird.

Auf der Literaturseite begibt sich Reinhard Pabst auf Spurensuche nach Amorbach (der Bahnhof hat eine eigene Seite), dem "Lieblingsstädtchen" Theodor W. Adornos. Den Reclam-Automaten von damals gibt es leider heute nicht mehr.

Auf der Medienseite berichtet Peter Burghardt von einer argentinischen Show, bei der man etwas wirklich Wertvolles gewinnen kann: einen Job. Hans Hoff weiß von Plänen des niederländischen TV-Giganten Endemol, mit einer Doku-Soap über ein ostdeutsches Dorf die blühenden Landschaften im Alleingang zu errichten.

Besprochen werden Hartmut Bitomskys filmische Hommage an die "B-52" (mehr hier), Ashutosh Gowarikers mitreißender indischer Kricketfilm "Lagaan", Shakespeares "Macbeth" in der Inszenierung von Barrie Kosky am Wiener Schauspielhaus, Gesine Danckwarts Meinnicht am Hamburger Thalia Theater, Pergolesis Stabat Mater am Zürcher Theater Neumarkt, eine Ausstellung der Fotografien Thomas Demands über die schwarzen Löcher der Erinnerung im Münchner Lenbachhaus sowie eine Schau italienischer Farbholzschnitte aus den Weimarer Sammlungen im Haus der Kunst, ebenso in München.

Buchbesprechungen widmen sich Jürgen Trabants leidenschaftlichen Studien zu Sprache und Politik in Deutschland und Frankreich und der Doppelautobiografie der beiden Wissenschaftler und Bürgerrechtler Georg und Wilma Iggers (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 25.10.2002

In ihrer eindringlichen Reportage auf der Tagesthemen-Seite schildert Susanne Knaul, wie Tausende von palästinensischen Arbeitern die Nacht an einem Grenzposten verbringen, um tagsüber auf der anderen Seite arbeiten zu können. Hassans "Tag beginnt zwischen 22 und 23 Uhr. Rund zwanzig Minuten sind es mit dem Sammeltaxi aus Gaza bis zum Kontrollpunkt Richtung Israel. Dort nimmt er seinen Platz in der Warteschlange ein. Um zwei Uhr morgens öffnen die palästinensischen Grenzposten das erste Eisentor. Eine Stunde später die Israelis. Zwischen fünf und sechs Uhr erreicht er seinen Arbeitsplatz, einen Bauplatz in Aschdod, Israel, nur dreißig Kilometer vom Stadtzentrum Gazas entfernt."

Auf der Medienseite annonciert Roland Hofwiler eine Arte-Dokumentation über die Methoden der österreichischen Boulevardzeitung Krone, während Christian Jöricke dem Comic-Heft MAD nicht so wirklich zum Fünfzigsten gratulieren will. Es ist ihm zu durchschnittlich geworden.

Das Feuilleton gibt sich musikalisch: Christian Broecking stellt in seinem Artikel nicht nur den Jazzmusiker Joe Zawinul (mehr hier) vor, sondern auch sein neues Album sowie eine Biografie über ihn. Max Dax porträtiert den House-Musiker Steve Bug, der der Krise der Musikindustrie auch gute Seiten abgewinnen kann. Tobias Rapp verrät uns noch, wie Jerry Bruckheimers Afghanistan-Serie "Profiles from the Frontline" um einen Sendeplatz kämpft.

Besprochen werden Funny van Dannens neue Platte "Grooveman" sowie "Sich bestimmen lassen", das jüngste Buch des Philosophen Martin Seel.

Und schließlich TOM.

NZZ, 25.10.2002

Wandern mit Heidegger! Ludger Lütkehaus ist den Martin-Heidegger-Weg, eine Art "existenzialontologisches Freilichtmuseum", entlangmarschiert, mit dem die Gemeinde Todtnauberg jetzt ihren berühmtesten Einwohner geehrt hat. "Der fast sechseinhalb Kilometer lange Weg verläuft in der Form eines Panorama-Rundweges über dem Ort. Aus- und Übersicht gibt es reichlich. Hier auch nur in die Irre gehen zu können, scheint ausgeschlossen ... Doch für alle Fälle wird dem Wanderer Heideggers Orientierungshinweis mit auf den Weg gegeben: 'Wer groß denkt, muss groß irren.'" Der Weg ist mit fünf Schautafeln ausgestattet, zum Beispiel zur Frage: Wer war Martin Heidegger? "Das Konkretisierungspotenzial einer Schautafel ist hier naturgemäss begrenzt. Aber der Raum reicht doch, um an einem der bekannten neuralgischen Punkte mitzuteilen, dass der Rücktritt des NS-Rektors Heidegger seinem Protest gegen die Entlassung der Dekane von Möllendorff und Erik Wolf zuzuschreiben war. Im Grunde also schon 1934 ein Mann des Widerstands!"

Weitere Artikel: Angelika Affentranger-Kirchrath stellt das neue Museum Franz Gertsch in Burgdorf vor, das an diesem Wochenende eröffnet wird, und würdigt den Sponsor: "Spontan konnte sich der Industrielle Willy Michel für das Projekt Museum Franz Gertsch begeistern. Er scheute keine Mittel an Finanzen, aber auch nicht Zeit und Engagement, um das Vorhaben in die Tat umzusetzen." Sda meldet Finanzprobleme des Kunstmuseums Bern. Potentielle Sponsoren melden sie bitte hier.

Auf der Filmseite berichtet Robert Richter über das Festival für Dokumentarfilme in Leipzig. Claudia Schwartz hat Dominique de Rivaz bei den Dreharbeiten zu seinem Film über Bach besucht. Besprochen wird Erich Langjahrs Film "Hirtenreise ins dritte Jahrtausend".

Besprochen werden eine Ausstellung der Architekten Adam Caruso und Peter St John in der Architekturgalerie Luzern, Inszenierungen aus Korea beim Pariser Festival d'Automne, eine Aufführung der Rambert Dance Company im Theater Basel und ein Konzert (Brahms' Klavierkonzert Nr. 1 d-Moll) mit Krystian Zimerman in der Zürcher Tonhalle.

FAZ, 25.10.2002

Wir können heute keine Links auf die FAZ setzen, da um 9 Uhr morgens noch die Ausgabe von gestern im Netz stand. Vielleicht sollten Sie später noch einmal hier vorbeischauen.

Mark Siemons will nicht, dass die Türkei in die EU aufgenommen wird. Dass sich das Land in seinem Anspruch auf den westlichen Universalismus beruft, stimmt ihn nicht weicher, denn dieser sei ihm nur übergestülpt worden: "Die Türkei ist ein Beispiel dafür, dass die Abstraktionen der europäischen Ideale allein noch nichts hervorbringen, was Europa gleicht." Mit den westlichen Werten ist es sowieso eine komplizierte Sache: Sie sind "eben keine fertig kodifizierte Ideologie, die es nun noch wehrhaft zu verteidigen gälte. Diese Werte aktualisieren sich erst in der ständig erneuerten Wahrnehmung der Außenwelt." Um die westlichen Werte zu bewahren, muss eine Türkei, die sich auf westliche Werte beruft, folglich draußen bleiben.

Weitere Artikel: Kerstin Holm erzählt, was im Moskauer Musicaltheater Nordost gespielt wurde, bevor die Geiseln kam - ein aufpoliertes sowjetisches Revolutionsdrama. Dietmar Polaczek berichtet über einen Bestechungsprozess gegen Berlusconi-Anwälte und die weitere, von der europäischen Öffentlichkeit mit skandalösem Schweigen hingenommene Aushöhlung des Rechtsstaats. Dirk Schümer ruft nach dem schmählichen Ende der niederländischen Koalition das Ende des europäischen Populismus aus. Gina Thomas schreibt zum Tod der Autorin und Historikerin Elizabeth Longford. Der Theologe Peter Lampe hält die neulich in Israel aufgefundene Gebeinkiste mit der Aufschrift "Jakob, Sohn des Joseph, Bruder des Jesus" für authentisch. Oliver Jungen gratuliert dem Historiker Werner Paravicini zum Sechzigsten.

Auf der letzten Seite spekuliert Dietmar Dath über die Bedeutung der vom Washingtoner Sniper hinterlassenen Tarotkarten. Zhou Derong berichtet über einen wiederkehrenden byzantinischen Personenkult um den großen Führer Jiang Zemin, unter dessen glorioser und jetzt dreizehnjähriger Herrschaft es unter anderem gelang, über 40.000 Geldautomaten aufzustellen, wofür er durch übergroße Wandgemälde geehrt wird. Hans-Joachim Neubauer schreibt ein kleines Profil des Historikers Herbert A. Strauss, der die deutsche Antisemitismusforschung mit begründete. Auf der Medienseite stellt Alxander Bartl das Computerspiel "Anno 1503" vor.

Besprochen werden Berlioz' "Benvenuto Cellini" in Zürich, eine Retrospektive des Malers Richard Paul Lohse, ebenfalls in Zürich, Carl Franklins Film "High Crimes", Gesine Danckwarts Stück "Meinnicht" in Hamburg und Konzerte der Bands Johan und Slut in Hamburg.