Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.11.2002. Die Zeitungen berichten von der Beisetzung Siegfried Unselds in Frankfurt. Der schönste Bericht steht in der Berliner Zeitung. Auch wenn man sich in Washington über die Deutschen ärgert, sind sie noch lange nicht wichtig, meint Wolf Lepenies in der SZ. Die FR feiert die Helden des Alltags in der EU. Die NZZ porträtiert zwei in Israel lebende Schriftsteller: Sayed Kashua und Alona Kimhi. Die taz geißelt Faulheit und Ignoranz westlicher Korrespondenten in der Dritten Welt. Die FAZ erzählt, wie Spanien sich an die Verbrechen der Franco-Ära erinnert.

Weitere Medien, 04.11.2002

"Kein Film hat dieses Defilee festgehalten, kein Saint-Simon das Protokoll aufgezeichnet. Das ist fast ein Verbrechen, denn wer etwas erfahren möchte über die Kultur der Suhrkamp-Kultur, auch über ihren Umgang mit dem Krieg in den eigenen Reihen, der hätte hier ein einzigartiges Dokument." Dafür haben wir Arno Widmanns Text über das Begräbnis Siegfried Unselds in der Berliner Zeitung. Widmann beschreibt als einziger detailliert die "Aktionen" am Grab, "symbolische Handlungen", deren Sinn sich erst herausstellen werde, "wenn die Diadochenkämpfe vorüber, die Nachfolgeschlachten geschlagen sind und die tatsächlichen Sieger feststehen." Wie hielten sich Reich-Ranicki und Walser oder Ulla Berkewicz und Joachim Unseld? "Die Witwe stand vor dem offenen Grab. Allein. Ein paar Schritte neben ihr, also nicht mehr direkt vor dem Grab, stand ihr Stiefsohn, Joachim Unseld. Hinter ihm standen seine Frau und sein Kind. Als Ulla Berkewicz zur Seite trat und sich zur Entgegennahme der Kondolenzwünsche aufstellte, ging Joachim Unseld an ihr vorbei. Seine Frau aber reichte der Witwe die Hand, nun wandte Joachim Unseld sich zurück und auch er kondolierte ihr. Dann wollte er weitergehen. Seine Frau aber machte ihm klar, dass er hier stehen bleiben müsse - neben der Witwe. Keiner unter den Versammelten, der nicht erst die Verweigerung und schließlich die Gewährung des Händedrucks aufmerksam registriert hätte. Keinem entging auch, wie Ulla Berkewicz ihren Bruder nahm und ihn zwischen sich und Joachim Unseld stellte."

SZ, 04.11.2002

Ijoma Mangold war bei der Beisetzung Siegfried Unselds in Frankfurt und berichtet sichtlich ergriffen: "Diese Trauerfeier war erhaben, ohne monumental zu sein, schön, ohne inszeniert zu wirken, traurig, ohne sentimental zu werden, intim, ohne familiär zu sein."

Wolf Lepenies empfiehlt den Deutschen, sich nicht über die jüngsten Verstimmungen in der deutsch-amerikanischen Beziehung zu grämen: "Dass man sich über die Regierung in Berlin ärgert, bedeutet noch nicht, dass man sie wichtig nimmt." Dass Besondere an dieser diplomatischen Trübung sei eher, dass das ungleiche Paar in eine neue Ära der Ehrlichkeit eintrete: "Man ärgert sich über die Deutschen, aber man braucht sie nicht wirklich. Gedacht hat man dies seit dem Ende des Kalten Krieges. Jetzt sagt man es auch." Doch auch wenn den meisten Europäern "die Handlungen und die Rhetorik der USA als aggressiv und überheblich" erscheinen mögen, sollten sie nicht "den Fehler machen, das Land mit seiner Regierung gleichzusetzen. Die patriotische Sprache, die im Augenblick in Amerika jeder spricht, ist ein Kitt, der tiefe Risse verbirgt." Denn "nirgends ist die Kritik an der Außenpolitik der USA und an der Verarmung der innenpolitischen Debatte so stark wie in den USA". Und für diese "einheimischen Kritiker" spielen die "europäischen Stimmen" ganz sicher eine Rolle.

Weitere Artikel: Tobias Kniebe zieht überraschende Parallelen zwischen Altrocker Westernhagen und Altsozi Schröder. Ralf Berhorst findet, dass die Zeit auf dem Symposium "Zeithorizonte in der Wissenschaft" in der Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (mehr hier) letztlich ihre Unbegreiflichkeit gewahrt hat. Tim B. Müller porträtiert den prophetisch anmutenden Geschichtswissenschaftler Hayden White. "Lmue" diagnostiziert Herbstmüdigkeit bei der Tagung der Berliner Akademie der Künste. Jörg Hantzschel erklärt, dass die Zukunft der Baubranche in China liegt. C. Bernd Sucher gratuliert dem Theaterregisseur Benno Besson (mehr hier) zum Achtzigsten. "Amet" schreibt einen Nachruf auf den französischen Mathematiker Rene Thom (mehr hier), der für seine Katastrophentheorie bekannt war. Und in der Kolumne berichtet "Midt", dass nach Shakespeare nun auch bei "Star Wars" gekürzt wird.

Auf der Medienseite amüsiert sich Hans Hoff über sinnleeres Mediengeturtel zwischen Inge Meysel und Günther Jauch, ihres Zeichens Mutter und Schwiegersohn der Nation. Birgit Weidinger stellt den britischen "Naked Chef" Jamie Oliver vor. Klaus Ott erläutert den Prozess um die EM-TV-Chefs Thomas und Florian Haffa.

Besprochen werden eine Thomas-Gainsborough-Retrospektive in der Londoner Tate Britain, Rintaros Zukunfts-Zeichenfilm "Robotic Angel", Chris Kraus' Film "Scherbentanz", Marc Günthers Inszenierungen von Shakespeares "Othello" und Ingrid Lausunds "Zuhause" am Kölner Schauspielhaus. Und Bücher: George Taboris Erinnerungen, Hallgrimur Helgasons Roman "101 Reykjavik", eine Ronald-Schill-Biografie und eine Studie über die "neue Familie" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 04.11.2002

Dass die EU-Staaten in Hinblick auf die Ost-Erweiterung umdenken müssen, hat sich für Ulrich Speck bei den 29. Frankfurter Römerberggesprächen deutlich gezeigt. Es gelte, "den Osten nicht mehr als Objekt westlichen Handelns, sondern als Subjekt einer eigenen Geschichte und Wahrnehmung" zu begreifen. Denn die Auflösung des Ostblocks habe "keineswegs eine tabula rasa hinterlassen". Doch neben diesem durchaus berechtigten Selbstbewusstsein seien auch "vertrautere Töne" hörbar gewesen: "Die Revolution ist gescheitert, die neuen Herren sind die alten, und die Russen wollen immer noch wie vor hundertfünfzig Jahren den Kaukasus erobern." Nichtsdestotrotz sei das "Zusammenwachsen Ost- und Westeuropas längst im Gange", wobei die "wahren neuen Europäer" nicht mehr die "Planer in Brüssel" seien, sondern die "Helden des Alltags".

Weitere Artikel: Marius Meller beschreibt nüchtern die Beisetzung von Siegfried Unseld in Frankfurt, und "HKJ" fragt in Times mager nach dem Nutzen des etwas altbacken klingenden Deutschen Musikrats.

Auf der Medienseite wird ein Spiegel-Bericht verbreitet, nach dem bei der FAZ weitere Entlassungen anstehen. Ganz andere Verhältnisse herrschen anderswo, denn wie Gemma Pörzgen berichtet, investieren deutsche Verlage, darunter auch die WAZ-Gruppe, verstärkt in Belgrad.

Besprochen werden Thomas Kushners Globalisierungs-Farce "Homebody/Kabul" in Basel und politische Bücher: etwa ein Band über das "Ordnungsprinzip Heterosexualität", eine Untersuchung zu Berlusconis Vorläufern und die Sozialgeschichte des Konservatismus (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 04.11.2002

Am Begräbnis von Siegfried Unseld hat Joachim Güntner teilgenommen und schildert seine Eindrücke: "Ein literarisches Staatsbegräbnis? Das war es und doch wieder nicht, denn die politische Prominenz war zwar vertreten, eine Vereinnahmung des Toten durch 'den Staat' allerdings an keiner Stelle zu spüren. Eher noch könnte man, im Blick auf die anwesenden Autoren, von einem literarischen Weltbürgerbegräbnis sprechen." Was jedoch am erstaunlichsten für die Anwesenden war, sei: "Siegfried Unseld hat an seine Unsterblichkeit geglaubt. Nicht bloß in jenem metaphorischen Sinn eines Fortlebens durch das Geschaffene. Sondern durchaus buchstäblich."

Vom Verhältnis zweier israelischer Schriftsteller zu ihrem Land erzählt Irene Binal. Der eine, Sayed Kashua (mehr hier), ist ein Palästinenser mit israelischem Pass und schreibt über seine Lage: "Ich würde gern sagen, dass ich ein Israeli bin, aber ich bin Palästinenser. Und leider wollen weder die israelische Regierung noch die Gesellschaft, dass ich einer von ihnen werde." Alona Kimhi dagegen beschäftige sich mit dem Alltagsgeschehen in ihrem Land, weil für sie Literatur nichts verändern kann: "'So gesehen halte ich die Unterdrückten für glücklicher als die Unterdrücker', sagt Alona Kimhi: 'In den Palästinensern ist eine offene Wunde, und aus dieser heraus werden sie kreativ. Wir können das nicht, wir stecken in unserer Position fest.'"

Weitere Artikel: "sda" berichtet über Pläne zur Umgestaltung des Paris Jeu de Paume zu einem Museum für Video, Fotografie und Multimedia und Markus Jakob beschreibt die Rolle der Gran Via in Madrid als Kulisse im Filmschaffen Spaniens.

Besprochen werden drei Ausstellungen mit Gegenwartskunst in Paris, Lille und Tourcoing sowie die Rodney-Graham-Ausstellung in London, das neueste Theaterstück von Tony Kushner in Basel, das Konzert von Elisabeth Leonskaja in Zürich und die Design-Ausstellung in Langenthal.

TAZ, 04.11.2002

"Sind Krankheiten, Katastrophen, Kriege und Konflikte die Säulen der deutschen 'Dritte-Welt-Berichterstattung'?" So lautete die Frage einer dreitägigen Konferenz im oberbayerischen Feldafing. Und Thilo Kunzemann war dabei, als afrikanische Redner ihren wohlmeinenden deutschen Kollegen erklärten, dass es in Afrika letztlich eher darauf ankäme, dass die zensierenden Polizisten das Konzept der Meinungsfreiheit begriffen. Dem Fazit "gut gemeint und doch vergebens" sei die Tagung dann doch noch entkommen, denn "Journalisten und Kommunikationswissenschaftler sind geschwätzige Menschen, und so entwickelten sich vor allem die Kaffeepausen, Workshops und Barstunden zu Höhepunkten des Nord-Süd-Austausches". Eher handfest und pragmatisch waren dann auch die Empfehlungen an die westlichen Afrika-Berichterstattung: "Um klischeehafte Auslandsberichte zu vermeiden, bedürfe es nicht gleich eines globalen Dialogs von Habermasscher Dimension. Etwas weniger Faulheit und Ignoranz auf Seiten der westlichen Journalisten würden - zumindest für den Anfang - genügen."

Weitere Artikel: Harald Fricke war dabei als die Londoner Tate Gallery die Kandidaten für den diesjährigen Turner-Preis vorgestellt und damit wie jedes Jahr für Aufsehen gesorgt hat.

Besprochen werden das ABBA-Musical "Mamma Mia!" im Hamburger Operettenhaus und die neue Ausgabe der Zeitschrift "Schreibheft", die sich mit dem niederländischen Schriftsteller A. F. Th. van der Heijden beschäftigt.

Auf den Tagesthemen-Seiten erklärt der Politikwissenschaftler Joachim Raschke in einem ausführlichst, was Rot-Grün tun muss, um sich seine Zufallsmehrheit zu sichern.

Und schließlich Tom.

FAZ, 04.11.2002

Hubert Spiegel war auf dem Begräbnis von Siegfried Unseld und behauptet in seinem Text: "Niemand kann vorhersehen wie es weitergehen wird. Doch die Anzeichen dafür, dass Ulla Berkewicz die Rolle der Verlegerin anstrebt, mehren sich. Sie waren auch an diesem Tage nicht zu übersehen." Darüber hätte man doch gern mehr erfahren! Doch Spiegel beschreibt lieber den Einzug Berkewiczs in die Trauerhalle und meint, in Anspielung auf die zerstrittene Unseld-Familie: "Ein Hauch von Worms liegt in der Luft." (Soll das heißen, Berkewicz braucht einen Etzel?)

Auch Christian Geyer scheint der Ansicht zu sein, dass Ulla Berkewicz offenbar nicht mehr in der Lage ist, einen Schritt allein zu tun: "Der Mann, auf den sich die Witwe Ulla Berkewicz während des Begräbnisses auch ganz buchstäblich stützte, den sie, wenn er sich für einen Moment nur etwas entfernte, mit sanfter Handbewegung sogleich wieder an ihre Seite rief und dem man neben dem Grab als erstem kondolierte, ist Raimund Fellinger ..." heißt es in einem Fellinger-Porträt auf der letzten Seite.

Jahrzehntelang, erst in der Diktatur, dann in der Demokratie, haben die Verlierer des spanischen Bürgerkriegs zugesehen, wie das Land sie vergaß. Auch nach seinem Tod schien Franco das Geschichtsbild zu diktieren, schreibt Paul Ingendaay. Jetzt aber ist eine Bewegung entstanden, der "Verein zur Wiedergewinnung des historischen Gedächtnisses" (ARMH), der die versunken geglaubten Erinnerungen nach oben spült. Unter Aufsicht von Archäologen und Gerichtsmedizinern wird an Dutzenden Stellen gegraben, und in vielen Familien kommt die schamvoll verschwiegene Geschichte der eigenen Angehörigen ans Licht. Man vermutet, dass noch rund 30.000 nicht identifizierte Tote in Spaniens Erde verscharrt liegen, so Ingendaay.

Weitere Artikel: Andreas Platthaus verteidigt die Brandt-Zitate in der Regierungserklärung Gerhard Schröders: "Mehr Originalität wagen, das hat uns ja im Wahlkampf niemand versprochen." Michael Gassmann freut sich, dass Dresden seine alte Hofkirchenorgel wieder hat. Florian Borchmeyer war auf dem Berliner Festival MEXartes. Gerhard Stadelmaier gratuliert dem Regisseur Benno Besson zum Achtzigsten.

Auf der Medienseite stellt Ingolf Kern einen Fernsehfilm der ARD über den Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR vor. Harald Staun erklärt, dass Google jetzt mit Anzeigen Geld verdient. Auf der letzten Seite schreibt Anja-Rosa über die Falknerei, die die rot-grüne Regierung abschaffen will. Gerhard R. Koch gratuliert zu zwanzig Jahren polnischer Kammerphilharmonie.

Besprochen werden Maria von Helands Teeniefilm "Große Mädchen weinen nicht", Ayckbourns "Haus und Garten" in der Inszenierung von Wolfgang Engel in Leipzig, eine Aufführung von Eötvös' "Drei Schwestern" in der Inszenierung von Istvan Szabo in Kassel, eine Ausstellung mit Werken von Jason Rhoades im Wiener Museum für Moderne Kunst und Bücher, darunter ein Band mit sizilianischen Geschichten von Leonardo Sciascia, der Roman "Flußabwärts" von Norbert Scheuer, Wirtschaftsbücher und Sachbücher, darunter zwei Bände über Aristoteles - der eine von Martin Heidegger, der andere von Jens König (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).