Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.11.2002. In der SZ erklärt Haruki Murakami, warum es für einen Japaner ganz leicht ist, in die "andere Welt" zu gehen. In der FAZ zeichnet Orhan Pamuk ein düsteres Bild von der Türkei. In der taz erklärt Michael Hardt seine Vorstellung vom Empire. Die NZZ hat Ye Tingfang, den chinesischen Übersetzer Dürrenmatts in Peking besucht. Die FR widmet sich den strategischen Partnerschaften von Kulturministerin Christina Weiss.

SZ, 06.11.2002

In einem Gespräch mit Lothar Müller erklärt der japanische Schriftsteller Haruki Murakami (mehr hier), warum sein Schreiben trotz einiger westlichen Elementen japanisch ist und bleibt, und sich daher aufgrund kultureller Besonderheiten nicht einfach internationalisieren lasse: "Die "andere Seite", die "andere Welt" spielt in Japan eine große Rolle. Wir haben viele Worte dafür. In der westlichen Kultur gibt es den Mythos von Orpheus, der in die Unterwelt geht. Aber wie viele Voraussetzungen und Bedingungen muss er dabei erfüllen! Zu unserer Art zu denken, zu fühlen und zu handeln gehört es, voraussetzungsloser "auf die andere Seite" gehen zu können. Der Zugang ist einfacher, selbstverständlicher, undramatischer. Wir leben Tür an Tür mit der "anderen Welt". Wir leben mit ihr. Die Figuren, die in meinen Büchern plötzlich verschwinden, fallen westlichen Lesern mehr auf. Japaner finden das normal."

Den Amerikaner geht es völlig gegen den Strich, "dass ihr Land jetzt eine imperiale Macht ist", meint James Chase, Professor für Öffentliches Recht am New Yorker Bard College. Die amerikanischen Gründerväter hätten zwar solche imperialen Wünsche gehegt, doch hätten sich die Amerikaner eigentlich immer dagegen gesträubt. "Das gilt noch immer. Aber nach dem 11. September stehen wir vor einer neuen Realität. Andere Nationen nehmen Amerika zurecht als ein - wenn auch informelles - Imperium wahr, in einer Welt, in der Nationalstaaten auch weiterhin die Sicherheit ihrer Völker gewährleisten sollen. Gibt es also eine amerikanische Strategie, die der heutigen Generation entspricht, heute, wo die Hauptbedrohung für die Nation von Terroristen ausgeht, die vielleicht durch die Staaten geschützt werden, von denen aus sie operieren. Gibt es, kurz gesagt, eine Strategie, die Amerika der imperialen Berufung enthebt?"

Weitere Artikel: Susan Vahabzadeh bemerkt säuerlich, dass sich Hollywoods Größen, bis auf einige Ausnahmen, derzeit mit pazifistischen Äußerungen sehr zurückhalten. Thomas Steinfeld meint, dass der erhöhte Rentenbeitrag und das neue Tarifsystem der Bahn sich "auf das Schönste" ergänzen. Gottfried Knapp stellt das neue Shanghaier Kulturzentrum "Esplanade" vor, angeblich das schönste Theater- und Konzerthaus Asiens. In der Kolumne beschreibt "Lmue", wie Christina Weiss versucht, sich von den Berliner Kultursorgen nicht zu sehr vereinnahmen zu lassen. Martin Urban war auf einer Tagung über Kunst-Expertisen in Harvard und hat immer noch keine Antwort auf die Frage nach der Wahrheit. Und schließlich berichtet Alex Rühle mit sichtlichem Misstrauen, wie der legendäre britische Journalist Mazher Mahmood die Entführung von einem der "Spice Girls" verhindert haben soll.

In Sachen Musik werden Klassik-Alben besprochen: etwa Beethovens Diabelli-Variationen, gespielt vom Jazz-Pianisten Uri Caine, Evgeny Kissins Schumann-Einspielung, die neuen Aufnahmen des "ensemble recherche" oder Wilhelm Killmayers Heine-Lieder. Weiterhin besprochen werden Rafael Sanchez' Inszenierung von Tony Kushners Inszenierung "Homebody/Kabul" am Theater Basel, Istvan Szabos Aufführung von Peter Eötvös' Oper "Drei Schwestern" in Kassel, Callie Khouris Film "Die göttlichen Geheimnisse der Ya-Ya Schwestern", ein Konzert des "Hagen Quartetts" im Münchner Herkulessaal, das neue Album "Electroclash" des New Yorker Elektro-Duos "Suicide" und Bücher: unter anderem Arno Geigers Roman "Schöne Freunde", Bjorn Lomborgs Buch über Umweltpolitik und ein Band über Porträtmalerei (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

Den Aufmacher der heutigen Literaturbeilage widmet Wolf Lepenies Bernard-Henri Levys großer Sartre-Biografie. (Wir werten die Literaturbeilagen vom November in den nächsten Tagen aus. Die ausgewerteten Oktoberbeilagen finden Sie hier.)

TAZ, 06.11.2002

In einem langen Gespräch mit Robert Misk äußert sich der Literaturprofessor und "Empire"-Co-Autor Michael Hardt zum Thema Globalisierungskritik. Aus Hardts Perspektive steht fest, "dass der nationale Kontext keine Lösungen mehr für die Probleme bereithält, vor denen wir stehen. Wir haben viel zu gewinnen von globalen Beziehungen. (?) Es gibt nicht zu viel, es gibt zu wenig Globalisierung." Sein Modell des "Empire" erklärt Hardt folgendermaßen: "Das Empire, wie wir es verstehen, ist eben kein totalitäres Arrangement. Wenn es kein Außen mehr gibt, dann heißt das noch lange nicht, dass es keinen Platz für Differenz gibt. Das ist übrigens keine ganz neue Perspektive." Doch für revolutionäre Schwärmereien ist in Hardts Modell kein Platz, da es auf langsamer Transformation basiert. Zwar "kann es in diesem Prozess schon auch dramatische Augenblicke geben. Aber er wird dezentriert und disparat sein".

Weitere Artikel: Gaby Hartel erzählt, dass Paris nun zwei neue Orte der zeitgenössischen Kunst widmet: Das Palais de Tokyo und Le Plateau. Auf der Medienseite berichtet Klaus Helge Donath über die weitere Verschärfung der russischen Pressegesetze nach dem Moskauer Geiseldrama.

Besprochen werden Tony Kushners "Homebody/Kabul" in der Inszenierung von Rafael Sanchez am Theater Basel sowie Horvaths "Glaube Liebe Hoffnung" in der Inszenierung von Martin Kusej und Martin Zehetgruber Wiener Burgtheater.

Schließlich Tom.

NZZ, 06.11.2002

Urs Schoettli berichtet von einem Besuch in Peking bei Professor Ye Tingfang, dem chinesischen Übersetzer Dürrenmatts und Mitglied der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften (für Chinesen mehr hier). Man plauderte über die Schweizer Literatur und trank dabei natürlich eine Tasse Nescafe, wie Schoettli betont: "Begonnen hatte Ye Tingfangs Engagement, als er im Winter 1955/56 für vier Monate in der Schweiz weilte. In den siebziger Jahren nahm er die Übersetzung von Dürrenmatts Theaterstücken auf. In der "Grossen Kulturrevolution" wurde auch Ye Tingfang für zwei Jahre aufs Land verschickt. "Selbstverständlich war damals nichts mit ausländischer Literatur." Anfang der achtziger Jahre kamen "Die Physiker" und "Der Besuch der alten Dame" in China erstmals auf die Bühne. Insgesamt fünf Stücke gelangten zur Aufführung, "mehr als von Schiller und von Goethe"."

Weitere Artikel: Dew. meldet, dass Rudolf Berger, bisher Intendant der Opera du Rhin in Strassburg, neuer Direktor der Wiener Volksoper wird. Besprochen werden eine Ausstellung zum 100. Geburtstag des Architekten und Designers Arne Jacobsen im Louisiana Museum in Humlebaek, David Aldens "Siegfried"-Inszenierung in München, ein Konzert des Zürcher Kammerorchesters mit der Violinistin Viviane Hagner und Bücher: unter anderem Joachim Fests Skizze "Der Untergang. Hitler und das Ende des Dritten Reiches", Milton Hatoums Roman "Zwei Brüder" und Gedichte von W.H. Auden (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 06.11.2002

Christian Schlüter stellt fest, dass die Grenzen des Kultur-Ressorts auf bundespolitischer Ebene eng gezogen sind, und dass Christina Weiss eine große Herausforderung erwartet. Sie selbst warne vor zuviel Hoffnungen: "Etwa in Hinblick auf eine weitere umfangreiche finanzielle Unterstützung der Hauptstadtkultur durch den Bund". So habe Weiss gesagt: "Dass der Bund eine der drei Opernhäuser übernimmt, kann ich mir nicht vorstellen. Die grundlegenden Probleme muss Berlin selbst lösen." Wenn die Stadt die Strukturprobleme in der Kulturlandschaft energisch angehe und "klare Zielvorstellungen" entwickle, könne der Bund allenfalls "für eine gewisse Zeit das Krisenmanagement finanzieren", also eine "strategische Partnerschaft" anbieten."

Weitere Artikel : Harry Nutt denkt über das "ideelle Gesamtensemble Bayern München" nach. Daniel Kothenschulte schreibt einen Nachruf auf Lonnie Donegan, den Mentor der Beatles. In Times mager denkt "P.I." über das Erdbeben-Unglück im italienischen San Giuliano nach, das einmal mehr den "Riss zwischen Theorie und Praxis" zeigt. Franz Anton Cramer war auf der Münchner Tanzbiennale "Dance 2002". Es wird gemeldet, dass die Frankfurter Buchmesse für das Jahr 2004 erwägt, arabische Staaten als Gastländer einzuladen.

Auf der Medienseite geht es um eine ARD-Dokumentation über den Medienfürst Rupert Murdoch.

Besprochen werden das neue Album von Johnny Cash, "The Man Comes Around", die Architekturaustellung "Latente Utopien" im Grazer Landesmuseum und die Bonner Ausstellung zur "Geschichte des Sonntags".

FAZ, 06.11.2002

Der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk (mehr hier) zeichnet kein sehr optimistisches Bild von der Türkei nach dem Wahlsieg der AKP: Das Land in der "schwersten Wirtschaftskrise der jüngeren Geschichte" und Wahlsieger ein Mann, von dem man niemand so recht weiß, wie islamistisch er denn nun eigentlich ist. "Aber das eigentliche Problem ist, dass Tayyip Erdogan auch nach einem so glänzenden Wahlsieg nicht im Besitz der Macht ist. Als er Oberbürgermeister von Istanbul und noch stärker islamistisch ausgerichtet war, brachte ihm ein halb militant islamistisches, halb kitschiges Gedicht eine Gefängnisstrafe ein. Er trat von seinem Amt zurück und verbüßte seine Strafe in aller Stille. Eine andere Folge dieser Verurteilung ist, dass er in diesen Wahlen nicht kandidieren durfte. Jetzt wird sogar verlangt, dass der Vorsitzende der Partei mit den meisten Stimmen aus juristischen Gründen seinen Vorsitz aufgibt! Er ist nicht einmal Abgeordneter! ... Dass sich diese Situation mit Demokratie überhaupt nicht verträgt, haben weder die türkischen Politiker in ihrem Opportunismus noch die Journalisten, die sich für die regierende Koalition aussprechen, in ihrer Furcht vor den Militärs deutlich gemacht."

Weitere Artikel: Ulrich Olshausen hat sich beim Jazzfest Berlin amüsiert. Alexandra Kemmerer hat zugehört, als der frühere französische Justizminister Robert Badinter in Berlin seine "Constitution europeenne" vorstellte. Gina Thomas meldet den Umbau der Londoner National Gallery. Auf der letzten Seite empfiehlt Heiko Holste dem Karlsruher Bundesverfassungsgericht dringend, die Putbusser Briefe Bismarcks zu lesen, bevor es sein Urteil über das Zuwanderungsgesetz spricht. Porträtiert wird Bernhard Purin, Gründungsdirektor des Jüdischen Museums in München. Und Tilmann Spreckelsen erzählt ein sehr hübsches Stück über die Bedrohung eines Dichterhaus durch die moderne Landwirtschaft am Beispiel von Arno Schmidt und einem sehr geschäftstüchtigen Thomas Bernhard.

Auf der Stilseite widmet sich Oliver Jungen dem Buchstaben ß, und Ralf Drost schreibt eine kleine Kulturgeschichte des Fingernagels im 20. Jahrhundert. Und auf der Medienseite porträtiert Rainer Hermann den türkischen Medienzar Cem Uzan, der gern der Berlusconi der Türkei wäre, die Wahl aber glatt verloren hat.

Besprochen werden eine Ausstellung über den Maler Paolo Veneziano und das adriatische Trecento in Rimini, Fatih Akins Film "Solino", Tony Kushners Afghanistan-Drama "Homeboy/Kabul in Basel und David Aldens Inszenierung des "Siegfried" in München.