Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.11.2002. Die SZ fragt, ob Saddam ein "Wahnsinniger ohne Bezug zur Realität" ist. Die FR rechnet mit den österreichischen Wendephilosophen ab. Die taz kennt die neue französische Chanson-Szene. Die NZZ erinnert an Diego Giacometti, Albertos kleinen Bruder. Und die FAZ setzt ihre Serie fort: "Was diese Regierung uns antut".

SZ, 15.11.2002

Saddam, ein zweiter Osama? Ein Wahnsinniger ohne Bezug zur Realität? Mit Vernunft nicht zu überzeugen? Der amerikanische Politologe David C. Hendrickson meint, einen solchen asketischem Fanatismus suche man vergebens bei politischen Führern, die sich schon lange an der Macht halten. Erst recht bei Saddam, "der einen übermäßigen, ja schockierenden Selbsterhaltungswillen zeigt. Daher der präventive Einsatz von Gewalt und Terror gegen Gegner im eigenen Land, ein Prozess, der, einmal begonnen, nie wirklich enden kann, selbst wenn der Tyrann absolute Kontrolle gewinnt. Dieses Verhaltensmuster, das Stalin, Saddams Vorbild, in besonderem Maße zeigte, führt zu einer außerordentlichen Grausamkeit gegenüber seinen Feinden, hält sie aber auch in Schach." Gegenüber einem solchen Tyrannen, meint Hendrickson, gebe es durchaus "eine Alternative zur Politik des preemptive strike und der Unterstellung eines irrationalen Gefahrenherds" - eine Strategie des Drucks und der Abschreckung. "Es ist unser irrationales Streben nach absoluter Sicherheit, das uns davon abhält, diese lebenswichtige Tatsache zu erkennen".

Mehr Bildung in der Familie, predigt Georg Kardinal Sterzinsky, Erzbischof von Berlin - und zwischen den Zeilen lesen wir: bitte weniger Ganztagsschule. Sterzinsky fürchtet eine "kulturelle Revolution" in der Familienpolitik und spricht sich für eine "Stärkung der Erziehungskompetenz von Eltern" aus. Die Kirche wiederum solle sich als "Anwalt für das Leitbild einer auf die Ehe gegründeten Familie" einsetzen.

Weitere Artikel: Ira Mazzoni hat beobachtet, dass sich die Holländer zunehmend in Festungsstädten verbunkern: Dort "hält die Mittelschicht fest, was sie gewonnen hat, denn die Zeiten sind unsicher geworden." "Midt" bespöttelt das jüngste Entblößungssverhalten geschlechtsreifer Großstädter - genauer: von Mitarbeitern der Bremer Frauensenatorin - als Protest gegen die Bild-Sex-Serie. Heute: Vorspiel finde ich langweilig. Sonja Asal porträtiert den gar nicht weltfremden, zudem noch verständlich formulierenden Philosophen Otfried Höffe, der den Karl-Vossler-Preis erhalten hat. Fritz Göttler gratuliert dem italienischen Filmemacher Francesco Rosi zum Achtzigsten.

Besprochen werden ein Konzert des ungarischen Pianisten Andras Schiff in München, James Wongs neuer Sci-Fi-Film "The One" über einen Argonauten, der 123 Doppelgänger killen muss, das Low-Budget-Multimedia-Projekt mit Starbesetzung "1 Giant Leap", die neu aufgelegte Autobiografie des Pianisten und Dirigenten Daniel Barenboim, der schwedische Bestseller-Roman aus der Feder von Mikael Niemi, "Popmusik aus Vittula" sowie der Erstlingsroman von Assia Djebar (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 15.11.2002

Nach dem Schlingerkurs der österreichischen Regierung in den letzten Jahren rechnet Stephan Hilpold mit den Wendephilosophen des Landes ab: denen, die sich vom Haider-Schüssel-Gespann Reformen erhofften. "Österreichs Wende", schreibt Hilpold kurz vor der Nationalratswahl am 24. November, "bedeutet in erster Linie eine instabile Politik im Zeichen des Marketings. Eine Politik des Täuschens und des sich Windens, die auf Seiten von Schüssels ÖVP nur auf Machterhalt zielt." Doch auch von der Opposition verspricht sich der Autor nicht viel. Der "Zustand des Sich-Windens" und der Lähmung habe Kreise gezogen.

Einen Fall von zynischer Marktanpassung erkennt der Hamburger Geschichtsprofessor Andreas Eckert im Fall der sudanesischen Autorin Mende Nazer. Die Schriftstellerin hatte in ihrer Autobiografie "Sklavin" ihre Unterdrückung im Sudan und in London beschrieben und sollte ursprünglich in den Sudan ausgewiesen werden. Gute Nachricht für Eckert: Das britische Innenministerium will den ablehnenden Asylantrag der Autorin zurücknehmen. Aber: Das durch Nazers Buch ins Licht der Öffentlichkeit gerückte Engagement gegen Sklaverei könne zu einer Intensivierung des Sklavenhandels führen: "Denn inzwischen werden Menschen gezielt entführt, um sie nachher an Nichtregierungsorganisationen verkaufen zu können".

Besprochen werden eine Retrospektive des amerikanischen Künstlers Dan Graham in der Düsseldorfer Kunsthalle, eine Live-CD, die den "Lärmsteinbruch" der Einstürzenden Neubauten bilanziert, die deutsche Erstaufführung von Karlheinz Stockhausens "Engel-Prozessionen" bei den Berliner Festwochen, das "Free radiCCAls"-Festival im Centre for Contemporary Arts in Glasgow, Adriana Altaras' Uraufführung ihres Stücks "Jud Sauer" am Berliner Gorki-Theater, die Adorno-Vorlesungen von Judith Butler in Frankfurt sowie Walter Hueglis und Martin Jaeggis Fotoband mit CD, in dem 50 DJs und Techno-Produzenten vorgestellt werden (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).
Schließlich eine Uferpromenade der Architekten Herle & Herrle in Neuburg an der Donau, die Urbanität auf kleinem Raum darstelle.

TAZ, 15.11.2002

Im Jahr elf nach Serge Gainsbourg hat der französische Chanson ein neues Outfit, meldet Frank Weigand. Junge Musiker wie Dominique A, Benjamin Biolay, Philippe Katerine oder Yann Tiersen seien die interessantesten Vertreter des Nouvelle Chanson. Eine heterogene Szene, die jedoch eines verbinde: "ihre Abgrenzung von den Großen des Genres wie Jacques Brel und George Brassens, die sie an kalten Rauch und alte Schuhe erinnern." Und so vielfältig wie die neue Chansonszene sei auch ihr Publikum, meint Weigand. "Während die oft kryptischen Texte von Dominique A auch so manchem Literaturdozenten Freude machen, tanzen die hippen Clubgänger in Paris und den anderen Metropolen zur Lounge-Musik von Katerine oder Bertrand Burgalat, während sich bei Yann Tiersens Konzerten auch ältere Damen eine sentimentale Träne aus dem Augenwinkel wischen.

Weitere Artikel: Franz Anton Cramer berichtet vom hochkarätigen, aber visionslosen Tanzfestival "euro-scene" in Leipzig - nachdem das Land Sachsen seine Subventionen gekürzt habe, gehe es nur noch ums Überleben. Dass die Grunge-Rocker von Pearl Jam noch leben, beweist Oliver Kube durch sein Interview mit Eddie Vedder und Stone Gossard, die auf ihrem neuen Album ungewohnt melancholisch klingen.

Besprochen werden ein Konzert der warmherzigen Monarchin Marianne Faithfull in Berlin sowie die neue CD von Phil Collins "Testify" - übrigens in Form eines fiktiven Gesprächs mit Bret Easton Ellis' Massenmörder und Edel-Popist Patrick Bateman ("American Psycho"), der die CD großartig findet.

NZZ, 15.11.2002

Online gab es heute morgen nur zwei Artikel, inzwischen stehen aber auch die übrigen Artikel im Netz. Hier also die komplette NZZ:

Stephan Templ schildert, wie die jüdische Gemeinde in Bratilava um ein Mahnmal für die Opfer des Holocaust ringt. "her" meldet, dass für die Kunsthalle Basel ein neuer Direktor gefunden ist: Adam Szymczyk heißt der Mann und war bisher im Vorstand der Warschauer Gallerie Foksal (mehr hier). Wie im kleinen Hamburger Junius-Verlag der Reihe "Zur Einführung" die Perspektiven geraubt werden, verdiene "einen klagenden Zwischenruf", meint "gü".

Maria Becker hat zwei Ausstellungen in Lausanne und Riehen besucht, die dem amerikanischen Farbabstrakten Ellsworth Kelly (mehr hier) gewidmet sind. Jacqueline von Sprecher würdigt den hundertsten Geburtstag von Diego Giacometti, Albertos kleinem Bruder. Besprochen wird außerdem "Die Kunst der Fuge" in der Mainzer Choreographie von Martin Schläpfer.

FAZ, 15.11.2002

Frankreich befindet sich "geistig und institutionell auf dem Weg der Dezentralisierung", berichtet Joseph Hanimann. Regierungschef Raffarin - "ein Mann, der durch keine Pariser Eliteschule ging und die schnurrende Pausbäckigkeit des 'anderen' Frankreich draußen und drunten" verkörpert - will dieser Tage sogar einen Gesetzentwurf vorlegen, "der den ersten Verfassungsartikel von Frankreich als einer 'unteilbaren, laizistischen, demokratischen und sozialen Republik' ergänzen will mit dem Nachsatz: 'Ihre Organisation ist dezentral'." Das sorgt für Ärger. Parlamentspräsident Debre warnt bereits "vor einem Ausverkauf der Republik".

Nachdem dem wir gestern erfahren haben, wie die Regierung uns bestiehlt, lesen wir heute, wie die Regierung uns "belügt": Christian Schwägerl weist darauf hin, dass für die "dringend nötigen Reformen des Sozialsystems" eine Kommission unter Leitung von Bert Rürup bereits im letzten Jahr die nötigen Vorschläge erarbeitet hat. Wenn jetzt schon wieder eine Kommission eingesetzt wird, dann nur, weil die Regierung vor den Wahlen nicht handeln will. Würde sie handeln, würde sie nach Meinung Schwägerls nämlich nicht gewählt.
(Hmm, was sagt uns das jetzt über die CDU?)

Weitere Artikel: Jordan Mejias erzählt, welche Bücher die amerikanische Regierung ihren Soldaten in den Tornister steckt. Andreas Rossmann war auf einem Forum in Düsseldorf, das den Buchhandel mit "T-Shirts, Plüschtieren, Accessoires" retten will. Eleonore Büning gratuliert Daniel Barenboim zum Sechzigsten. Es gibt einen Vorabdruck aus einem Buch von MRR mit Aufsätzen und Reden über Goethe. Für die letzte Seite hat sich Regina Mönch in den Keller der Berliner Stadtbibliothek in Friedrichshain begeben und dort preußische Schulprogramme aus hundert Jahren gefunden. Jörg Altwegg berichtet, dass sich in Frankreich niemand für Stephane Courtois' Fortschreibung des "Schwarzbuchs des Kommunismus" interessiert. Heinrich Wefing porträtiert schaudernd den Buddy-Bär, mit dem Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit Los Angeles verschönern will.

Auf der Medienseite liefert Jürg Altwegg eine Chronik der - gescheiterten - Fusion zwischen Ringier und Springer und amüsiert sich über die Schweizer Medien: "An Ostern begann die Borer-Affäre, die sich heute ganz anders darstellt, und nach der Sommerpause das Gespräch mit Springer. Die unverhofften Bekundungen der NZZ, der politischen Klasse und aller anderen mögen Michael Ringier mit Genugtuung erfüllen: Denn sie hatten ihn und seinen Chefpublizisten Frank A. Meyer kübelweise mit Häme eingedeckt und schickten sich plötzlich an, Ringiers staatsbürgerliche Verantwortung und publizistische Leistungen zu loben und vom 'bösen' Springer zu unterscheiden." Stefan Niggemeier hält eine Verteidigungsrede für Sat.1: Der Sender werde vom Vorstand zum Pflegefall erklärt, um von den Problemen Pro Siebens abzulenken.

Besprochen wird eine Ausstellung zu "Recht und Unrecht" seit 1500 in den Trierer Viehmarkthallen, Bertrand Bonellos Film "Der Pornograph", Schuberts Oper "Fierrabras" in Zürich und Kunst aus Vilnius im Kunstverein München.