19.11.2002. "Bürger, auf die Barrikaden!" ruft Arnulf Baring in der FAZ. Bürger, hütet euch vor einer "entfesselten Sprache der Krise"! ruft Erich Hörl in der SZ. In der NZZ warnt Sonja Margolina vor einem gewaltigen Rechtsruck in Russland. Die taz berichtet über die grassierende Napoleonitis in Frankreich. Die FR untersucht die Sollbruchstellen in jedem Mann.
FAZ, 19.11.2002
"
Bürger, auf die Barrikaden! Wir dürfen nicht zulassen, dass alles weiter bergab geht, hilflose Politiker das Land verrotten lassen. Alle Deutschen sollten unsere Leipziger Landsleute als Vorbilder entdecken, sich ihre Parole des Herbstes vor dreizehn Jahren zu eigen machen: Wir sind das Volk!"
ruft uns
Arnulf Baring in der
FAZ zu. Ein Staatsverschuldung mit 12 Nullen, der Sozialstaat am Boden, die demographische Entwicklung eine Katastrophe, die großen Parteien "energielos" in sich zusammengesackt, und erst das Parlament! "Deutschland ist auf dem Weg in eine
westliche 'DDR light'. Ein Symptom dieser Entartung ist die Tatsache, dass rund achtzig Prozent unserer Abgeordneten aus dem
öffentlichen Dienst, aus den Gewerkschaften kommen ... Ein bürokratischer Apparat lenkt seinen Staat ohne klare ordnungspolitische Vorstellungen, ohne je die Welt gesehen, ohne je eigene Erfahrungen im Wirtschaftsleben machen zu müssen: eine
drohnenhafte Herrschaftskaste." Für Baring steht nicht weniger als die Republik auf dem Spiel: "Wenn unsere Parteien weder programmatisch noch personell in der Lage sind, die Bevölkerung mit klaren Alternativen zu konfrontieren und damit Richtungsentscheidungen zu erzwingen, ist diese
Republik am Ende." Aus diesem Grund müsse auch über eine
Verfassungsreform nachgedacht werden, denn "selbst eine handlungsbereite Bundesregierung könnte leicht an den
permanenten Plebisziten von sechzehn Landtagswahlen scheitern".
Verena Lueken hat die
Bundestagsdebatte über die anstehenden Strukturreformen auf
Phoenix gesehen und vergleicht sie mit der von
C-Span übertragenen Debatte im
amerikanischen Parlament über das
Ermächtigungsgesetz, dass dem amerikanischen Präsidenten auch ohne Genehmigung des Kongresses einen kriegerischen Präventivschlag erlaubt. Während man in den USA eine
Debatte "auf hohem Niveau" beobachten konnte, die "leidenschaftlich, mit einiger Gelehrsamkeit und Pathos" geführt wurde, sah Lueken in Deutschland nur "
bockige Parteiarbeiter beim Wahlkämpfen". "Weil jedwedes Engagement für etwas anderes als die aktuellen Programmpunkte der eigenen Partei fehlte, klaffte da, wo in Amerika immer wieder die
Idee vom eigenen Land ersteht, vor den Kameraaugen von Phoenix ein
großes Loch."
Weitere Artikel: Dietmar Polaczek
berichtet von einem politischen Erdbeben in Italien: Das Berufungsgericht in Perugia hat den Freispruch des ehemaligen italienischen Regierungschef
Giulio Andreotti aufgehoben und ihn als
Auftraggeber des Mordes an Mino Pecorelli zu
vierundzwanzig Jahren Haft verurteilt. Thomas Wagner
denkt ausführlich über die
Zukunft der Museen - vor allem der "Mehrspartenhäuser" - nach. Edo Reents
porträtiert Popstar
Robbie Williams auf eine Weise, die
kein Mann verdient (Abel Ferrara "schuf mit dem 'Bad Lieutenant' eine Figur, deren
Hang zur Sünde so ausgeprägt ist wie die Reue danach. So ist auch Williams ein
Suchender, der damit rechnet, das es den einen Menschen, nach sich jeder sehnt, für ihn womöglich gar nicht gibt und
nur die Lust bleibt." (So wie
hier, hm?) Henning Ritter schreibt zum Tod des Historikers
Herbert Lüthy. Patrick Bahners
war bei den Feiern zum zwanzigsten Geburtstag der
Marcel-Proust-Gesellschaft.
Auf der
Medienseite erklärt der Schweizer Verleger
Michael Ringier, warum er sich nicht von
Springer hat kaufen lassen: "Frau Springer ist mir
sehr weit entgegengekommen, ich kann das nicht genug betonen. Das Nein zur Fusion hat auch mit meinem Rollenverständnis zu tun. Ich bin nicht einfach Aktionär. Ich will
die Firma führen." Auf der letzten Seite beschreibt Julia Voss einen Besuch im
Kreationisten-Museum in Austin, Wolfgang Sander porträtiert den Dirigenten
Mariss Jansons, und Monika Osberghaus berichtet vom internationalen Erfolg der Kinderbücher um den
Hasen Felix von
Annette Langen und Constanza Droop.
Besprochen werden der große
Zemlinsky-Abend an der Komischen Oper Berlin, ein
"Onkel Wanja" am Theater Bonn und eine
Ausstellung von
Schreibwerkzeugen der Klassiker am Frauenplan in Weimar.
SZ, 19.11.2002
In einem Essay
warnt der Berliner Philosoph und Kulturwissenschaftler
Erich Hörl vor einer neuerdings
"entfesselten Sprache der Krise", die die Geister lähme. "Ein verantwortungsloses Reden hat eingesetzt, es treibt die Krise in die Köpfe hinein und zeigt dabei Züge
demokratischer Verwahrlosung. Jene, die mit dem kalkulierten Zungenschlag eines Krisendiskurses alles auf die Wende mit normalen demokratischen Mitteln setzten, haben sich nach der Enttäuschung durch das Votum des Souveräns der
rhetorischen Hemmungslosigkeit ergeben. Nun wird mittels ungezügelten Krisengeredes der Souverän einer größeren Gehirnwäsche unterzogen. Unter Öffnung aller zur Verfügung stehenden Kanäle soll ihm beigebracht werden, wie sehr er irrte." Die Folge dieses "Kampfdiskurses", der
auch die Feuilletons beherrsche, scheint Hörl absehbar: "Am Ende werden sie alle mit ihrer Stimme nur die imitiert haben, die
kaltblütig mit der Krise rechnen. Wieder abgekühlt, könnten das auch die Heißgelaufenen von heute merken."
Avraham Sela, Mitbegründer der Bewegung
"Four Mothers", die für den israelischen Rückzug aus dem Libanon eintrat,
erklärt, inwiefern ein
Angriff auf den Irak Israel schaden könnte. Seine These: "Ganz allgemein begreifen Araber den erwarteten amerikanischen Angriff als Umsetzung israelischer Wünsche und Interessen." Deshalb könnten sich arabische Regierungen "um des eigenen Überlebens willen
feindselig gegen Israel verhalten. Dies führt im schlimmsten Fall zu einer weiteren
Erosion der israelischen Friedensabkommen mit Ägypten und Jordanien."
Weitere Artikel:
Ralf Dahrendorf würdigt Rudolf Augstein, der heute beerdigt wird. Thomas Steinfeld
erklärt, warum die
Buchmesse von Quebec ein Fest ist, Helmut Mauro
zeigt, wie das
Festspielhaus Baden-Baden aus der Krise und wieder auf Erfolgskurs fand, Henning Klüver
besuchte eine Tagung des Turiner Goethe-Instituts zum Thema "
Rechtsraum Europa", Tobias Timm
lotet einen der Berliner Lieblingsdebattenstoffe aus: den
Palast der Republik, über dessen Zukunft morgen entschieden wird, und Wolfgang Schreiber
lobt in einem Porträt den Briten
Jonathan Nott als einen der "interessantesten jüngeren Dirigenten". In der Kolumne Zwischenzeit
beklagt Evelyn Roll komisch-peinliche
Sprachverirrungen in Verfilmungen ausländischer Stoffe, und "lmue"
räsoniert über den Zusammenhang von
Suchmaschinen und
Forschungsdefiziten.
Besprechungen: Vorgestellt werden eine
Retrospektive Francis Picabias im
Musee d?Art Moderne de la Ville de Paris und die
Schau "Future Cinema" über die Möglichkeiten
digitaler Filmkunst im Karlsruher
ZKM.
Gegeißelt wird das interkulturelle "
Kitscharsenal" des Exil-Mexikaners
Guillermo Gomez-Pena in der Berliner
Volksbühne,
gelobt dagegen ein
Ballett-Programm von Philip Taylor im Münchner
Gärtnerplatztheater.
Besprochen werden außerdem
Thomas Imbachs Film über den Tod von Petra Kelly und Gert Bastian
"Happiness is a warm gun" und
Bücher, darunter eine
Studie über
Deutschland als Einwanderungsland, ein
Katalog über
Flämische Meister in München und Peter Demetz'
Rekonstruktion der "Flugschau von Brescia". (siehe unsere
Bücherschau ab 14 Uhr)
NZZ, 19.11.2002
Einen gewaltigen
Ruck nach rechts will Sonja Margolina in
Russland beobachtet haben, zunehmende präge die
nationalpatriotische Intelligenz den politisch-intellektuellen Diskurs. "Kultiviert werden eine aktive antiwestliche, insbesondere antiamerikanische Haltung und der Hass auf alle Arten von Minderheiten", schreibt Margolina. Dabei melde sich die "nationalpatriotische Intelligenz nicht erst seit der Geiselnahme zu Wort. Seit Jahren dominiert sie politische Internetforen. Mehr noch: Ihre Ansichten finden zunehmend Platz selbst in den Medien, die bei aller
Anbiederung an Putins Generallinie in Tschetschenien dem
Rassismus stets eine Abfuhr erteilten und sich um eine differenziertere Sicht auf die tschetschenische Minderheit bemühten. So hat die
Iswestija, immer noch eine der auflagenstärksten überregionalen Tageszeitungen, zum Jahrestag des terroristischen Anschlags auf New York im September einen Beitrag in vier Folgen unter dem Titel 'Wenn ich
bin Ladin wäre' herausgebracht, der eine klare
chauvinistische Sprache spricht.
Weiteres: Ziemlich erschüttert
zeigt sich Julius Krüger von der architektonischen Umgestaltung, die
Peking bis zu den Olympischen Spielen 2008 zu einer modernen Metropole machen soll. Was an
traditioneller Architektur den
Kahlschlag der kommunistischen Aufbaujahre überstanden habe, meint Krüger, falle nun dem
Chic der Neureichen zum Opfer. Andrea Köhler
erzählt, dass die
US-Armee nun auch literarisch aufrüste, die legendäre
Armed Services Edition soll wieder ins Marschgepäck. Den Anfang machen Shakespeares "Heinrich V.", Sun Tzus "The Art of War" und Allen Mikaelians Bestseller "Medal of Honor: Profiles of America's Military Heroes from Civil War to the Present".
Völlig unverständlich
findet "jdl.", dass das
Wiener Dorotheum tatsächlich versucht habe, ein
geraubtes Schiele-Bild trotz ungeklärter Herkunft zu versteigern. "Id."
notiert, dass
Christian Kracht bei seiner Lesereise durch Russland auf wenig Gegenliebe stieß. Schließlich ist noch ein
Vorabdruck aus
Martin R. Deans neuem Roman "Meine Väter" zu lesen (mehr
hier).
Besprochen werden
Zemlinskys Einakter "Florentinischen Tragödie" an der Komischen Oper Berlin, ein
Konzert des Moskauer
Borodin-Quartetts in Zürich und Bücher:
Romane von
Olivier Rolins und Jürgen Hockers
Monografie "Begegnungen mit
Conlon Nancarrow".
TAZ, 19.11.2002
Noch reichlich vor dem
200. Jahrestag der Kaiserkrönung im Jahr 2004
diagnostiziert Dorothea Hahn in Frankreich bereits jetzt den Ausbruch einer
grassierenden "Napoleonitis". 80.000 Bücher, hat sie recherchiert, sind schon über Napoleon erschienen, jetzt werden noch einige dazu kommen. Ebenso wie Filme, TV- und Theaterproduktionen. Z.B. die von Robert Hossein, "der 100 Schauspieler in 500 Rollen" im Sportpalast auf die Bühne brachte. Sein "ungetrübtes Verhältnis" zu Napoleon" belegt Hahn mit seiner Aussage: "Ich erzähle die
Geschichte von einem Typen, der Frankreich und die Republik gerettet hat." Sein Stück ende denn auch formschön mit der Kaiserkrönung. "Napoleons Niederlagen, vor allem die endgültige von 1815 im belgischen Waterloo, interessieren ihn nicht."
Weitere Artikel: Cristina Nord
liefert einen Bericht vom Internationalen
Filmfest in Thessaloniki, bei dem der iranische Film im Vordergrund stand. Darüber hinaus gibt es viele
Besprechungen: der
Inszenierung seines Stückes
"Durstige Vögel" durch den jungen Dramatiker
Kristo Sagor am Münchner
Volkstheater und vieler
Bücher, darunter das
Romandebüt "Sprenger" (mehr
hier) von
Arno Widmann, der neue
Roman von
Doris Dörrie und in der Rubrik "Bücher für Randgruppen" ein
Band über die
Gemäldenachstellmanie in der Goethe-Zeit. (siehe unsere
Bücherschau ab 14 Uhr)
Und
hier TOM.
FR, 19.11.2002
Nachdem am letzen Montag vom befremdlichen Pessimismus der
Anti-Aging-Kultur im Allgemeinen die Rede war,
verhandelt Thomas Lemke heute den Kampf gegen das Alter speziell
aus männlicher Sicht. Unglaubliches hat er dabei zu Tage gefördert, zum Beispiel die Aktivitäten des "Konstanzer Männerarztes" Rolf-Dieter Hesch. "Auf seiner
Homepage stellt Hesch sein '
Balance-Seminar für den modernen Mann' vor, das von bayerischen Prinzen und Fernsehmoderatoren in höchsten Tönen gelobt wird. Im Zentrum steht die Optimierung der Lebensqualität und die Minimierung von Gesundheitsrisiken. Denn: '
Jeder Mann hat Sollbruchstellen. Rechtzeitiges Gegensteuern ist deswegen unerlässlich.' Wie dies genau geschehen soll, hat Hesch zusammen mit einem Ko-Autor nun in einem Buch mit dem Titel 'Absolut Mann' aufgeschrieben (midena Verlag)."
Im letzten Teil der vierzehnteiligen Serie "Latinoamericana"
wandelt die Autorin Karin Ceballos Betancur heute auf den Spuren von Che Guevaras Begleiter
Alberto Granado. Christian Thomas
stellt ein neues Verwaltungsgebäude der
Architekten Bolles + Wilson (mehr
hier) in Magdeburg vor, und Roman Luckscheiter
berichtet von einer
Ernst-Jünger-Tagung in Marburg, auf der dessen Werk "in den wattierten Kulturbeuteln mobiler Tagungskommandos zu verschwinden" drohte. In der Kolumne Times mager
beschäftigt sich Ludger Lütkehaus mit der "autoritativen Aura" der
Fünf Weisen. Und auf der
Medienseite berichtet Matthias Thieme ausführlich über Hintergründe und Sachverhalte ("
Sex-Schock!") eines Prozesses, den der sich verunglimpft fühlende
Bild-Chefredakteur Kai Diekmann heute gegen die
taz gewinnen will.
Besprochen werden Michael Talkes
Inszenierung von Brechts "
Puntila" am
Bremer Theater, zwei
Opern in Berlin:
Schostakowitschs "Nos" an der
Staatsoper (die Ausstattung besorgte der Maler Jörg Immendorff) und ein
Zemlinsky-Doppelabend in der
Komischen Oper, und schließlich
Bertrand Bonellos Zweitlingsfilm "Der Pornograph", der ohne die Mitwirkung von
Jean-Pierre Leaud offenbar rettungslos verloren wäre.