Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.12.2002. Die Zeit schildert den Honeymoonn zwischen Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern. Die NZZ stellt Weihnachtsgedichte von Joseph Brodsky vor. Die FAZ hätte zu Weihnachten gern ein neues Steuergesetz. Die taz empfiehlt hingegen Ochsenschwanz. Die SZ fürchtet den Krieg. Die FR bringt einen Vorabdruck aus Felicitas Hoppes neuem Roman.

Zeit, 24.12.2002

Prunkstück ist das Dossier. Emanuel Eckardt erzählt, manchmal etwas ungenau-hymnisch im Ton, das Weihnachtsmärchen über den Honeymoon zwischen Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern. Sympatischerweise geht"s ihm dabei vor allem um die Musiker: "Neuester Zuwanderer im Klangkörper ist Edicson Ruiz aus Venezuela, Kontrabassist, mit 17 Jahren der jüngste Musiker in der Geschichte des Orchesters. Er lebt bei seinem Lehrer, dem Kontrabassisten Klaus Stoll, der sich rührend um ihn bemüht. "Ich kenne Edicson seit seinem 15. Lebensjahr. Er ist vollkommen angstfrei, ohne schlechte Erfahrungen. Sein Spiel ist von einer rätselhaften Reife. Da läuft"s einem den Rücken runter. Bei Bruckner hatte er ein Riesentremolo, da fragt man sich: Wie ist das möglich? Wo kommt das her?""

Im Feuilleton geht es um 50 Jahre deutsches (genauer: westdeutsches) Fernsehen. Jens Jessen klagt über die Öffentlich-Rechtlichen: "Sie nutzen die Rundfunkgebühr nicht mehr zur Sicherung von Unabhängigkeit und Qualität, sondern als Wettbewerbsvorteil." Ferner erstellt die Fernsehkritikerin Barbara Sichtermann ihre persönliche Fernseh-Hitliste. Andrea Kaiser fragt, warum der wenig gesehene Kultursender Arte seine Quote aufbessern will, statt sich mit seinem elitären Status zufrieden zu geben. Alexander Kühn meditiert über das gleichzeitig zu feiernde Jubiläum der "Tagesschau". Und Christof Siemes unterhält sich mit Peter Rühmkorf über die gesammelten Fernseherfahrungen des Dichters.

Weiteres im Feuilleton: Thomas Kleine-Brockhoff feiert die Architektenentwürfe für den Ground Zero. Thomas Groß hat sich den Film "8 Mile" mit Eminem angesehen. Besprochen werden auch Ernst Kreneks Oper "Jonny spielt auf" in Wien, eine Münchner Ausstellung über die Volkssängerin Bally Prell (mehr hier) und eine Ausstellung über Kunst und Theater im Kunstverein Hannover.

In einem Quiz auf der letzten Seite des Feuilletons soll man schließlich die Autoren von literarischen Zitaten über das Thema Arbeit erraten.

Aufmacher des Literaturteils ist Iris Radischs Gespräch mit Peter Nadas über die Near-Death-Experience, die er in seinem letzten Buch "Der eigene Tod" über seinen Herzinfarkt zur Sprache bringt.

NZZ, 24.12.2002

Aus gegebenem Anlass schildert Ralph Dutli (der Herausgeber der wunderbaren Mandelstam-Ausgabe bei Ammann) einen "bizarren persönlichen Brauch" des 1996 Lyrikers Joseph Brodsky: Jedes Jahr schrieb er ein Weihnachtsgedicht. "Bei einem als illusionsloser Skeptiker und zuweilen als zynischer Spötter etikettierten Autor sind solche Gedichte ein zumindest merkwürdiges Ritual. Die schiere Unmöglichkeit, als ernst zu nehmender Dichter am Ende des 20. Jahrhunderts noch Weihnachtsgedichte zu schreiben, muss er als lockende Herausforderung empfunden haben. Es dennoch zu tun, und mit geradezu halsstarriger Regelmässigkeit, war eine schlaue Provokation. Brodskys die Jahrzehnte umspannender Zyklus, der den Wundern misstraut, ist selber zum Wunder geworden, zum sprachlichen Wunder."

Zwei Gedichte, übersetzt von Dutli selbst, werden hier vorgestellt:

(...)
"Maria am Beten; das Feuer summt. Josef blickt in die
Flamme, finster und stumm. Der Säugling ist noch
viel zu klein für etwas anderes, also schlummert er ein."
(...)

Weitere Artikel: Hanspeter Künzler bringt die traurige Meldung vom Tod des Clash-Sängers Joe Strummer Sieglinde Geisel schickt eine Reportage aus Seiffen im Erzgebirge, wo man unter Herstellung von Nussknackern und anderen Weihnachtsutensilien selbst die Wende überlebte. Marianne Zelger-Vogt gratuliert dem ehemaligen Intendanten der Zürcher Oper, Claus Helmut Drese, zum Achtzigsten. Besprochen werden Zürcher Weihnachtskonzerte, Matthew Barneys "Cremaster Cycle" im Pariser Musee d'art moderne, ein Konzert des Orchesters der Oper Zürich mit Bruckners Neunter in der Tonhalle und einige Bücher, darunter Essaybände von Thomas Hürlimann und Urs Widmer, sowie Werke und Gedichte von Else Lasker-Schüler (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 24.12.2002

In der taz geht es heute sehr anlassbezogen zu. Auf den Tagesthemenseiten erklärt Arno Frank in einem Beitrag zur Ikonografie von Ochs und Esel, warum die Nebendarsteller ehemals eigentlich die Hauptakteure im Krippenspiel waren: "Dafür spricht ein kurioses Indiz, die älteste Geburtsdarstellung der Christenheit. Das Elfenbeintäfelchen aus dem fünften Jahrhundert, das heute im französischen Nevers zu besichtigen ist, zeigt lediglich Ochs und Esel, deren Fresstrog von Jesus Christus besetzt ist. Von den Eltern keine Spur, die in den frühesten Schriften des Neuen Testaments nur am Rande erwähnt werden (...) Was heute die zentrale Szene einer Weltreligion ist, war damals zu vernachlässigen. Sensationell war die Nachricht vom gekreuzigten Gott, nicht die Geschichte seiner Niederkunft auf die Welt."

Darüber hinaus lesen wir einen Bericht von Thilo Knott über Jesus als Playmobil-Kassenschlager, Kirsten Küppers porträtiert Esel Ferdinand, der im Krippenspiel der Allgäuer Gemeinde Kaufbeuren irgendwie eine Rolle spielt, Stefan Kuzmany gibt Kauf- und Schenktipps für die letzte Minute und der Koch Vincent Klink (mehr hierempfiehlt ein zugegebenermaßen wieder köstlich klingendes Weihnachtsmenü, für dessen Zutatenbeschaffung - wo bitte kriegt man Ochsenschwanz ohne Vorbestellung? - am heutigen Vormittag allerdings erhebliche Energien erforderlich sein dürften (wenn nicht Wunder).

Auch auf den Kulturseiten weihnachtet es schwer. Wir lesen ein Weihnachtsmärchen von Uli Hannemann, in dem es um Aussätzige sowie "das Wesentliche" geht und in der eine "betreten dreinblickende Ente" auf einem Waldweg vorkommt. Jenny Zylka räsonniert einigermaßen überflüssig über "Weihnachtsgeschenke und ökonomische Krise".
Thomas Winkler schreibt außerdem einen Nachruf auf den Gitarristen und Sänger Joe Strummer, den Frontmann der Punk-Gruppe The Clash.

Besprochen werden eine Ausstellung über die Prinzipien des Sammelns und Präsentierens von Naturalien des amerikanischen Künstlers Mark Dion (mehr hier) in der Esslinger Villa Merkel, und Bücher, darunter eine neue Studie von Hernando de Soto, die sich mit der Frage beschäftigt, warum der Kapitalismus nicht weltweit funktioniert, ein Handbuch der Globalisierungsgegner, Horst Evers' Erzählung aus dem Leben eines Berliner Schlaffis, der neue Wissenschaftsthriller von Michael Chrichton und die Wiederauflage eines Reiseberichts über Ceylon aus den 50er Jahren. (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr)

Und hier TOM.

FAZ, 24.12.2002

Der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht und Steuerexperte Paul Kirchhof hält eine Weihnachtspredigt über Steuergerechtigkeit (im Internet steht sie unter der Überschrift: Ehrt eure großen Steuerzahler). Seiner Ansicht nach ist das Steuerrecht "unverständlich, belastet ungleich und deshalb teilweise auch übermäßig". Nicht mal der Finanzminister wisse noch, wie viele Steuergesetze es in Deutschland gebe. Dabei kämen wir laut Kirchhof mit drei oder vier Steuern spielend aus. Weil das Steuergesetz so unverständlich formuliert sei und keinen "einsichtigen Belastungsgrund" mehr vermittle, erscheine dem Bürger die Steuerlast nicht mehr als "Ausdruck wirtschaftlichen Erfolgs, sondern Folge steuertaktischen Ungeschicks". Kirchhof fordert eine grundlegende Reform. (Die FAZ weiß eben noch, was eine frohe Botschaft ist.)

Der Schriftsteller Martin Mosebach beklagt, dass das weihnachtliche Schlussevangelium ("Im Anfang war das Wort") aus der Messe entfernt wurde. "Vielleicht, weil man vergessen hatte, was es aussagen sollte?" Mosebach hat es nicht vergessen und klärt den Leser auf.

Weitere Artikel: Susanne Klingenstein hat zugehört, als deutsche Nachwuchsforscher in Boston vor Bundestagsabgeordneten über ihre Heimat klagten. Dieter Bartetzko beschreibt eine "erschütternde" Ruine: die spätgotische Toranlage des "Großen Riederhofs" in Frankfurt, die zufällig dem großen Plattmachen 1951 entgangen war. E.B. gratuliert dem Künstler Jonathan Borofsky zum Sechzigsten. Gerhard R. Koch gratuliert dem Regisseursintendanten Claus Helmut Drese zum Achtzigsten. Edo Reents schreibt zum Tod des Punkrockers Joe Strummer, Theodor Geus zum Tod der Schriftstellerin Gabrielle Wittkop.

Auf der letzten Seite stellt Dietmar Dath eine Weihnachtsgeschichte von 1955 des Science-Fiction-Autors Arthur C. Clarke (mehr hier) vor. Zhou Derong porträtiert den neuen Bischof von Hongkong Joseph Zen-Zekiun ders als mutigen Mann, der gegen das sogenannte "Antisubversive Gesetz" im Grundgesetz von Hongkong demonstriert hat. Und Eleonore Büning warnt, dass wir nach all dem "adventswirren Gemauschel" um die Opernreform in Berlin gar nicht mehr mitbekommen werden, wenn "statt heißer Kamellen plötzlich eiskalte Tatsachen zu melden sind".

Besprochen werden eine Ausstellung von 500 Jahren Trompe l'Oeil-Malerei in der National Gallery of Art in Washington, eine Aufführung von Peter Handkes "Unvernünftige" im Schauspiel Bochum, Trisha Browns Choreografie der "Winterreise" und die Ausstellung "Mare Balticum" im Nationalmuseum in Kopenhagen.

FR, 24.12.2002

Die FR druckt einen Ausschnitt aus Felicitas Hoppes neuem Roman "Paradiese, Übersee", der im Januar erscheinen wird. Hier der Anfang: "So fabulierte der Pauschalist, ohne Sinn und Zusammenhang, denn er hatte seit Jahren kein Theater mehr von innen gesehen. Abgesehen von seiner Schulzeit hatte er überhaupt noch nie auf einer Bühne gestanden, weil er weder Sinn für Kostüme noch Talent für das Rollenspiel besaß. Er erinnerte sich noch immer mit großem Unbehagen an den einzigen Auftritt seines Lebens, eine lächerlich kleine Nebenrolle in der Aula der Schule, wo er an einem grauen Weihnachtsmorgen vor Eltern, Lehrern und Schülern den Herold in einem Weihnachtsspiel auf die Bühne zu bringen hatte. Eine Rolle, die aus einem einzigen Satz bestand und die man ihm einzig aus Nachsicht und Gnade zugeteilt hatte, weil er weder singen noch rezitieren konnte. Vielleicht aber auch nur zur Strafe, weil er sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt hatte, eine der stillen Rollen zu geben, nämlich den Ochsen oder den Esel, die sich durch nichts auszuzeichnen hatten als durch ehrliches Stehvermögen."

Weitere Artikel: Peter Michalzik meditiert über das "Vorweihnachtsgeschäft, das Christkind und die Gabe". Udo Feist schreibt zum Tod des Punkrockers Joe Strummer und Ina Hartwig zum Tod der Schriftstellerin Gabrielle Wittkop. Außerdem präsentiert die FR heute eine Seite, die von dem Künstler Stephan Huber gestaltet wurde.

SZ, 24.12.2002

Thomas Steinfeld denkt anlässlich der "Vorkriegszeit, auch in Deutschland" darüber nach, warum das "mulmige Gefühl Frieden" jetzt zur "unpassenden Zeit" komme. "Zum ersten Mal seit über fünfzig Jahren verfolgen die Vereinigten Staaten und Europa deutlich unterschiedliche weltpolitische Interessen. Jeder ahnt - oder meint sogar schon zu wissen -, dass es nicht entscheidend sein wird, was die Inspektoren der Vereinten Nationen über die Bewaffnung des Irak mitteilen werden. Sie mögen an Indizien und Beweisen mitbringen, was sie wollen: entscheidend ist allein der amerikanische Wille, dass die jetzige irakische Regierung abgelöst werden muss." Frieden sei deshalb, "so stellt es sich jetzt heraus, nicht viel - nicht mehr als die Abwesenheit von Krieg, nicht mehr als eine Pause zwischen den Waffengängen, ein zeitlicher Vorbehalt, ein Aufschub, eine Fermate."

Weitere Artikel: Alex Rühle liefert einen wunderbaren Bericht aus der Zisterzienserabtei Mariawald, Deutschlands letztem Trappisten-Kloster. Hanser-Chef Michael Krüger erinnert sich an "ein Treffen am Bosporus" im Jahre 1980, wo er "zusammen mit türkischen Schriftstellern und Intellektuellen in einer verrammelten Kneipe saß" und der Gastgeber zur Begrüßung sagte, "in diesem Raum seien rund vierhundert Jahre Gefängnis versammelt". Petra Steinberger berichtet über das neue Bauprojekt von Frank Gehry (mehr hier): er baut in Jerusalem das "Museum der Toleranz", eine Stiftung des Simon-Wiesenthal-Centers. In zwei Texten würdigen Ulrich Raulff (hier) und Gottfried Knapp (hier) "50 Jahre TV"; bei ersterem stirbt im Fernsehen "die Gegenwart den Kältetod", bei Knapp schrumpft darin "das Reale zur Meinung" (womit sich auch das deutsche Feuilleton ganz gut beschreiben ließe).

Zum gleichen Thema - 50 Jahre TV - ist auf der Medienseite auch ein als "besinnlich" apostrophiertes Interview mit Harald Schmidt zu lesen. Alexander Kissler schreibt über den Ritus des "wunderbaren Tauschs" als wahren Kern der Weihnacht. Etwas unklar bleiben Quelle, Sinn und Zweck eines Beitrags zur Lust und Qual von Schriftstellern oder ihren Figuren "Ich zu sagen"; ob die "persönlichen Bekenntnisse und allgemeine Einsichten" nun absichtsvoll oder versehentlich autorfrei blieben: die ganze Angelegenheit hat etwas geheimnisvoll Quizhaftes. In der Kolumne Zwischenzeit stellt sich Herbert Riehl-Heyse anlässlich der aktuellen Spiegel-Titelgeschichte vor, wie wohl das (deutsche) Christentum auf (türkische) Moslems wirken muss. Fritz Göttler gratuliert dem Filmemacher und Poeten Jonas Mekas zum 80. Geburtstag, in einem Nachruf auf Joe Strummer erinnert Oliver Fuchs an den Clash-Frontman. Fritz Göttler weiß alles über den Mega-Kassenschlager "Herr der Ringe", Teil II, und "RJB" vermeldet das "Berliner Opernwunder", eine Art Konsens zwischen "drei Intendanten und damit auch ihren Dirigenten", den ein einziger Kultursenator zuwege brachte; weiterhin ist eine Einigung, nämlich die zwischen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, zu anzuzeigen.

Besprochen werden eine Inszenierung der "Fledermaus" am Münchner Gärtnerplatztheater, und Bücher: darunter Rezensionen zur Neuedition von Herders "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit", zu einem schon älteren Band mit Porträts von Weggefährten, Zeitgenossen, Jugendfreunden, Verwandten, Freunden und Feinden des ägyptische Erzähler und Nobelpreisträgers Nagib Machfus (mehr hier) und zu einem neuen Krippenlexikon.