Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.12.2002. Lesenswert heute vor allem die FAZ, die es geschafft hat, ein Interview mit dem ehemaligen Schlagersänger Claude Vorilhon zu führen, der heute als "Rael" das Klonen predigt. In der taz erklärt der Ägypten-Korrespondent, warum sich seine Tante in die Luft sprengen will. In der NZZ meditiert der rumänische Autor Norman Manea über Totalitarismus und Literatur.

Und wir wünschen einen guten Rutsch!

FAZ, 31.12.2002

Der gute Mann hat eine ziemliche Schacke, aber es ist interessant, ihm zuzuhören. Andreas Rosenfelder hat es tatsächlich geschafft, ein Interview mit dem ehemaligen Schlagersänger Claude Vorilhon (Bilder) zuführen, der heute als "Rael" das Klonen predigt - jüngst hat seine Sekte bekanntlich die Geburt des ersten geklonten Kindes verkündet. Das Klonen ist aber nur ein erster Schritt, erläutert "Rael": "Der nächste Schritt wird die Entdeckung des Accelerated Growth Process (AGP) sein, der die Multiplikation der Zellen beschleunigt. Dank einer besonderen Technologie wird man in der Lage sein, in wenigen Stunden einen erwachsenen Klon zu produzieren.... Dieser erwachsene Klon ist wie ein Leerband. Dann muss man die Erinnerung und die Persönlichkeit, die man im Gehirn hat, ins Gehirn des Klons herunterladen. So kann man nach dem Tod in einem anderen Körper weiterleben." Dass das erste Klonkind zu Weihnachten geboren wurde, ist natürlich kein Zufall: "Meine Mutter empfing mich am 25. Dezember 1945 durch einen Außerirdischen. An Weihnachten feiere ich zugleich meine Zeugung und den Geburtstag meines Bruders Jesus, denn wir haben denselben Vater."

Weitere Artikel: Auf einer ganzen Seite bilanzieren die zuständigen Redakteure das Jahr 2002 in Wissenschaft und Künsten. Es war kein gutes Jahr. Das Theater zum Beispiel steht nach Gerhard Stadelmaier "mit dem Rücken, den es fast schon nicht mehr hat, zur Wand, die gerade auch noch von den Kulturpolitikern halb eingerissen wird." Für Michael Jeismann, so schreibt er es in der Leitglosse, annonciert sich im neuen Preissystem der Bahn ein neues Zeitalter der Kollektivierung. Jordan Mejias unterrichtet uns, dass Michail Baryschnikow in New York ein neues Tanzforum schaffen will. Peter Guth freut sich über die Gründung eines "Forums zeitgenössischer Kunst und Kultur" in Dresden-Hellerau auf dem berühmten von Heinrich Tessenow Anfang des letzten Jahrhunderts entworfenen Festspielgelände. Dieter Bartetzko stellt die Pläne von Albert Speer (dem Jüngeren) für eine Achse durch die Stadt Peking vor - sein Büro ist für die Arbeiten im Vorfeld der Olympiade mit einem Gutachten über eine solche Achse betraut worden. Gerhard Schoenberner gratuliert dem senegalesischen Filmregisseur Sembene Ousmane zum Achtzigsten. Und Jürgen Kaube schreibt zum sechzigsten Geburtstag Richard Sennetts (mehr hier und hier).

Auf der letzten Seite informiert Susanne Klingenstein über die Entstehung zweier neuer Zentren für Biomedizin in Harvard ("Das eine gehört zur Harvard Medical School selbst und wird ihr neuer Nordcampus sein. Das andere wird vom Pharmaziegiganten Merck gebaut und betrieben werden.") Dieter Bartetzko verabschiedet Rudi Carrell, der heute zum letzten Mal im Fernsehen auftreten will. Und Cecilia Lengefeld erzählt eine Episode aus dem Hause Warburg - wo der später berühmte Kunsthistoriker Aby zu Silvester 1896 ein Theaterstück für seine gesamte Familie schrieb. Auf der Medienseite bilanziert Michael Hanfeld die Fernsehfilmproduktion des Jahres 2002.

Besprochen wird eine Ausstellung der grotesken Köpfe (Bild) von Franz Xaver Messerschmidt in Wien.

FR, 31.12.2002

Im Aufmachertext unternehmen fünf Autoren "fünf schriftliche Versuche, den Menschen von morgen ins Bild zu bringen". Verhandelt werden der Unternehmer, der Rentner, der Angestellte, der Arbeitslose und die Studentin. Nehmen wir sie als Textbeispiel: "Nur noch die beiden mündlichen Prüfungen, dann ist sie fertig - endlich. Die Studentin lacht und trinkt noch einen Schluck Rotwein. Wenn sie irgendwann an ihre Studentenzeit zurückdenken wird, wird sie diese Küche vor sich sehen. Die bunt bemalte Wand, die hellen Holzdielen, die alten Kinosessel hinter dem runden Tisch, die sie geschenkt bekommen hatte - oder war es ihre Mitbewohnerin? (...) Sechzehn Semester wird sie am Ende studiert haben - kürzer als viele von denen, die heute in der Regierung sitzen, länger als die, die nach ihr kommen werden. Sie hat viele Pläne, sie hat keine Angst. Wenn sie so lacht in ihrer bunten Küche, denkt man: Hoffentlich ist sie nicht die letzte ihrer Art."

Adam Olschewski erklärt uns anhand der neueren Instrumentengeschichte, was die Briten allen anderen voraus haben und "was von der Gitarre übrig bleibt" ("Jeden Mitesser, jede Narbe, jeden Millimeter Apfelhaut auf seinem noch jugendlichen Gesicht hat der Rock der Gitarre zu verdanken"). Thomas Kaltenbrunner räsoniert in einem Essay über das Zusammenspiel zwischen Architektur und Ingenieurskunst ("Scheinbar tut es Not daran zu erinnern, dass es Ingenieurbauten waren, die die Architektur revolutionierten"). Ulrich Ammon berichtet vom Weltkongress für Angewandte Linguistik in Singapur, auf dem es um "mutter- und fremdsprachliches" Englisch ging und die "Mehrsprachigkeit als Phrase" bemängelt wurde. Eckhard Henscheid schließlich würdigt in seinem vorläufig letzten kritischen "Wahrwort des Monats" Angela Merkels Anmerkung zum "Grinsen auf der Regierungsbank".

Besprochen wird Benedetto Marcellos Barockoper "Arianna" am Theater Freiburg.

TAZ, 31.12.2002

Unter der Überschrift "Hilfe, meine Tante ist Terroristin" resümiert Karim El Gawhary das Verhältnis zwischen Orient und Okzident, das sich im vergangenen Jahr "stark verschlechtert" habe. Die "Anziehungskraft von Terror und militantem Antiamerikanismus", so eine These, sei "weit in die Mitte der arabischen Gesellschaften vorgedrungen". Seither regiere "das beiderseitige Klischee". Er berichtet: "Meine gutbürgerlichen, zutiefst apolitischen Kairoer Tanten sind für mich stets ein wichtiges arabisches Stimmungsbarometer. Während eine von ihnen unlängst gestand, sie bete mehrmals am Tag dafür, dass Bush und Blair der Schlag trifft, outete sich eine andere unlängst mit dem Satz, dass sie sich am liebsten selbst einen Sprengstoffgürtel umschnallen wolle. Beide Tanten haben einen Großteil ihres Lebens damit zugebracht, alles Westliche anzubeten."

Weitere Themen: Tobias Rapp beschäftigt sich anlässlich des Dokumentarfilms "Standing In The Shadows Of Motown" (hier) mit den in Vergessenheit geratenen Vorvätern des HipHop. Aloys Niyoyita und Dominic Johnson berichten über die deutsche Entwicklungshilfebehörde GTZ, die per Lebensmittellieferungen Hutu-Rebellen in Burundi unterstützen. Und auf den Tagsthemenseiten beichtet Claudia Roth in ihrer bemerkenswerten Eigenschaft als Jury-Mitglied zur Auswahl des taz-Grand-Prix-Lied-Texts ihre "Grand-Prix-Gefühle" und spricht im Interview über "Puccini als Erzieher und die Charts ihrer Mutter".

Die heutigen Besprechungen gelten vorwiegend Büchern: darunter "eine eindrucksvolle" und höchst anschauliche Studie über das Unbewusste in der Politik. Zeitgleich mit Michael Moores Film "Bowling for Colombine" erschien sein Buch "Stupid White Men" über "eine Elite, die sich hemmungslos bereichert und die Demokratie demontiert". Eva Behrendt hörte ein CD mit Thomas Kapielski, der seine eigenen Texte liest, rezensiert werden ein Spionageroman von Alan Furst und zwei neue Publikationen der Kinder- und Jugendbuchautorin Alexa Hennig von Lange (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

Und schließlich TOM.

NZZ, 31.12.2002

Über Macht und Ohnmacht der Literatur, über den Totalitarismus und die Abgründe der Lächerlichkeit macht sich der aus Rumänien stammende Schriftsteller Norman Manea Gedanken. Unter anderem stellt er fest: "Im Zirkus der Welt gleicht der Dichter dem dummen August, er ist schlecht gerüstet für ein Leben, in dem die anderen sich die Wirklichkeit skrupellos aneignen und gefügig machen. Dennoch liegt in seiner Schwäche eine Stärke, in seiner Einsamkeit eine tiefe Solidarität. Und man tut gut daran, seine Phantasie als eine Abkürzung zur Wirklichkeit zu betrachten. Unvermeidlicherweise steht der dumme August, der Dichter, in der hell erleuchteten Arena der Öffentlichkeit dem Clown der Macht gegenüber. Die ganze menschliche Tragikomödie findet sich in dieser Spannung, wie man aus der Geschichte des Zirkus namens Geschichte lernen kann." (hier ein Gespräch mit Manea)

Weitere Artikel: Hans Peter Isler wundert sich gar nicht, dass seit Beginn der Renovierungsarbeiten auf der Akropolis kein Tempel mehr auf seinem Platz steht. Barbara von Reibnitz entdeckt in verschiedenen Fachzeitschriften ein neues Unbehagen am cultural turn der Geisteswissenschaften. Timo John begutachtet das "Haus der Geschichte Baden Württemberg" (hier), das nun endlich nach den Plänen des britischen Architekten James Stirling fertiggestellt wurde. Und Fleur Jaeggy ("Proleterka") schreibt die Geschichte des "schwebenden Engels".

Besprochen werden die Brit-Art-Schau "Blast to Freeze" im Kunstmuseum Wolfsburg, eine dem Zürcher Architekturbüro Vehovar & Jauslin gewidmete Ausstellung in der Pariser Galerie d'architecture sowie Reiner Stachs Kafka-Biografie (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 31.12.2002

Wenig los: In einer Chronik des Unbehagens passiert das vergangene Jahr Revue. Stichwort "Hitler IV": "Frankfurt, 12. Dezember. Der Tag, an dem der Jurist Roland Koch Sterne sah und Millionäre mit Holocaust-Opfern verglich".

Weitere Artikel: Willi Winkler erklärt, weshalb übermäßiger Konsumverzicht die "Triebstruktur der Gesellschaft durcheinander" bringt. Bertram Schefold gratuliert dem Architekten und Dichter Michael Stettler zum 90. Geburtstag, und Karl Bruckmaier erinnert an den 50. Todestag von Hank Williams. In der Kolumne "Zwischenzeit" beschäftigt sich Evelyn Roll mit der Psychopathologie des Versprechers. Richard Kähler durchstreift die Rezensionen der Amazon-Amateur-Buchkritiker (einen gönnerhaften Ton sollten sich unsere Kritiker hier allerdings ersparen. Frank Schirrmacher ist da weiter - er hat neulich entdeckt, dass sich die Leser heute mehr bei Amazon informieren als in der FAZ). Als ein Beispiel für "Verblasste Mythen" würdigt Malte Oberschelp die Dose - unter besonderer Berücksichtigung des neuen Dosenpfands. Alexander Kissler verabschiedet das nun zu Ende gehende und von den Vereinten Nationen zum "Jahr der Berge" geadelte 2002, und "egge" räsoniert angesichts der jahreszeitlich bedingten Geflügelprasserei über "Reb-Inkarnation". Schließlich gibt es noch die Auflösung des Weihnachtsrätsels. Auf der Medienseite wird annus horribilis 2002 branchengerecht resümiert.

Besprochen werden der Film "8 Mile" (mehr hier) von Curtis Hanson mit Eminem und Kim Basinger, außerdem zwei Ausstellungen mit Werken von Ellsworth Kelly (mehr hier) in der Fondation Beyeler Basel und in Lausanne. Rezensionen lesen wir über die Autobiografie von Nina Hagen, das Kinderalbum "Una Storia Vera" von Durs Grünbein und eine Studie zum moralischen Nihilismus (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).