Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.01.2003. Soll Verdi ruhig streiken - der Bürgersinn bildet Fahrgemeinschaften, hofft die SZ. Die FAZ bringt eine Sensation: MRR ist einer Meinung mit Sigrid Löffler. Die NZZ macht sich Gedanken über die viel diskutierte Liste mit den 20 besten "Young British Novelists". In der FR fürchtet Predrag Matvejevic eine Globalisierung der Partikularismen. Die taz fragt, wie sich afrikanische Künstler mit Aids auseinandersetzen.

SZ, 08.01.2003

Soll Verdi ruhig streiken, Bürgergesellschaft und Gemeinsinn werden Fahrgemeinschaften bilden, meint Gustav Seibt und ruft ein lautes "Bürger wehrt Euch!" in den Blätterwald, wobei der Staat die Vorhut bilden - und auf keinen Fall in den Tarifverhandlungen nachgeben soll. "Längst lastet der öffentliche Sektor tonnenschwer auf einer Gesellschaft, der aller Unternehmungsgeist abhanden gekommen scheint. Verdi soll ruhig Papierhemden und Fähnchen verteilen, soll ihre Anhänger in kalten Outdoor-Veranstaltungen in Stimmung bringen - die Bürger, welche nicht beim Staat in Lohn und Brot stehen, dürfen mit gleichem moralischen Recht für eine einfache Wahrheit kämpfen: Dieser Staat ist nicht das Eigentum seiner Angestellten, sondern derer, die ihn brauchen und bezahlen."

Weitere Artikel: Über die neue Kultur des Postenverteilens bei den Grünen wundert sich Jens Bisky und darüber, dass Antje Vollmer im Kulturausschuss Platz machen soll für die nicht mehr ausgelastete Claudia Roth. Stefan Koldehoff meldet, dass die Flick Sammlung nun endgültig nach Berlin kommt. Ab 2004 soll sie im Rieck-Haus, einer ehemaligen Lagerhalle nahe dem Hamburger Bahnhof, zu sehen sein. Fritz Göttler gratuliert dem Filmemacher Jean-Marie Straub zum Siebzigsten. Susan Vahabzadeh schreibt einen Nachruf auf den italienischen Schauspieler Massimo Girotti. Und Alexander Kissler stellt die neue Erfindung des australischen Arztes Philip Nitschke vor: Die Selbsmordhilfe "Exit Bag".

Außerdem hat die Musik heute ihren groen Aufttritt: Reinhard J. Brembeck erzählt, wie der Niederländer Pieter van Winkel mit seinem Label "Brilliant Classics" erfolgreiche Werkreihen von Palestrina über Monteverdi, Bach, Haydn und Sibelius bis zu Schostakowitsch zu Schleuderpreisen auf den Markt bringt (3 Euro pro CD). Wolfgang Schreiber erinnert ohne erkennbaren Anlass an den "Großunternehmer der Dirigierkunst" Rudolf Kempe. In seiner Pop-Kolumne freut sich Karl Bruckmaier, dass Norwegen musikalisch doch mehr als Synthesizer-Pop von a-ha und Neonazi-Metal zu bieten hat, im Moment erlebe es sogar seine Neue Deutsche Welle.

Besprochen werden Mark Romaneks genialer Psychothriller "One Hour Photo", neue CDs des Geigers Maxim Vengerov (homepage) und Strauß-Aufnahmen mit Jos van Immerseel und Bücher, darunter Hans Wollschläger Essays "Tiere sehen dich an" und ein Lexikon der deutschen Nachkriegsgeschichte (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 08.01.2003

Georges Waser macht sich einige Gedanken zu der ja doch viel beachteten, alle zehn Jahre von der Zeitschrift Granta herausgegebenen Liste mit den besten "British Novelists" unter vierzig: "Überraschungen? Dieser Frage sei eine zweite angefügt: Wie fühlte sich wohl der 24-jährige, in Oxford lehrende Adam Thirlwell, als er sich beim Aufwachen - und zwar nur auf Grund eines in einem unbedeutenden Literaturmagazin veröffentlichten Extrakts - unter den besten jungen Erzählern seines Landes sah? Eine ähnliche Überlegung gilt für die 35-jährige, in Oxford geschulte Monica Ali: Ihr erstes Buch - es handelt von einer Frau, die zur Heirat aus Bangladesh nach London kommt - wird erst im Sommer veröffentlicht, und so verdankt Ali denn einzig ihrem Manuskript die Aufnahme in die Bestenliste." Hier die Liste mit vielen hübschen Autorenfotos. Hier eine sehr nützliche Liste des Observer und des Guardian mit den Kritiken zu den genannten Autoren.

Weitere Artikel: Joachim Güntner bereitet uns auf das Jahr der Bibel vor und schildert die unter Christen offenbar wieder verbreitete Praxis, das ganze Heilige Buch abzuschreiben. Alice Vollenweider hat ihren Weihnachsturlaub beneidenswerter Weise in Rom verbracht und schickt nun unter dem Untertitel "Politik und Kultur von der Antike bis heute" einige Impressionen aus dem Kulturleben der Stadt: "In Rom gibt es zurzeit auch ein paar schöne Ausstellungen, die weniger anstrengend sind als die großen Pflicht-Museen." Simone Wille freut sich, dass Judy Chicagos Installation "Dinner Party", ein Klassiker der feministischen Kunst, von un ab im Brooklyn Museum of Art zu sehen ist.

Besprochen werden eine CD-Box mit Hindemiths Oper "Harmonie der Welt", eine CD-Box mit Aufnahmen des Pianisten Robert Casadesus und einige Bücher, darunter - sehr ausführlich - Frederic Spotts' bisher nur auf englisch erschienene Studie "Hitler and the Power of Aesthetics" (mehr hier) ("Das Zwielicht bleibt auf der Szene, auch wenn nun das Spektrum von Hitlers kulturellen Ambitionen in dieser brillanten, von innerer Spannung erfüllten Darstellung aufgehellt ist", schreibt Theodor Wieser) und John Rawls' "Das Recht der Völker". (Siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr.)

FR, 08.01.2003

Angesichts der "irrationalen Tendenzen von neuer Teilung und Separierung" in Europa macht sich der Literaturwissenschaftler Predrag Matvejevic Gedanken über eine neue Ethik der Grenzen. "Die alten Partikularismen könnten jetzt wieder die inneren Grenzen Europas aufscheinen lassen. Jener unsägliche Typus des Nationalismus, des Regionalismus, des Lokalismus, des aggressiven Provinzialismus und ähnlicher Tendenzen könnte in wie auch immer veränderter Form wieder aufblühen. Eine Arroganz gegen die anderen könnte sich zeigen, der jede Idee des Zusammenlebens oder der Synthese fremder Kulturen fremd ist."

Weitere Artikel: In ihrem Flatiron Letter vermutet Marcia Pally, dass die Amerikaner im Moment große Angst haben. "Rechnet man die Einnahmen der zehn erfolgreichsten Filme zusammen, haben sie gerade 2 333 000 000 Dollar ausgegeben, um bestätigt zu bekommen, dass sie die Bösen schon zerschmettern werden." K. Erik Franzen war in Kuba und liefert Hemingwaysche Impressionen. In der Kolumne Times mager geht's um Kino, Bier und Zigaretten.

Besprochen werden die Kompilation " Bis auf Weiteres eine Demonstration" des Hamburger Zick Zick-Labels, die Ausstellung "Afrikanische Reklamekunst" im Bayreuther Iwalewa-Haus sowie Installationen von Doug Aitken im Kunsthaus Bregenz und Bücher, darunter Uwe Johnsons Briefe an Jochen Ziem, Antonio Munoz Molinas Roman "Carlotas Liebhaber" oder Günter Herburgers Gedichtband "Eine fliegende Festung" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 08.01.2003

Das Jahr fängt ja gut an: Marcel Reich-Ranicki ist einer Meinung mit Sigrid Löffler! Diese hatte im Börsenblatt (wir berichteten) Listen unbedingt zu lesender Bücher als Quatsch abgetan. Reich-Ranicki sekundiert: "Besonders ärgerlich sei - so Sigrid Löffler - der autoritäre Gestus der selbsternannten Bücherrichter: Hinter der 'lesepädagogischen Drohgebärde stecken unverhohlen diktatorische Gelüste'. So ist es, hier liegt der Hase im Pfeffer. Niemandem steht es zu, dem Publikum irgendwelche Bücher, ob nun drohend oder nicht, als Pflichtlektüre zu diktieren." Marcel Reich-Ranicki ist Herausgeber des Kanons.

Anderswo gibt es echte Probleme. Einen sehr schönen persönlichen Text schickt die Übersetzerin aus dem Spanischen, Elke Wehr, aus Buenos Aires, wohin sie sich begab, um die Lage der Literatur zu erkunden. "Wann immer von Literatur die Rede ist, zeigt sich, dass der Schatten von Borges noch immer groß ist (alle, die im richtigen Alter dafür sind, haben ihn irgendwie mal gesehen oder bei ihm geklingelt oder ihm die Hand gedrückt; er muss sehr zugänglich gewesen sein), zeigt sich auch, daß es eine überaus vielfältige Szene gibt, eine der interessantesten Südamerikas, der im Zuge der Krise die Leser abhanden kommen. Die Auflagen im Land werden immer kleiner. Und die etablierten Autoren, jene, die viele Bücher verkaufen, leben nicht im Land. Sie lehren an nordamerikanischen Universitäten oder leben in Europa: Eloy Martinez, Piglia, Saer oder Fresan, um einen jüngeren zu nennen."

Weitere Artikel: Der Grünenpolitiker Oswald Metzger (mehr hier) plädiert für eine schwarz-grüne Koalition (und gegen "Joseph Fischer"). Gina Thomas kommentiert die von der Literaturzeitschrift Granta alle zehn Jahre herausgegebene Liste der wichtigsten britischen Autoren unter vierzig. Volker Stollorz unterhält sich mit dem kanadischen Autor und Experten Bryan Sentes für die Rael-Sekte über das angebliche Klonkind ("Ich persönlich wäre sehr erstaunt, wenn wirklich schon Klone geboren worden wären.") Christian Geyer mokiert sich über den Philosophieprofessor Volker Gerhardt, der die biopolitischen Einlassungen in den deutschen Feuilletons kritisierte. Ilona Lehnart freut sich, dass es im Bundeshaushaltsplan der Kultur noch glimpflich ergeht. (Für die unterstützten Berliner Institutionen, inklusive der Baukosten bei der Stiftung Preußischer Kulturbesitz gibt es allerdings keine Aufschläge.) Gerhard R. Koch gratuliert dem Filmemacher Jean-Marie Straub zum Siebzigsten.

Auf der letzten Seite nimmt Tilman Spreckelsen den im Fernsehen laufenden "Napoleon"-Vierteiler zum Anlass anzumerken, dass schon Arno Schmidt das Regime des Kaisers als Vorläufer der europäischen Einigung feierte. Und Andreas Platthaus feiert den französischen Comiczeichner Yvan Pommaux, der in seinem jüngsten Buch seiner Kindheit in Vichy (aber nach dem Krieg) schildert. Auf der Medienseite holt sich Michael Hanfeld im neuen, nun von Burda herausgegebenen Playboy die "Gewissheit, dass es in Ausnahmefällen auch ein gutes Gefühl sein kann, ein Mann zu sein". Hanfeld berichtet auch über Zeitungen, die über Zeitungen berichten, die über Gerüchte über das Privatleben Gerhard Schröders berichten. Und Heike Hupertz stellt einen amerikanischen Fernsehsender vor, der ausschließlich dem Wetter gewidmet ist.

Besprochen werden zwei Inszenierungen, nämlich Einar Schleefs "Zigaretten" und ein "Nathan", in Mannheim und Peter Mullans Film "Die unbarmherzigen Schwestern".

TAZ, 08.01.2003

Nur Rezensionen heute in der taz: Im Aufmachertext widmet sich Aygül Cizmecioglu einer Ausstellung der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst in Berlin zur Auseinandersetzung von afrikanischen Künstlern mit Aids. Sehr "innovativ" fand sie dabei die "Verbindung von traditionellen Symbolen mit tabuisierten Inhalten".

Besprochen werden außerdem Harold Ramis Film "Reine Nervensache 2", Fausto Paravidinos Stück "Peanuts" im Münchner Theater Haus der Kunst und Bücher: Maxwell Geismar Enzyklopödie "Twains Tierleben" das neue Buch des Pulp-Autors und Blaxploitation-Spezialisten Darius James "Voodoo Stew" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Schließlich Tom.
Stichwörter: Aids, Berlin, Pulp, Blaxploitation, Peanuts