Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.01.2003. Die FAZ feiert einen Tisch mit fünf Ecken. Die taz swingt zur "postmodernsten Musik ever". Die SZ wurde in Nicolas Philiberts Dokumentarfilm "Sein und Haben" eines "Filmwunders" angesichtig. Die FR fühlt sich in Kriegsneurosen ein. Die NZZ wundert sich über die Lauheit deutscher Debatten zum Krieg.

SZ, 17.01.2003

"Ein Filmwunder", ruft Rainer Gansera begeistert. Gemeint ist Nicolas Philiberts Dokumentarfilm "Etre et avoir - Sein und haben" über den Alltag in einer Dorfschule in der Auvergne: "13 Kinder im Alter zwischen 3 und 11 Jahren, ein Lehrer und ein Klassenzimmer", mehr gebe es nicht in diesem Film, den in Frankreich 1,5 Millionen Zuschauer gesehen haben. "Woraus bezieht der Film, der keineswegs das Loblied auf ländliche Idylle, Zwergschule und kindliche Unschuld anstimmt, seine Attraktion? Vielleicht daher: Er evoziert mit einfühlsamem Blick das Universum der Kindheit in all seinen Farben: Schönheit und Zauber, Konfusion und Angst, Zorn, Langeweile, Dramen der Einsamkeit und Verlorenheit." Daneben gibt es ein Interview mit dem Regisseur ("Als Kind habe ich die Schule gehasst...").

Als "europäische Version der Eier legenden Wollmilchsau" bezeichnet Johannes Wilms den Vorschlag Deutschlands und Frankreichs, die Führung der EU künftig einer Doppelspitze aus Kommissionspräsident und einem ihm gleichberechtigten Präsidenten des Europäischen Rats anzuvertrauen. "Ein europäischer Januskopf, ein mythologischer Aberwitz mithin, der uns jetzt von dem deutsch-französischen Europa-Tandem Chirac-Schröder als der politischen Weisheit letzter Schluss verkauft wird. Wir sehen und staunen und wissen nicht, ob wir darüber lachen oder weinen sollen. Aber so ist eben Europa. Demnächst werden es also 25 Hühner sein, die sich, in den Kreidekreis ihrer nationalen Eigen- und Unarten gebannt, gegenüber stehen."

Die Kreuzzugrhetorik von George W. Bush mag in ihrer vereinfachenden Grobheit verschrecken, schreibt Petra Steinberger, manchen Amerikanern gehe das aber noch längst nicht weit genug. Neben den Evangelisten Pat Robertson, Franklin Graham und Jerry Falwell ("er nannte Mohammed, den Propheten, einen 'Terroristen'") gehören dazu auch neokonservative Intellektuelle, die "George W. Bushs Darstellung des Islam als friedlicher Religion" widersprechen.

Weitere Artikel: Marlene Streeruwitz (mehr hier und hier) hat auf der Literaturseite D.H. Lawrence' "Liebende Frauen" wiedergelesen. Fritz Göttler träumt mit dem deutschen Kino vom Welterfolg und huldigt Caroline Link ("Nirgendwo in Afrika"), unserer Matadorin für den Golden Globe. Imue glaubt, der Untersuchungsbericht der Göteburger Krawalle beim EU-Gipfel im Juni 2001 hat das Zeug zu einem komischen Roman. "tost" kommentiert die Anti-Kriegs- und Anti-Amerika-Polemik von Günter Grass. Uwe Mattheis stellt die Mustersiedlung 9ist12 im Westen Wiens vor, das gelungene Beispiel für neues Wohnen am Stadtrand. Jens Bisky findet in der Antrittserklärung der neuen Vorsitzenden der Kultusministerkonferenz Karin Wolff nur die "bewährte Mischung aus Schlagworten, Aktionen und Gemeinplätzen". Gemeldet wird, dass der Kurt-Wolff-Preis an den Verlag Neue Kritik geht und dass der Belgier Hugo Claus den Leipziger Buchpreis erhält.

Auf der Medienseite erzählt Hans-Jürgen Jakobs, wie RTL und Helmut Thoma mit der Soap GZSZ die Fließbandfertigung in den deutschen Fernsehmarkt einführten.

Besprochen werden Mozarts Oper "Entführung aus dem Serail" in der Version von Duncan/Ultz in München ("Gags essen Mozarts Seele auf", bedauert Wolfgang Schreiber, dafür dirigiere Daniel Harding furios), Tschechows von Albrecht Hirche inszenierte "Möwe" in Basel, Romeo Castelluccis "Tragedia Endogonidia" in Berlin, eine Ausstellung mit Zeugnissen des frühen Goethe-Kultes in Frankfurt, die Internationale Möbelmesse - oder imm cologne - in Köln, und Bücher, darunter Herlinde Koelbls fotografische Einblicke in urbane Schlafzimmer, das biographische Lexikon zur deutschen Geschichte von Udo Sauter und Heide Platens Reportagensammlung "Mensch, Tier! Von Bestien, Biestern und Kuscheltieren" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 17.01.2003

Mehrere Soldaten der amerikanischen Antiterroreinheit Delta Force haben während ihres Heimaturlaubes vom Afghanistaneinsatz ihre Frauen getötet., hat Helmut Höge in der Netzeitung gelesen. Kriegsneurose, diagnostiziert er in seinem Artikel über die Folgen des Kämpfens und zitiert die Frau eines deutschen KSK-Kommandomitglieds aus einem Interview im Tagesspiegel von 2001: "Wenn er über Handy angerufen wird und ein bestimmtes Codewort hört, dann muss er sofort los: 'Er darf dann nur noch ein Testament machen.' Bis es so weit ist, guckt er in seiner Freizeit am liebsten Fernsehen, wobei er 'alles, was mit Krieg zu tun hat, wegzappt', daneben 'schläft er viel'. Aber nachts wacht er oft von seinem eigenen Kampfstöhnen auf, und manchmal bekommt sie im Schlaf einen Boxhieb von ihm ab. Sie meint, er sei beziehungsunfähig, und seine wirkliche Familie, das sei sein Kommandotrupp, der aus vier Mann bestehe: Mit ihnen feiere er Weihnachten und Geburtstage zusammen, und nur mit ihnen dürfe er auch über seine geheimen Dienstangelegenheiten reden."

Die jetzt so spektakulär wiederaufgetauchten Beatles-Bänder hält Daniel Kothenschulte für gar nicht so sensationell. "Die Beatles waren gut beraten, ihre geplante Tournee abzusagen, sich in Ehren zu trennen und nicht als erste Oldie-Band in die Geschichte einzugehen. Nostalgie ist etwas für Fans, nicht für Künstler, und Bootlegger sind die treuesten Fans, die es gibt. Sie haben diesen Schatz erschlossen, schon vor dreißig Jahren, auf Flohmärkten, Plattenbörsen und an Uniständen. Jeder echte Beatles-Fan hat ein paar Stücke aus diesem Konvolut zu Hause."

Weiteres: Robert Kaltenbrunner kommt frisch aus Bombay, immer noch ganz beeindruckt von der nicht nur architektonischen Vielfalt und Lebendigkeit der glitzernden Metropole. Stephan Hilpold bezweifelt das sogenannte Wiener Theaterwunder, er findet die Aufführungen am Burgtheater sogar ziemlich kalkuliert. Hans Wolfgang Hoffmann gratuliert dem Architekten Sergius Ruegenberg zum Hundertsten, dem "großen Karikaturisten der Moderne". Und I. H. bemerkt in Times mager, dass Günter Grass mit seinem Protest gegen den Irak-Krieg offene Türen einrennt. Gemeldet wir, dass Aki Kaurismäkis Film "Mann ohne Vergangenheit" mit dem European Film Award 2002 ausgezeichent wird und dass der tschechische Philosophieprofessor Milan Machovec im Alter von 77 Jahren in Prag gestorben ist.

Auf der Medienseite erklärt uns Alexander von Streit, warum der Prozess gegen die EM.TV Gründer Thomas und Florian Haffa gerade auf der Kippe steht.

Besprochen werden , Nicolas Philiberts Dokumentarfilm "Sein und Haben", Claus Peymanns Inszenierung von Brechts "Die Mutter" in Berlin, Mozarts "Entführung aus dem Serail" in der Version von Martin Duncan in München, und als CD der Woche Ernest Fanellis symphonischer Bilderbogen "Le Roman de la Momie".

TAZ, 17.01.2003

Musikalisch, die taz: Tori Amos (zur Person) redet Klartext mit Daniel Bax, nicht so sehr über ihr neues Album als über ihr fast hoffnungsloses Heimatland Amerika. "Sie müssen dort keine Bücher verbrennen. Das ist nicht die Strategie. Man gibt den Leuten vielmehr hunderte von Kanälen und so viel Ablenkung, aber nur sehr wenig wirkliche Informationen - über das, was unsere Politik ist, und wie die Menschen außerhalb Amerikas darauf reagieren. Es herrscht diese Jerry-Springer-Kultur vor (Moderator einer notorischen Krawall-Talkshow; d. Red.). Aber es gibt auch viele Leute, die tief beunruhigt sind. Nicht jeder in Amerika ist ja total bescheuert. Es gibt eine Menge kritischer Stimmen. Und es gibt Homer Simpson, Gott sei Dank!"

Andreas Hartmann lässt uns einen Blick in die Zukunft der Popmusik erhaschen. "Egal, ob man sie nun Electroclash (mehr hier und hier), Nu Wave oder 'vocal-oriented electronic punk-rock' nennt, wie der Detroiter Act Adult vorschlägt. Denn die Möglichkeiten von Electroclash sind einfach zu vielfältig. Wir haben es hier mit der vielleicht postmodernsten Musik ever zu tun." Wem das nicht gefällt, muss bis zum Ende der Postmoderne ausharren.

Auf der Medienseite erinnert Sebastian Sedlmayr an die großen Pläne Nordrheinwestfalens, der Republik Medienstandort Nr. 1 zu werden. Jetzt sind sowohl die Ideen als auch das Geld ausgegangen.

Besprechungen widmen sich Mike Leighs Sozialdrama "All or nothing", Brechts "Mutter" in der Inszenierung von Claus Peymann in Berlin sowie den neuen Alben von Mariah Carey, Whitney Houston und Jennifer Lopez.

Schließlich Tom.

NZZ, 17.01.2003

Etwas irritiert betrachtet Joachim Güntner die etwas lauen deutschen Debatten um den möglichen Krieg: "Es mangelt der deutschen Diskussion keineswegs an Wortmeldungen. Auch nicht an Kritik und Analyse. Wohl aber an Leidenschaft und visionärer Lust. Widerspruch, wo er auftritt, wirkt wie Opposition ohne Oppositionsgeist."

Besprochen werden eine Ausstellung zum sozialistischen Realismus in der Prager Galerie Rudolfinum, Mozarts "Entführung aus dem Serail" in München, eine Ausstellung über Afrikanische Reklamekunst im Iwalewa-Haus Bayreuth, Brechts "Mutter" in Berlin und Tschaikowskys Sechste mit David Zinman in der Zürcher Tonhalle.

Auf der Medien- und Informatikseite geißelt Raymond Lüdi in einem ganz interessanten Hintergrundartikel die Mitverantwortung der Medien am Internethype vor zwei Jahren: "Die Medien haben durch ihr Mittun beim Internet-Rummel ihre Unschuld verloren und sich damit eine Glaubwürdigkeitskrise eingebrockt. Eine Lehre ließe sich aus der Vergangenheit immerhin ziehen: Nur ausreichend dotierte und hinlänglich kompetente Redaktionen sind in der Lage, komplexe wirtschaftliche und technologische Entwicklungen adäquat zu begleiten."

Auf der Filmseite geht's um den Film "8 Mile" mit Eminem, um die Solothurner Filmtage, um neue Filme von Daniele Thompson, um den Film "Blue Moon" von Andrea Maria Dusl und um einen Dokumentarfilm von Stefan Haupt über die Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross.

FAZ, 17.01.2003

Andreas Rossmann läuft über die Kölner Möbelmesse und fand neben vielen deja vus nur eine Überraschung: "Dass auch im Design wirkliche Neuerungen nur aus einer Tradition herauswachsen, das beweist tecta (Lauenförde) mit der vielleicht größten Überraschung dieser Möbelmesse: Zwei organischen Kragtischen, die, mit fünf ungleichen Ecken, konvexe und konkave Linien zusammenführen und das vorläufige Ende einer Entwicklung markieren, an der El Lissitzky, Jean Prouve, Alexander Calder, Alvar Aalto, Hans Könecke, Alison Smithson und Stefan Wewerka beteiligt sind. Ihre asymmetrische Form eckt in einem Kontext, in der das Diktat des rechten Winkels vorherrscht, buchstäblich an und ist, getragen von einem gesellschaftlichen Impetus, weit mehr als eine Frage des Designs: Hierarchisch gegliederte Sitzordnungen, wie sie seit Jahrhunderten überliefert sind, werden aufgebrochen und 'emanzipiert' für eine offene, 'demokratische' Kommunikation."

Niklas Bender freut sich über den deutschen Erfolg der französisch-schweizerischen Comicserie "Titeuf" über die Abenteuer eines zehnjähregen Schuljungen: "Von den neun existierenden Bänden ist nun bereits der siebte übersetzt worden". Aber er macht sich auch Sorgen: "Wortwitz und Sprachoriginalität leiden unter der Transposition, teils, weil sie tatsächlich nicht zu übersetzen sind, teils aus mangelnder Kreativität der Übersetzer."

Weitere Artikel: Gina Thomas zitiert einen sehr kritischen Artikel John Le Carres gegen einen möglichen Irak-Krieg und geht außerdem auf einen Beitrag Salman Rushdies und ein Gedicht Andrew Motions zum Thema ein. Heinrich Wefing erzählt, wie sich nach der Entscheidung des Gouverneurs von Illinois George Ryan, alle Todesurteile zu kassieren, nun die Befürworter der Todesstrafe in den USA formieren. "igl" kommentiert Günter Grass' Äußerungen gegen einen möglichen Irak-Krieg. Irene Bazinger hat in Claus Peymanns Inszenierung von Brechts "Mutter" ein Gespenst umgehen sehen, das Rosa Luxemburg ähnlich sah. Jochen Hieber erinnert zum Rücktritt Vaclav Havels an jene sehr selbstkritische Rede, die er vor einem halben Jahr in New York hielt und wo er seine Präsidentenzeit resümierte.

Kerstin Holm schreibt zum Tod des Slawisten Wolfgang Kasack. Joseph Hanimann meldet, dass das Pariser Centre Pompidou nun eine Außenstelle in der lothringischen Stadt Metz errichten will. Joseph Croitoru liest exilarabische Zeitschriften, in denen Intellektuelle über die Zukunft des Irak nach Saddam diskutieren. Wolfgang Sandner schreibt zum Tod des Jazz-Arrangeurs und Posaunisten Bill Russo. Edo Reents freut sich auf die Tournee der Hamburger Band "Kettcar", deren Debüt-Album "Du und wieviel von deinen Freunden" als "die beste deutsche Platte des abgelaufenen Jahres bereits verdächtigt" wurde. Und Mark Siemons hat einer von den Grünen organisierten Diskussion über die "Europäische Union und die Religionen" zugehört, wo der türkische Menschenrechtler Yilmaz Ensaroglu den laizistischen Fundamentalismus des türkischen Staats anprangerte.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Architektur und Design von Sottsass & Associati im Museum für Angewandte Kunst in Köln, Nicolas Philiberts weithin gelobter Dokumentarfilm "Sein und Haben" über eine Zwergschulklasse im Zentralmassiv und Mozarts "Entführung" in Martin Duncans Inszenierung in München.