Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.01.2003. Die SZ macht sich nichts aus dem Niedergang der deutsch-französischen Beziehungen. Die FR führt ihn auf eine allgemeine Verspießerung zurück. Die NZZ resümiert britische, die taz amerikanische Debatten um den möglichen Irak-Krieg. Die FAZ denkt mit Grauen an die Debatte um die Buchmesse und an die Atombombe.

SZ, 22.01.2003

Ja, die große Liebe zwischen Frankreich und Deutschland sei erloschen, irgendwann still und heimlich, meint Ulrich Raullf. Trotzdem kann ihm das im Gegensatz etwa zu Andre Glucksmann lediglich ein Schulterzucken entlocken: "Sowas kommt vor, und ein bisschen traurig ist es schon. Aber muss man darum so viel Aufhebens machen?" Nichts findet Raulff langweiliger als die Klage, "dass die beiden Kulturvölker das jeweils andere als langweilig empfinden". Der Zauber sei vor allem deshalb verflogen, "weil die Zauberer versagen. Aber schon morgen kann er sich wieder einstellen: wenn junge Autoren, junge Künstler ihn zu neuem Leben erwecken. Nur vor den 'Konzepten' a la Glucksmann möge der Himmel uns verschonen. An Konzepten hat sich noch keine erkaltete Liebe neu entzündet."

Weitere Artikel: Der amerikanische Theologe George Weigel verkündet, dass der Papst trotz pessimistischer Ansprachen weder Apokalyptiker noch Skeptiker geworden sei, sondern geblieben sei, was er schon immer war: "ein moralischer Realist". Alexander Kissler hat mit Verwunderung festgestellt, dass der Vorsitzende des Nationalen Ethikrates, Spiros Simitis, eine möglichst weitgehende Freigabe der genetischen Forschung in Deutschland erwartet und offenbar auch gutheißt.

Andrian Kreye berichtet, dass die Cheflektorin von von Random House gefeuert wurde und der Verlag in die bisher auf Diätbücher und Kitschromane spezialisierte Ballantines Group aufgehen wird. Der Kunsthistoriker Willibald Sauerländer schreibt einen Nachruf auf den seinen Kollegen Julius Held. Fritz Göttler erinnert an den "großen Zeichner des amerikanischen Showbusiness", Al Hirschfeld. "alex" widmet die Ich-AG, das Unwort des Jahres, unter die Lupe.

Besprochen werden die Ausstellung "Five Double Portraits" in Londons National Portrait Gallery, die Komödie "My Big Fat Greek Wedding", ein Album des "String Thing" Quartetts mit Lyrik von Albert Ostermaier sowie ein Bertolt-Brecht-Amerika-Abend im Berliner Ensemble.

Und Bücher, darunter Wolfgang Mommsens Band "War der Kaiser an allem schuld?", Raul Hilbergs Studie "Die Quellen des Holocaust" und eine neue Biografie Eric Amblers.

NZZ, 22.01.2003

Amerikanische, deutsche und französische Intellektuelle haben sich inzwischen ausgiebig zum drohenden Krieg gegen den Irak geäußert. Nur von den Briten hört man nichts. Doch auch dort ist inzwischen eine Diskussion im Gang, berichtet Georges Waser. Kritik kam von den Schriftstellern Andrew Motion ("Causa belli"), John Le Carre (in der Times vom 15.1.03) John Berger, Salman Rushdie und dem Philosophen Roger Scruton. "Der Lyriker Edwin Morgan (homepage) zum Beispiel glaubt, dass die Entsendung amerikanischer Soldaten in die Golfregion bereits eine Eigendynamik entwickelt hat, und beklagt die Präsenz einer 'schwanzwedelnden britischen Nachhut'. Und so fragt er denn: Sind die Briten wirklich zufrieden als Mitmacher bei dem, was George W. Bush so offensichtlich als das Erledigen einer unerledigten Angelegenheit sieht? Dieses 'Mitmachen' kommentiert auch die Romanautorin A. S. Byatt im Observer vom 19. Januar: Sie habe Blair ursprünglich als mässigende Kraft neben Bush gesehen; mittlerweile aber gebe ihr die 'falsche Logik', die verbreitet werde, das Gefühl, die britische Regierung wolle sie zum Narren halten." (Die meisten Kommentare finden Sie bei open democracy.net.)

Felix Meyer feiert CDs von Geigerinnen und Geigern der jüngeren Generation wie Viktoria Mullova, Anne-Sophie Mutter, Vadim Repin, Ilya Gringolts und - "als herausragendes Talent der jüngsten Generation" - Hilary Hahn: "Ihre Wiedergabe des e-Moll-Konzerts von Mendelssohn (mehr hier) und - wiederum - des Ersten Violinkonzerts von Schostakowitsch (mehr hier) zeichnet sich nicht nur durch schlackenlose technische Perfektion und Tonschönheit aus, sondern fesselt ebenso sehr durch ihren ungebremsten rhythmischen 'Drive' und ein optimales Kräfteverhältnis zwischen der Solistin und dem glänzend disponierten, von Hugh Wolff bzw. Marek Janowski geleiteten Oslo Philharmonic Orchestra."

Weitere Artikel: Joachim Güntner berichtet die neuesten Entwicklungen im Streit um den angedrohten Umzug der Buchmesse von Frankfurt nach München. Marli Feldvoss meldet die Eröffnung einer Lounge im Frankfurter TAT. Her. schreibt zum Tod des Karikaturisten Al Hirschfeld.

Besprochen werden die Modigliani-Retrospektive im Pariser Musee du Luxembourg, eine Nurejew-Gala im Pariser Palais Garnier, die Architekturausstellung "Emerging Architecture 3" im Architekturzentrum Wien, CDs mit der Mezzosopranistin Dagmar Peckova und Bücher, darunter Felicitas Hoppes Roman "Paradiese, Übersee" und eine Studie von Sven Reichardt über faschistische Kampfbünde in Italien und Deutschland (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 22.01.2003

Deutsch-französische Freundschaft auch in der FR. Erstaunliche Annäherungen zumindest stellt Ina Hartwig fest: "Zum einen kann man bei den Franzosen eine äußerliche Angleichung an deutsche Ordnungsliebe und Spießigkeit beobachten: Die saubersten Häuschen, dicke Autos, das Sterben der Bistros, Trainingsanzüge als Alltagskluft, Großeinkäufe im Supermarkt. Selbst Aldi ist in Frankreich angekommen: ein kleinbürgerliches Trauerspiel. Zum anderen, und das ist sicherlich wichtiger, bröckelt das moralisch einwandfreie Selbstbild der Franzosen, das Mitterrand bis zu seinem Tod mit füchsischer Schläue aufrechterhalten hat."

Weitere Artikel: Predrag Matvejevic freut sich, dass die EU mit ihrem Beschluss, Malta und Zypern aufzunehmen, zwei Anker in das Mittelmeer geworfen hat. "Wird Deutschland am Hindukusch verteidigt?" Und: "Was haben die Auslandseinsätze der letzten zehn Jahre noch mit dem auf Landesverteidigung eingeschworenen Staatsbürger in Uniform zu tun?". Fragen über Fragen, und der Historiker Klaus Naumann sieht die Bundeswehr gehörig im Stress. Abgedruckt wird auch ein dpa-Bericht über das Treffen des Kanzlers mit der alten Linken. Times mager beschäftigt sich mit dem "Hotelleiden".

Besprochen werden eine Ausstellung über den Fotografen Stefan Moses in München, der Horror-Film "Ghost Ship" sowie das "Tragödien"-Projekt der Societas Raffaello Sanzio im Berliner Hebbel-Theater.

TAZ, 22.01.2003

Am vergangenen Wochenende, am Martin Luther King Day, gab es die bislang größte Friedensdemonstration in Washington, und Tobias Rapp zeigt sich in seiner Betrachtung der amerikanischen Friedensbewegung durch die "Kakophonie, die Widersprüchlichkeit und Lautstärke all dieser verschiedenen Meinungen" höchst freundlich überrascht. "Denn wenn in den vergangenen Wochen und Monaten in der linken US-Öffentlichkeit über das Für und Wider eines möglichen Irakkrieges diskutiert worden war, konnte man sich oft genug des Eindrucks nicht erwehren, hier würden lauter alte Männer lauter alte Schlachten schlagen." (Die Debatte innerhalb der Friedensbewegung findet sich in der Zeitschrift The Nation.)

In seiner Kolumne reist Christian Broecking durch die Jazz-Landschaften von Paris bis Polen. Daniel Bax hat die neue Ausgabe der Schweizer Kulturzeitschrift "Du" über Saudi-Arabien gelesen und sieht dunkle Wolken über der arabischen Wüste aufziehen.

Besprochen werden das Frankfurter Ausstellungsdoppel "Lieber Maler, male mir " und "deutschemalereizweitausenddrei" und der Band "Spoon" zu zeitgenössischem Produktdesign.

Die Tagesthemen-Seiten widmen dem 40-jährigen Jubiläum des Elysee-Vertrages ein ganzes Dossier. Darunter findet sich auch ein Interview mit Daniel Cohn-Bendit, der den Unterschied zwischen deutscher und französischer Politik ungefähr so erklärt: "Die Deutschen machen oft eine Politik, die sich auf ihre Lebenserfahrung stützt, daher kommt sie sehr grundsätzlich, auch schwerfällig daher. Da wird weniger politisch und viel mehr philosophisch-moralisch diskutiert." Die Franzosen dagegen seien viel politischer: "Sie können sich aufgeilen an ihrer politischen Virtuosität. Daher scheint ihre Politik manchmal etwas leichtfüßig".

Im Schlagloch erinnert sich Michael Rutschky an das Kritische Bewusstsein, das ja einmal "unter den jungen Leute unserer Kreise als das Geilste, Hipste, Coolste" galt.

Und schließlich Tom.

FAZ, 22.01.2003

Mit Grauen denkt Hubert Spiegel an die Diskussion über die Frankfurter Buchmesse zurück: "Niemand konnte ahnen, auch Volker Neumann nicht, wie rasch eine Institution von internationalem Rang, die auf eine über fünfzigjährige Tradition zurückblickt, ins Wanken geraten würde." Trotz seiner entsetzlichen Initiative hat diese Zeitung das Interview mit dem Buchmessenchef aber nicht gescheut. "Mir wäre es auch lieber gewesen, wenn die Sache etwas geräuschloser zu machen gewesen wäre", sagt Volker Neumann da. Wenn er auf dem Foto, das neben das Interview gesetzt wurde, nur nicht so mokant lächeln würde!

Weitere Artikel: Henning Ritter meditiert über Günther Anders und seinen Kampf gegen die Atombombe: "Das sprechendste Symptom für die Hilflosigkeit gegenüber der nuklearen Bedrohung ist die schwer zu erklärende Asymmetrie, die sich in den Namen Hiroshima und Auschwitz ausspricht. Es ist eine schwer auslotbare Frage, warum ein Grauen, dessen Wiederholung jederzeit möglich ist, verblasst gegenüber einem anderen, dessen Wiederholung wenig wahrscheinlich ist. Angesichts dieser unterschiedlichen Einschätzung der 'Enormität' des Grauens muss man fragen, was denn eigentlich schiefgelaufen ist."

Weitere Artikel: Andreas Platthaus schreibt zum Tod des Zeichners Al Hirschfeld. Wolfgang Schneider hat den amerikanischen Autoren Denis Johnson und Jeffrey Eugenides bei einer Lesung in Berlin zugehört. Christian Schwägerl freut sich über die schwarz-grüne Koalition in Köln. Joachim Kalka gratuliert dem Schriftsteller Wilhelm Genazino zum Sechzigsten

Auf der letzten Seite erinnert Oliver Tolmein an ein Urteil des Obersten Gerichtshofs der USA vor 30 Jahren, dass die bis dahin gültigen Abtreibungsgesetze kippte. Ilona Lehnart resümiert einer Berliner Diskussion über die Bundeskulturstiftung. Und Bertram Eisenhauer schreibt ein kleines Porträt über Peter C. Goldmark, den bisherigen Chairman der International Herald Tribune: Er wurde von der New York Times, nachdem sie die Anteile der Washington Post am bisherigen Gemeinschaftsunternehmen vor einigen Wochen kaufte, geschasst. Auf der Medienseite schreibt Amin Thurnher über den Kampf der Verlegerdynastie Dichand und der mitbesitzenden WAZ-Gruppe um die Wiener Kronen-Zeitung. Und bei Siegfried Stadler kam die erste von Gregor Gysi und Lothar Späth moderierte Talkshow nicht besonders gut weg.

Besprochen werden Aquarelle von David Hockney in zwei Londoner Ausstellungen (mehr hier), Hansgünther Heymes Madrider Inszenierung des "König Lear" und der Film "My Big Fat Greek Wedding".

Weitere Medien, 22.01.2003

Die Welt bringt ein ganzes Dossier zum Jahrestag des Elysee-Vertrags. Unter anderem erinnert Manfred Flügge an die "an die erste Zeit der deutsch-französischen Aussöhnung". Und die Schauspielerin Anouk Aimee spricht im Interview über die Zeit der Besatzung.

Ferner erklärt Uwe Wittstock, "was hinter dem öffentlichen Poker um den Standort der weltgrößten Buchmesse steckt".

Auch die Berliner Zeitung bringt ein Dossier über die deutsch-französischen Beziehungen. Hier der Inhalt.