Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.02.2003. In der Zeit äußern sich amerikanische Intellektuelle für oder gegen den Krieg, aber immer ziemlich kritisch gegen Deutschland und Frankreich. Die FAZ plädiert für die exception culturelle. Die NZZ berichtet Neues aus der Clubkultur. Die taz hat in der Kellog's Smacks-Packung einen Schatz entdeckt: klassische Videospiele. Die FR unterhält sich mit Berlinale-Chef Dieter Kosslick. Die SZ kritisiert das Volk.

Zeit, 06.02.2003

Wegen der menschlichen Arbeitszeiten im Hamburger Institut können wir noch keine Links auf die Zeit-Artikel setzen.

Die Zeit hat eine ganze Phalanx amerikanischer Intellektueller um Stellungnahmen zum Krieg gebeten, die alle recht konzis ausfallen, ob für oder gegen den Krieg. Aber selbst Kritiker der amerikanischen Position wie Mark Lilla (mehr hier und hier) sind dabei häufig sauer auf Deutschland und Frankreich: "Alles in allem bin ich gegen den drohenden Krieg", schreibt der Soziologe. "Aber ich bin ebenso, und sogar noch stärker gegen diejenigen in Westeuropa und Amerika, die diesen Krieg aus Gründen ablehnen, die ich verächtlich finde." Jeff Gedmin (mehr hier) vom Aspen-Institut macht den Franzosen einen Vorwurf, der sonst die Amerikaner trifft: "Im Dezember 1999... weigerten sich drei der fünf Mitglieder (des Sicherheitsrats) - Frankreich Russland und China, für ein neues Inspektorenteam zu stimmen. Die großen Ölfirmen Frankreichs, Elf Aquitaine und Total, hatten gerade große Verträge mit der irakischen Ölindustrie unter Dach und Fach gebracht..." Die Völkerrechtlerin Ruth Wedgwood findet einen Krieg gegen Saddam mit dem Argument, dass er die UN-Resolutionen seit 1991 bricht, für gerechtfertigt und kritisiert sehr scharf die deutsche Position: "Deutschlands Rolle darf sich nicht darauf beschränken, das bürgerliche Vorstadtleben zu genießen, Scheuklappen anzulegen und passiv zu bleiben."

Gegen den Krieg äußert sich die Literaturwissenschaftlerin Judith Butler (mehr hier): "Die amerikanische Linke ist voll und ganz auf die europäischen Bemühungen angewiesen, den Krieg doch noch abzuwenden." Der Literaturwissenschaftler Richard Rorty (mehr hier und hier) spricht sich ebenfalls gegen den Krieg aus, wendet sich aber auch gegen die europäische Denkungsart, wonach in Krisen die Amerikaner Geld und Menschenleben hergeben, "während Europa zuschaut und das amerikanische Abenteurertum bedauert".

Weitere Artikel: Katja Nicodemus hat die amerikanischen Filme der Berlinale alle schon gesehen und hatte in George Clooneys erster eigenen Regiearbeit "Confessions of a Dangerous Mind" eine Begegnung der dritten Art: "Ein müder alter CIA-Beamter, der Martin Walser unglaublich ähnlich sieht, erinnert sich nostalgisch an den Zweiten Weltkrieg, als das Töten noch Thrill und Unterhaltungswert hatte". (Walser sollte sofort protestieren!) Peter Kümmel denkt über die Lage im deutschen Theater nach und stellt die steile These auf: "Im deutschen Theater ist die Zeit des Erotikers vorbei. An seiner Stelle hat nicht, wie Botho Strauss sagt, der Pornograf die Macht übernommen, sondern der Nichterotiker (oder dessen härtere Ausprägung, der Fake-Pornograf)."

Ferner begrüßt Claus Spahn den Plan einer Opernstiftung für die drei notleidenden Häuser. Hanno Rauterberg porträtiert den Videokünstler Steve McQueen. Besprochen werden eine neue CD von Massive Attack, Händels Oper "Julius Cäsar" in Stuttgart und Wolfgang Beckers Film "Good Bye, Lenin".

Im politischen Teil finden wir einen Essay von Bassam Tibi, der behauptet, dass der arabische Antisemitismus aus Europa importiert wurde. Aufmacher des Literaturteils ist ein Bericht Iris Radischs über die Hamburger Veranstaltung "Europa schreibt".

FAZ, 06.02.2003

Joseph Hanimann berichtet über ein Treffen von Berufsverbänden, Kulturschaffenden und Politikern aus über dreißig Ländern, die sich in Paris darauf vorbereitet haben, Kulturgüter "endgültig vor dem Zugriff der in der Welthandels-Organisation herrschenden reinen Marktlogik" und damit die "diversite culturelle" in der Welt zu bewahren. Auffällig, so Hanimann, war das Fehlen der Deutschen bei dem Treffen. "Von den fünfzehn eingeladenen Berufsverbänden waren einzig die Film- und Fernsehregisseure vertreten. Die Einsicht in die Notwendigkeit einer zielstrebigen Kulturpolitik mit der erforderlichen kritischen Einflussmasse hat sich im Bundesföderalismus der tausend Nuancen offenbar noch nicht durchgesetzt."

Andreas Kilb beschwört zum Auftakt der Berlinale die Bedeutung des Kinos: "Wenn wir uns an die jüngsten Jahrzehnte unserer Geschichte erinnern, die siebziger, achtziger, neunziger Jahre, sehen wir vor allem Fernseh- und Filmbilder vor uns. Unser Kollektivgedächtnis hat sich offenbar endgültig auf die Speicherform des Audiovisuellen festgelegt, und es sind nicht zuletzt die Filmfestivals, auf denen entschieden wird, was in die audiovisuelle Erinnerung eingehen darf."
Außerdem gibt es auf der Kinoseite ein leider nicht sehr inspiriertes Gespräch mit den Wettbewerbsteilnehmern Wolfgang Becker, Oskar Roehler und Hans-Christian Schmid übers Filmemachen in Deutschland. Die Armen müssen mal wieder über die Fehler der Filmförderung und schlechte Drehbücher reden. Schließlich stellt Bert Rebhandl einen Film von Miron Zownir über den Werner-Herzog-Darsteller Bruno S. vor.

Der amerikanische Historiker und Publizist Gary Geipel fordert Frankreich und Deutschland auf, über folgendes nachzudenken, bevor sie "Präsident Bush im Sicherheitsrat im Stich lassen": Bush "ist dabei, eine Mehrheit der Amerikaner davon zu überzeugen, dass wir Demokratie, Liberalismus und Frieden im Mittleren Osten verbreiten können - angefangen bei Afghanistan und dem Irak. Diese Vorstellung ist natürlich irrwitzig, absolut verrückt und nahezu mit Sicherheit nicht realisierbar. Geradeso wie der friedliche Zusammenbruch des Kommunismus und der Sowjetunion, wie die deutsche Wiedervereinigung innerhalb der Nato, wie ein vereintes, von Kriegen verschontes Europa..."

Weitere Artikel: Stefan Chwins neuer Roman "Goldener Pelikan" ist in Polen ein umwerfender Erfolg, erzählt Marta Kijowska. Jochen Schmidt hat einer Tagung der Mary-Wigman-Gesellschaft zum Thema "Tanz unterm Hakenkreuz" zugehört. Andreas Rosenfelder war bei der Trauerfeier für Annemarie Schimmel in Bonn. Auf der Medienseite lobt Lorenz Jäger den Dokumentarfilm "Der Bombenkrieg" von Anja Greulich und Jörg Müllner, der am Dienstag im ZDF lief.

Auf der letzten Seite berichtet Jordan Mejias, dass nur noch zwei Entwürfe im Finale um die Neugestaltung von Ground Zero stehen: von THINK und von Daniel Libeskind. Fraglich sei allerdings, ob je einer der Entwürfe gebaut wird. " Der Pächter des World Trade Center führt von Woche zu Woche lauter nicht nur ein Mitspracherecht, sondern einen Alleinvertretungsanspruch ins Feld." Libeskind macht das keine Sorgen: "Wissen Sie, wenn ich kein Optimist wäre, könnte ich kein Architekt sein", erklärt er im Interview. Jürgen Kaube war bei einem Vortrag des Literaturhistorikers Hayden White in der American Academy in Berlin. Kerstin Holm stellt Wladimir Tarnopolski vor. Der Komponist und Professor am Moskauer Konservatorium hat - wie schon im letzten Jahr - einen Zyklus von siebzehn Konzerten zusammengestellt, "der die gemeinsame Entwicklung der russischen und der deutschen Musik im zwanzigsten Jahrhundert anhand teilweise wenig bekannter Namen vorführt".

Besprochen werden eine Ausstellung mit Zeichnungen von Leonardo da Vinci im Metropolitan Museum New York und Bücher, darunter ein Handbuch zur deutsch-jüdischen Literatur im zwanzigste Jahrhundert und Reisebücher (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 06.02.2003

Erstaunliches ereignet sich in der Klubkultur, bemerkt Aram Lintzel: "In den House- und Techno- Klubs von New York, Berlin und London tauchen wieder leibhaftige Personas auf - Musiker, die sich auf Bühnen mit Gesang und Performance zur Schau stellen." Das findet Lintzel insofern bemerkenswert, als sich "die enthusiastische Energie von Klubmusik" gerade dem Fehlen von Persönlichkeiten verdankte. "Das Publikum sollte nicht mehr bevormundet werden und die abgeflachte Hierarchie des Klubs die demokratische Gleichheit der Feiernden garantieren. Neben der anonymen und pseudonymen Veröffentlichungspraxis im Techno war die Abschaffung der hierarchischen Topographie der Bühne programmatisch: Dieser Zerstörungsakt erlaubte es den Klubaktivisten, das notorisch beschworene 'Verschwinden des Subjekts' zu feiern."

Weitere Artikel: Martin Meyer erinnert zum hundertsten Geburtstag an den brillanten Pianisten Claudio Arrau. "holl." findet die Entscheidung durchaus akzeptabel, die Entwürfe von Daniel Libeskind und der Architektengruppe Think in die Endrunde für das neue WTC zu nehmen.

Besprochen werden Lou Reeds Vertonung von Edgar Allan Poes "The Raven", das neue Album "Hell In Hell" der Berliner Band Surrogat sowie ein Richard-Strauß-Konzert in Zürich.

Und jede Menge Bücher: eine neue Gesamtausgabe von Rene Char, Alejandra Pizarniks Gedichte "Cenizas - Asche, Asche", der erst jüngst entdeckte Roman von Rebecca West "The Sentinel", Jonathan Lethems Roman "Als sie über den Tisch kletterte", Ingeborg Horns Aphorismen "Logbücher einer Meerjungfrau", David Gollahers Geschichte der Beschneidung "Das verletzte Geschlecht" sowie eine Monografie des neoklassizistischen Hans Kollhoff (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 06.02.2003

Tilman Baumgärtel berichtet von den Verdiensten der Firma Kellog um die historische Aufarbeitung der Computerfrühzeit: der 600 Gramm Schachtel Kellog's Smacks liege als Gimmick jetzt eine CD-Rom mit einigen klassischen Videospielen der legendären Computerspiel-Firma Atari bei. "Spiele wie Tempest oder Asteroids sind Meisterwerke minimalistischer Gestaltung und faszinierende Beispiele für das ebenso schlichte wie eindrucksvolle Design der ersten digitalen Medien. Die Spiele, die auf dieser CD-ROM gesammelt sind, haben in der Geschichte des Videospiels eine vergleichbare Bedeutung wie die Filme der Gebrüder Lumiere oder Georges Melies' in der Geschichte des Kinos. Ähnlich wie bei der elektronischen Tanzmusik der Gegenwart, die unter dem Label Electroclash läuft, historisieren auch diese popkulturellen Referenzen auf die Frühzeit der Videospiele die digitale Medienkultur der letzten Jahrzehnte. Und es ist ironisch, dass man ausgerechnet eine Packung pappsüßer Smacks kaufen muss, um diese kleinen Wunderwerke wieder sehen zu können."

Tobias Rapp kommentiert die Pläne für eine neue Bebauung von Ground Zero, für die jetzt Entwürfe von Daniel Libeskind und der Architektengruppe Think in die engere Wahl gekommen sind, die dort jeweils das höchste Gebäude der Welt errichten wollen.

Cristina Nord zählt auf, warum sie sich auf die Berlinale freut, und was diese Freude schmälert. Im Themenspektrum der Wettbewerbsfilme gebe es außerdem in diesem Jahr nichts zu lachen, findet sie. Es "umfasst tödliche Krankheiten, Todesstrafe, Organhandel, Fehlgeburt, Flüchtlings- und Beziehungsdramen. Der 11. September fehlt nicht."

Auf der Berlinale-Seite wünscht Harald Peters "Viel Spaß". Manfred Hermes hat sich mit Panorama-Leiter Wieland Speck über schwul-lesbisches Kino und das Verhältnis von Markt und Nische unterhalten.

Und Tom.

FR, 06.02.2003

"Was wir hier machen, ist ein audiovisueller Kirchentag", sagt Berlinale-Chef Dieter Kosslick im Gespräch mit Martina Meister über das heute abend beginnende politischste der großen Festivals."Wir versuchen unterschiedliche Philosophien und Strömungen unter einen Hut zu bringen. Es muss bei einem Festival nicht nur darüber geredet werden, dass man Filme macht und wie, sondern man muss auch über eine Frage sprechen, die völlig vergessen wurde: Warum man Filme macht, mit welcher Haltung, für welches Publikum. Oder, wie der Engländer sagt: 'What is it all about?'"

Weitere Artikel: Eva Schweizer meldet, dass Daniel Libeskind (mehr hier) und die Gruppe Think im Finale des Wettbewerbs um das neue World Trade Center in New York gekommen sind. Daniel Kothenschulte stimmt auf das Programm der diesjährigen Berlinale ein. Martina Meister berichtet über "Blickwechsel", eine Veranstaltung der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Potsdamer Einstein Forum, wo "ein wissenschaftliches Traumpaar", nämlich Jan Philipp Reemtsma und Tvetan Todorow unter der Überschrift "Understanding Violence" erhellend diskutierten. Adam Olschewski entdeckt in Weilheim bei München, der Heimat von "Notwist" und "Console", die knisterndste Musik Deutschlands, und die Kolumne Times Mager befasst sich mit einem geheimnisvollen Ort namens Beuthen, wo sehr viel gerockt wird, "vornehmlich im Geiste, ohne viel Getöse nur in der Vorstellung".

Besprochen werden Florian Fiedlers Inszenierung von Henrik Ibsens "Klein-Eyolf" am Münchner Volkstheater und Peter Kosminskys Frauenfilmdrama "Weißer Oleander".

SZ, 06.02.2003

Fritz Göttler eröffnet die Berlinale: "Mit Hängen und Würgen wird heute Abend die diesjährige Berlinale starten, die 53. und mit Hängen und Würgen wird sie zehn Tage später zu Ende gehen. Was nicht als Anspielung auf die aktuelle Situation des größten deutschen Filmfestivals gemeint ist, als Kommentar zu Finanzierung oder Konzept, sondern nur in Bezug zum Eröffnungs- und zum Abschlussfilm, 'Chicago' von Rob Marshall und 'Gangs of New York' von Martin Scorsese. In beiden werden höchst professionell öffentliche Exekutionen in Szene gesetzt.... Im vorigen Jahr hatte die Berlinale auch als eine Art Test gedient, wie die Filmevents den Schock des 11. September überstanden hätten. Dieses Jahr startet die Berlinale in einer miserablen Stimmung im Lande, einer gesellschaftlichen Katatonie. Geldknappheit, wirtschaftliche Stagnation, politische Versagensängste, Kriegsfurcht ... Ist dem Volk da wirklich nach Entertainment zumute?" Aber natürlich!

Joachim Riedl blickt nach Österreich und erhofft sich von den Koalitionsverhandlungen der Grünen mit der konservativen ÖVP, "dass zwei verwandte Milieus, die einander entfremdet sind, jetzt wieder unter der pragmatischen Schirmherrschaft einer Regierung des guten Willens zusammenfinden könnten." In der Einladung zu einem schwarz-grünen Pakt steckt für Riedl "nicht nur das taktische Manöver der konservativen Verhandler, die Saubermännerbrigade der österreichischen Innenpolitik durch ein unsittliches Angebot dazu zu verführen, Prinzipien gegen Macht und Pfründe einzutauschen, wodurch diese dann als willige Mehrheitsbeschaffer zum Lakaiendasein verurteilt wären. Vielmehr birgt dieser Annäherungsversuch der beiden vordergründig so unterschiedlichen Gruppen den Keim zu einem unverhofften Versöhnungswerk, das dem Land ein behagliches Seelenbiedermeier bescheren könnte: die Dominanz einer konservativen Idylle, über der die grünen Wimpel moralischer Rechtschaffenheit flattern."

Weitere Artikel: Im Literaturteil nimmt Gustav Seibt die neue Felix-Hartlaub-Ausgabe des Suhrkamp-Verlags als skandalös schlechte Edition auseinander, die auf durchschnittlich zwei bis drei Fehler oder Auslassungen pro Druckseite komme. Thomas Steinfeld berichtet von den Schwierigkeiten der Kunsthalle Bremen mit Restitutionsansprüchen der Erben von George Grosz. C.Bernd Sucher fordert mehr Victor Hugo auf deutschen Bühnen. Ijoma Mangold kolportiert einen Fall, nach dem ein deutscher Kriegsgegner einen amerikanischen Befürworter niedergestochen hat. Bernd Brehmer schreibt über das 32. Filmfest in Rotterdam.

Besprochen werden die "epochale" Rembrandt-Ausstellung im Frankfurter Städel, Zabou Breitmans Filmdebüt "Claire - Se Souvenir des Belles Choses", Christoph Nels "überraschend schlüssige" Inszenierung der Richard-Strauss-Oper "Frau ohne Schatten" (schon der vierte Erfolgscoup der Frankfurter Oper in dieser Spielzeit, findet Kritiker Wolfgang Schreiber, der sie schnurstraks auf die Auszeichnung "Opernhaus des Jahres" zumarschieren sieht), Bob Dolmas Film "The Banger Sisters" ("Vor allem Goldie Hawn ist einfach verdammt gut") und Bücher, darunter Stefan Maelcks Roman "Ost Highway" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).