Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.02.2003. Die FAZ verlinkt auf die Irakstudie eines Studenten, die vom britischen Geheimdienst abgeschrieben wurde. Die SZ wettert: Wo es eine Politikverdrossenheit gibt, muss es doch auch eine Politik geben. Die taz liefert bereits jetzt eine medienwissenschaftliche Aufbereitung des kommenden Krieges. Die NZZ inspiziert die ägyptische Boheme.

FAZ, 10.02.2003

Es war eine Blamage für Tony Blair. Man präsentierte jüngste Geheimdiensterkenntnisse über die irakische Kriegspolitik - und sie beruhten zum Großteil wörtlich auf der Magisterarbeit eines Studenten, der mit Material von1991 gearbeitet hatte. Der Autor heißt Ibrahim al-Marashi und hatte eine aktualisierte Version seines Textes im September letzten Jahres in der Middle East Review of International Affairs veröffentlicht. Jürgen Kaube hat diese aktualisierte Version auch im Internet gefunden und kommentiert die britische Peinlichkeit so: "Der großzügige Umgang in Verfahrensfragen, der hier zutage tritt, lässt Zweifel auf so manch andere Information fallen, die, vorgeblich aus erster Hand bezogen, zum Krieg überreden soll." Auf den Seiten der Middle East Review findet sich auch eine Antwort auf das Plagiat der britischen Regierung.

Heinrich Wefing geht in der Nähe von San Francisco in der Supermarkt: "Bei Wal-Mart ist nichts klein oder intim... In dem Gang zwischen den Regalen, in denen sich Bälle stapeln: Fußbälle, Football-Eier, Tennisbälle, Softbälle und ungezählte andere Bälle, lässt sich jedes Leder getrost erproben, sind Freistöße, Kurzpasskombinationen, Dribblings möglich, ohne größeren Schaden anzurichten. Dass Konsumenten in der Warenwelt tatsächlich verzwergen können, ist die beherrschende Erfahrung jedes Wal-Mart-Besuches." Dem entspricht eine Wachstumsstrategie, gegen die Aldi als Krämerladen erscheint: "1979 verkaufte die Kette Waren im Wert von einer Milliarde Dollar. 1993 setzte Wal-Mart diese Summe in einer Woche um, und mittlerweile genügt dafür ein Tag."

Weitere Artikel: Gerhard Stadelmaier musste bei der "Frankfurter Verlobung", einem vom Kabarettisten Matthias Beltz hinterlassenen Stück, das jetzt in Frankfurt uraufgeführt wurde, lachen und zitiert folgendes schönes Diktum: "Alle reden von der Welt, aber keiner tut was dagegen." Patrick Bahners schildert, wie Deutschland aussehen würde, wenn die Amerikaner schon 1989 so böse gewesen wären, Diktatoren wie Gorbatschow Krieg anzudrohen. Marion Aberle schickt eine kleine Reportage von der ehemaligen Gefängnisinsel Robben Island in Südafrika, wo Nelson Mandela eine Ausstellung seiner dort verfertigten Zeichnungen und Gemälde eröffnete. Mark Siemons meditiert über die Kopie von Rodins "Denker", die zur Zeit auf dem Pariser Platz in Berlin steht. Paul Ingendaay bedauert angesichts des jüngsten Mordes der ETA im Baskenland, dass die spanischen Pazifisten im eigenen Land weniger Mut beweisen als gegen die amerikanische Irakpolitik. In der Reihe "Wir vom Bundesarchiv" zupft Manfred Kehrig ein Schreiben des Stalingrad-Generals Paulus an Hitler aus den Akten. Auf der Berlinale-Seite berichtet Michael Althen über Filme von Becker, Jonze und Soderbergh. (Mehr dazu auch in Ekkehard Knörers Kolumne).

Auf der letzten Seite besucht Rainer Hermann die jüdischen Gemeinden in Istanbul - unter anderem erfahren wir, dass hier die judeo-spanische Sprache der 1492 aus Spanien vertriebenen Juden eine ihrer letzten Bastionen hat. Und Heinrich Wefing porträtiert den Hanf-Guru Ed Rosenthal. Auf der Medienseite schildert Matthias Rüb, wie die amerikanischen Streitkräfte mit den Journalisten umzugehen gedenken - die Journalisten sollen in größere Militäreinheiten "eingebettet" werden. Alexander Bartl berichtet über einen Konflikt um den Hamburger und den Bremer Lokalteil der taz.

Besprochen werden eine Ausstellung des Künstlers Jeppe Hein im Kunstverein Heilbronn, ein triumphales Konzert der Red Hot Chili Peppers in Dortmund, Franz Xaver Kroetz' Stück "Wunschkonzert" an der Berliner Schaubühne und Ulrich Köhlers Film "Bungalow".

NZZ, 10.02.2003

Auf einem Streifzug durch das Kairoer Nachtleben hat Susanne Schanda die ägyptische Boheme kennen gelernt, eine Generation von Künstlern und Literaten, die versucht, aus dem verkrusteten "System ohne System", dem traditionellen Wahnsinn ohne Methode auszubrechen. Zum Beispiel der 35-jährige Lyriker Girgis Shoukry (mehr hier). "'Meine Gedichte sollen aussehen wie die Menschen auf der Straße', sagt Girgis Shoukry. Das tun sie auch. Lakonisch registrierend, oft durchzogen von leichter Melancholie, sprechen sie von Rissen in der Normalität, von Erinnerungsstücken, die sich in der Gegenwart verwandeln, von Gegenständen, die zum Leben erwachen. 'Das tägliche Leben hier verläuft ziel- und sinnlos', sagt Girgis und zieht weiter in die nächste Bar.

In der Rubrik Schauplatz wirft Claus Stephani einen Blick auf die fast tausendjährige Geschichte der Rumäniendeutschen in Siebenbürgen, die mit dem Massenexodus in den neunziger Jahren nahezu lautlos zu Ende gegangen ist. "Die meisten Rumäniendeutschen waren, um es lapidar zu sagen, einfach zu müde, einen weiteren Kampf um die ständig gefährdete ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität zu führen. Zurück blieb vielerorts eine Landschaft von Ruinen - entvölkerte Dörfer, in denen heute manchmal ganze Strassen und Häuserreihen leer stehen, Bauten mit kunstvoller Stuckarbeit, alten Inschriften und Jahreszahlen, die nun vom Gemäuer fallen."

Besprochen werden die gut bestückte Ausstellung "Rembrandt, Rembrandt" im Frankfurter Städel, die Uraufführung von Matthias Beltz' "Frankfurter Verlobung", das Festival "ear we are" in Biel, Tommaso Traettas Oper "Antigona" ebenfalls in Biel, das Musical "Miss Saigon" in St. Gallen, sowie Miral al-Tahawis Roman "Die blaue Aubergine" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 10.02.2003

In einem Gespräch mit Markus Reuter erläutert der Medienwissenschaftler Michael Haller die Probleme, mit denen die Kriegsberichterstattung zu kämpfen hat. Zum einen seien die militärischen Operationen dem Kriegsberichterstatter "praktisch unzugänglich" und zum anderen werde er mit höchst einseitigem Informationsmaterial versorgt. Doch gerade angesichts dieser Einseitigkeit sei der Journalist gefordert: "Die einfachste und trotz aller Versuche der Korruption mögliche Verhaltensweise ist das transparente Darstellen der Quellenlage. Deutsche Journalisten neigen dazu, einseitige Informationen im Indikativ weiterzugeben. Wenn Washington etwas sagt, dann ist es noch längst nicht so, wie Washington es sagt. Journalisten müssen den Lesern, Zuschauern und Zuhörern die Chance geben, dies als eine Version unter vielen zu begreifen und nicht als die Wirklichkeit. (...) Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, aber wenn es globaler wird, wenn Kulturen und politische Perspektiven zur Debatte stehen, dann fällt es offensichtlich vielen Medien schwer, diese journalistisch-handwerkliche Professionalität an den Tag zu legen."

Weitere Artikel: Detlef Kuhlbrodt widmet sich dem SMS-Gedicht und seinen Regeln. Auf der Meinungsseite ärgert sich Klaus-Helge Donath, dass seit den New Yorker Attentaten jede Kritik an Russlands Vorgehensweise in Tschetschenien verstummt ist. Alke Wierth hat mit dem Erziehungswissenschaftler und Sozialarbeiter Hakan Aslan über männliche Rollenmodelle bei türkischen Jugendlichen gesprochen. Auch die Bertelsmann AG, meldet Steffen Grimberg auf der Medienseite, folgt nun dem Trend der Rückkehr zum Familienbetrieb und setzt Liz Mohn, die Ehefrau des "Konzernherrn" Reinhard Mohn, an ihre Spitze.

Besprochen wird Anselm Webers Inszenierung von Matthias Beltz' "Frankfurter Verlobung", natürlich in Frankfurt.

Und schließlich TOM.

FR, 10.02.2003

Daniel Kothenschulte kommentiert den Wettbewerbsauftakt der Berlinale und sehnt sich in die Zeit von F. W. Murnau zurück. Hans Doderer porträtiert den marxisitischen Terroristen Johann Most. Ursula März hat in einer Berliner Gerichtsverhandlung viel über "männliches Adrenalin" erfahren. K. Erik Franzen findet Karel Gott für den Posten des tschechischen Präsidenten "überqualifiziert". In Times mager sinniert Frank Keil über die Lust der Kinder am Betrunken-Spielen. Es wird außerdem gemeldet, dass in Berlin die "Deutsch-russischen Kulturbegegnungen" mit einem Festakt eröffnet wurden, und dass Günter Grass von der Lübecker Universität zum Ehrendoktor ernannt wurde.

Besprochen wird die Frankfurter Uraufführung von Matthias Beltz' Theaterstück "Die Frankfurter Verlobung", in einer Inszenierung von Anselm Weber.

SZ, 10.02.2003

Hebert Riehl-Heyse wettert gegen die deutsche Politik, die scheinbar keines ihrer Axiome retten wolle, so dass "Politikverdrossenheit" schon nicht mehr das richtige Wort sei, denn wo es keine Politik gibt, könne es auch keine diesbezügliche Verdrossenheit geben. Doch "vielleicht muss man aber das alles auch ganz anders sehen: Vielleicht hat es längst ein paar Staatsmänner gebraucht, denen ihr Jargon selbst auf die Nerven geht und die zu alt geworden sind, als dass ihren eigenen Floskeln noch glaubten. Dann wäre es am Ende gar nicht so schlecht, dass ein sehr ehemaliger Bundeskanzler in einem Interview mit dem Spiegel plötzlich die brutale Frage stellt, welche Rolle die Nato eigentlich noch spiele und wie seltsam es gewesen sei, als man dort nach dem 11. September den Bündnisfall erklärt habe, ohne dass jemand darum ersucht habe - 'um sich so selbst zu zeigen, wie wichtig man war'."

Weitere Artikel: Die Berlinale läuft und läuft, und Fritz Göttler schildert seine Eindrücke. Henning Klüver berichtet aus Italien, dass die Friedensbewegung so heftige Wellen schlägt, dass die Regierung Widerstand leisten muss. Oliver Fuchs bemerkt, dass bei Deutschlands Suche nach dem Pop-Messias nur "engagierte Pop-Mittelständler" im Rennen bleiben. Claus Heinrich Meyer schreibt einen Nachruf auf den Fotografen und Bildreporter Max Scheler. In der Kolumne überträgt "alex" den Bourdieuschen Begriff des "Habitus" auf die Tierwelt - denn auch unter Artgenossen gibt es feine Unterschiede. Wie Reinhard Schulz berichtet, zeichnet sich für den insolventen Deutschen Musikrat der Weg aus der Krise ab. Jens Malte Fischer gratuliert dem Opersänger Cesare Siepi zum achtzigsten Geburtstag. Und Andrian Kreye meldet, dass der Regisseur Mark Winegardner die vierte Folge der legendären "Paten" drehen soll.

Auf der Medienseite wird die SZ-Serie der großen Journalisten fortgeführt - mit dem katholischen Publizisten Walter Dirks.

Besprochen werden eine Werkschau von Martin Kippenberger im Karlsruher ZKM, die Londoner Werkschau der Foto-Pionierin Julia Margaret Cameron in der National Portrait Gallery, die Uraufführung von Matthias Beltz' Komödie "Die Frankfurter Verlobung" am Frankfurter Schauspiel, Benatzkys "Weißes Rößl" am Hamburger Thalia Theater, F. W. Murnaus Stummfilm "Der letzte Mann" mit Live-Musik an der Berliner Volksbühne, Romuald Karmakars Techno-Film "196 BPM" in der Sparte Forum, Peter Kosminskys Literaturverfilmung "Weißer Oleander", "100th Window", das neue Album von Massive Attack, und Bücher - Ralf Georg Reuths Hitler-Biografie, die Anthologie "Der wilde Osten", Eva Zellers Gedichtband "Tübingen, Stiftsgarten" und eine Nummer der Zeitschrift "figurationen", die der "Ästhetik des Politischen" gewidmet ist.