Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.02.2003. In der Zeit erzählt Martin Scorsese, wie man eine archaische Stammesschlacht inszeniert. In der FAZ wendet sich der Rechtsphilosoph Eric Hilgendorf gegen das Verbot des therapeutischen Klonens. Die SZ polemisiert gegen die SZ: Schröder ist doch kein Wilhelm Zwo.Die taz polemisiert gegen die SZ und die FAZ: Die Kritiker des Kanzlers sind selber Wilhelm.

Zeit, 13.02.2003

In einem sehr unterhaltsamen Gespräch erzählt Martin Scorsese von der Mafia, seiner Familie und natürlich von seinem neuen Film "Gangs Of New York", der zum Abschluss der Berlinale gezeigt wird: "Ich wollte einen vorzivilisatorischen Zustand schildern. Der erste Kampf zwischen den Zuwanderern und den 'eingeborenen' Amerikanern sollte wie eine archaische Stammesschlacht aussehen. Ein wildes, blutrünstiges Gemetzel, mit Messern, Schwertern, Klauen und Zähnen, in dem sich der Zuschauer zeitlich nicht orientieren kann." Und woher Scorsese seine Motive nimmt? "Meine Filme, das ist die Familie, das sind die Brüder, ihr Hass und ihre Liebe, ihre Gier nach der Zuneigung der Eltern."

Achatz von Müller nimmt die verbalen Rempeleien des Donald Rumsfeld zum Anlass, die Geschichte der Diplomatie als eine Geschichte der "Regression und Rüpelei" zu erzählen, denn keine politische Macht sei so fein, dass sie nicht auch grob werden könne. "Diplomatie, ist eben unablässig bemüht, das Gegenteil des Gegenteils dessen zu bewirken, was alle Welt politisch erwartet. Dazu dient der grobe Ton nicht weniger als der 'feine'.

Weitere Artikel: Jens Jessen bemerkt in der Leitglosse einen neuen Trend zum Historienschinken und zur feudalistischen Liebe im Fernsehen. Hanno Ruterberg fragt sich, wie man Industriedenkmäler wie die Zeche Zollverein nutzen kann, ohne sie zur allein adretten Kulisse umzuwandeln. Warum sich in der aufgeklärten Republik Religion mehr und mehr in Esoterik verwandelt, erklärt uns Thomas Assheuer.

Auch wenn islamische Konservative noch so lautstark antiwestliche Ideologien verbreiten, schreibt der ägyptische Politologe Amr Hamzawy in der Reihe zum Islam und dem Westen, würden sich die Araber mehr und mehr mit dem Gedanken an eine westliche Demokratisierung anfreunden. Werner Bloch beschreibt, wie ehemalige Al-Qaida-Kämpfer im Jemen islamisch umerzogen werden. Claudia Herstatt berichtet, dass die Art-deco-Sammlung Giorgio Silzer unter den Hammer kommt.

Besprochen werden zwei Operninszenierungen der Regisseurin Vera Nemirova, "Carmen" in Freiburg und "Gräfin Mariza" in Wien, Matthias Beltz' nachgelassene Kömodie "Die Frankfurter Verlobung" im einzig möglichen Spielort, die Retrospektive zu Martin Kippenberger im Museum für Neue Kunst in Karlsruhe.

Den Literaturteil eröffnet Susanne Mayer mit einer Besprechung des Romans "Look at me" der amerikanischen Autorin Jennifer Egan.


SZ, 13.02.2003

Franziska Augstein nimmt einen Bush-kritischen Vortrag, den der amerikanische Rechtstheoretiker Ronald Dworkin (mehr hier) dieser Tage in München gehalten hat, zum Anlass, das gegenwärtige Schröder-Bashing (u.a. in der SZ von gestern) zu kommentieren: "Der Kanzler will den Krieg ... nicht, und dafür bezieht er Dresche wie der Bösnickel im Puppentheater. Er wird dafür gescholten, dass er sich zu Überzeugungen bekennt, die parteiübergreifend von den meisten Deutschen geteilt werden.... Immerhin: dass der Kanzler wie Hitler sei, hat ihm noch keiner vorgeworfen. Aber das deutsche historische Vergleichs-Repertoire ist ja größer. Es besteht nämlich aus genau zwei Posten: Wenn es nicht Hitler ist, dann der Wilhelminismus .... Im Kern zielt der Tadel natürlich auf etwas ganz anderes: Im Kern geht es darum, dass Schröders Regierung - erstmals in der bundesdeutschen Geschichte - eine eigenständige Außenpolitik vertritt. Wenn das sich als ein Fehler herausstellen sollte, dann wird es ein reparabler Fehler gewesen sein."

Weitere Artikel: Robert Menasse (mehr hier) setzt sich mit der Regierungsbildung in seiner österreichischen Heimat auseinander, und liefert nebenbei eine hinreißende Definition des Begriffs "Rechtspopulismus", den er als "die Transformation realer Empfindungen in eine bloß empfundene Realität" beschreibt. Siggi Weidemann schreibt über Kunst in niederländischen Museen, die während der Nazi-Zeit unrechtmäßig erworben wurde. Heiko Krebs berichtet vom Streit um den Franz-Werfel-Preis, der von einer Einrichtung des Bundes der Vertriebenen ausgelobt wurde, und den die Jüdischen Gemeinde in Prag nun als Namens-Missbrauch empfindet, weil sie in der Benennung des Preises nach Franz Werfel eine 'beispiellose Instrumentalisierung' des Schicksals des Prager Juden für die politischen Ziele der Vertriebenen sieht. Jby. weint der gefeuerten Berliner Staatssekretärin für Kultur Krista Tebbe keine Träne nach. Und hier präsentiert die SZ eine detaillierte Liste mit sämtlichen Oscar-Nominierungen.

Fritz Göttler gratuliert der amerikanischen Filmschauspielerin Kim Novak zum siebzigsten Geburtstag, dem Filmemacher Constantin Costa-Gavras auch, zum hundertsten Geburtstag würdigt Alex Rühle Georges Simenon (mehr hier) als den Mann, der den Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts erfand. Außerdem gibt es einen Nachruf auf den französischen Produzenten Daniel Toscan du Plantier, der während der Berlinale überraschend gestorben ist.

Auf der Medienseite wundert sich aus aktuellem Fernsehanlaß (nämlich der SWR-Doku-Reihe "Was war links?") Willi Winkler über das "Kostümfest 1968".

Besprochen werden drei deutsche Berlinale-Filme, "Good Bye, Lenin" (hier die Homepage des Films) von Wolfgang Becker (ein Gespräch mit dem Regisseur finden Sie hier), Christian Petzholds Film "Wolfsburg" und Hans-Christian Schmids Film "Lichter". Weiter besprochen werden Anthony Pilavachi und Lawrence Renes Version von Richard Wagners romantischer Oper "Lohengrin" am Bremer Theater, die Kritiker Werner Burkhard auch deshalb einen spannenden Abend bereitet hat, weil Klaus Pierwoß nach allen parteipolitischen Kabalen und Kabbeleien nun doch Intendant der Bremer Bühnen bleibt: "weil er spürt, wie sehr die Bürger der Hansestadt auf seiner Seite sind und weil auch die Besucher dieser 'Lohengrin'-Premiere das Gefühl hatten, dass alle Mitwirkenden ständig von der Bühne in den Saal riefen: 'Wir wollen es.'" Schließlich Bücher, darunter die "lange ersehnte, aber leider historisch unkritische Gesamtedition" des Renaissancemalers Luca Signorelli und Konstantin Paustowskijs "großartige" Autobiografie "Der Beginn eines verschwundenen Zeitalters" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 13.02.2003

Roman Luckscheiter hat in deutschen Literaturzeitschriften geblättert, und ist dabei auf einen Bericht von Friedrich Dieckmann in der Zeitschrift "neue deutsche literatur" gestoßen. Dort steht, "dass freie Autoren bei ihrer gesetzlichen Unfallversicherung vor kurzem in eine erheblich höhere 'Gefahrklasse' gestuft worden sind -­ nämlich von 1,1 auf 1,6, wo sie sich jetzt in Gesellschaft von Dompteuren und Gerichtsvollziehern finden."

Weitere Artikel: Christian Schlüter kritisiert die Irrationalität der Maximen einer neuen "Weltinnenpolitik". Jochen Schimmang huldigt Georges Simenon, der vor hundert Jahren geboren wurde. Daniel Kothenschulte vermisst in den Filmen der diesjährigen Berlinale richtige Bilder und befürchtet, dass das Dogma des Wettbewerbs "Realismus" heißt. Katja Lütghe berichtet vom Kinderfilmfestival der Berlinale. Der Kolumnist von Times Mager sucht den Nutzen der historischen Analogie (z.B. Schröder = Wilhelm Zwo) im Feld der politischen Demagogie, und ein gewisser "paa" ärgert sich, dass die Kolumnisten von New York Times und Washington Post jeden verspotten, der in der Irak-Debatte Fragen stellt oder Widerspruch anmeldet, und spottet zurück.

Besprochen werden Gore Verbinskis Remake des japanischen Horrorfilms "The Ring", eine Aufführung von Strawinskys "Sacre du printemps" mit den Berliner Philharmonikern und 240 Schülern unter Sir Simon Rattle als Massenperformance in Berlin und eine Ausstellung mit Bildern der Malerin Katharina Grosse in der Kunsthalle Kiel.

TAZ, 13.02.2003

Ralph Bollmann kommentiert auf der Themenseite die Anti-Schröder-Töne im Feuilleton von FAZ und SZ: "Der Tonfall der Kritik ist so schrill wie letzten November, als eines der beiden Blätter die Bürger "auf die Barrikaden" rief. Aber die Historisierung der Gegenwart schreitet rapide voran: Wurde der Zustand der Bundesrepublik im Spätherbst noch mit der Endphase der Weimarer Republik verglichen, so ist das Land inzwischen am Vorabend des Ersten Weltkriegs angekommen. Doch in beiden Fällen sind es vor allem die Untergangspropheten selbst, die herbeischreiben, wovor sie angeblich warnen wollen. ... Als wahre Wilhelministen erweisen sich die Kritiker des Kanzlers auch in ihrer Fixierung auf die großen Männer, die angeblich Geschichte machen."

Harald Fricke stellt mit gewisser Genugtuung fest, dass sich auf der Berlinale US-Stars wie "Dustin Hoffman, Richard Gere, Christopher Lee, George Clooney, selbst Roger Moore, der alte Bond" mit der europäischen Antikriegsbewegung solidarisieren. Andererseits aber findet er es aber auch seltsam, "dass die strikte Ablehnung der Bush-Linie wie ein Gesinnungs-UFO made in Hollywood auf der Berlinale gelandet ist."

In den USA wird der Widerstand gegen einen Irakkrieg mehr und mehr von liberalen Durchschnittsamerikanern dominiert, berichtet Tobias Rapp. Er hat das Hauptquartier von United For Peace And Justice besucht, die eine große Antikriegsdemonstration für den kommenden Samstag vorbereiten: "'Es war immer so, dass die Organisation von Antikriegsbewegungen von der Linken ausgegangen ist', sagt Dobbs (einer der Organisatoren, d.Red.). 'Aber was die Leute auf dem Podium sagen und was die Leute unten machen, das können oft zwei unterschiedliche Dinge sein. Die Message am kommenden Samstag wird nicht von den Sprechern kommen, sie wird von den Demonstranten kommen.' Dass so viele Durchschnittsamerikaner anfangen, mit der Friedensbewegung zu sympathisieren, hat allerdings nicht nur mit deren geschickter Bündnispolitik zu tun. Wer gegen den Krieg ist, dem bleibt gar keine andere Adresse, an die er oder sie sich wenden könnte."

Weitere Artikel: Gerrit Bartels schreibt zum hundertsten Geburtstag von Georges Simenon. Auf der Medienseite wird die SWR-Dokumentarfilmreihe "Was war links?" besprochen. Und auf den Berlinale-Seiten werden unter anderem Spike Lees Wettbewerbsfilm "25th hour" und der Forumsfilm "Aji" - ein altes Ehepaar widersetzt sich erfolgreich den Ideen der modernen Kochkunst - besprochen.

Schließlich TOM

NZZ, 13.02.2003

Die NZZ bringt heute einen bunten Strauß von Besprechungen. Thomas David feiert Philip Roths neuen Roman "Das sterbende Tier". Kersten Knipp besucht eine Kölner Ausstellung über den Kardinal Richelieu. Hanspeter Künzler stellt ein neues Album von Scott McCaughey und seiner Band Minus 5 vor. Ueli Bernays schreibt ausführlich, aber nicht direkt positiv, über die neue CD von Massive Attack. Besprochen werden ferner Jan Jelineks CD "La nouvelle pauvrete", sowie eine Menge Bücher, darunter Rüdiger Safranskis Essay "Wie viel Globalisierung verträgt der Mensch?" (mehr hier), eine Werkausgabe des Porträtisten August Sander, Laurent Graffs Roman "Feierabend" (mehr hier), ein neuer Band aus Hans Peter Duerrs "Mythos vom Zivilisationsprozess" (mehr hier) und ein Band über die Stadt Neu-Delhi als Werk des Architekten Edwin Lutyens.

FAZ, 13.02.2003

Der Jurist und Rechtsphilosoph Eric Hilgendorf wendet sich gegen das in Deutschland betriebene Verbot therapeutischen Klonens. "Erschreckend an dem neuesten Vorstoß zur pauschalen Ächtung des Klonens ist die Gleichgültigkeit, mit der die Möglichkeit, neue, vielversprechende Heilverfahren zu entwickeln, ignoriert wird. Die Menschenwürde eines Achtzellers existiert allenfalls potenziell, während das Leiden und die Verzweiflung der Menschen, die auf bessere Medikamente oder Ersatzgewebe bis hin zu neuen Organen warten, sehr real sind. Auch ihre Menschenwürde muss berücksichtigt werden."

Weitere Artikel: Dietmar Dath schreibt über den Niedergang der Popkultur, inklusive des Popfeuilletons in diesen schweren Zeiten. Tilman Spreckelsen zitiert die in einer lettischen Zeitung vorgebrachte Kritik eines deutschen Nobelpreisträgers für Literatur an der Jugend. Dieter Seidel gratuliert dem Regisseur Constantin Costa-Gavras zum Siebzigsten. Richard Kämmerlings gratuliert dem Schriftsteller F. C. Delius zum Sechzigsten. Verena Lueken gratuliert Kim Novak zum Siebzigsten. Kerstin Holm meldet, dass eine Ausstellung mit religionskritischen Werken der neueren Kunst in Moskau von orthodoxen Vandalen heimgesucht wurde. Andreas Rosenfelder resümiert eine Reihe von Kurzvorlesungen gegen den kommenden Krieg an der Bochumer Ruhr-Universität. "aro." berichtet über eine "Giftliste" für den Kölner Kulturhaushalt, der, wie so vieles, auch nicht mehr wächst. Gina Thomas stellt den von Herzog & de Meuron verantworteten Neubau für das Laban Centre for Dance in London vor. Zhou Derong meldet die Verurteilung des chinesischen Dissidenten Wang Bingzhang zu lebenslanger Haft.

Auf der Berlinale-Seite stellt Hans-Jörg Rother zwei afrikanische Filme im Forum vor. Andreas Kilb resümiert den gestrigen Wettbewerbstag. Tilman Spreckelsen findet viel lobende Worte für die Kinderfilme des Jahres (hier der Link zur gut gemachten Seite des Kinderfilmfests). Und Michael Althen schreibt zum Tod des Produzenten Daniel Toscan du Plantier, der auf der Berlinale im Alter von 61 Jahren an einem Herzinfarkt gestorben ist.

Oliver Tolmein schreibt auf der letzten Seite ein Profil über Peter Gölitz, den Chefredakteur der renommierten Zeitschrift Angewandte Chemie. Dietmar Polaczek schildert den Smog und das Verkehrschaos in Mailand, an denen auch der Agnelli-Clan mitschuldig ist.

Auf der Medienseite notiert Michael Hanfeld, wie Reinhard Mohn seinen Bertelsmann-Konzern zum "Familienclub" umbaut und den Managern, die ihn um Milliarden reicher machten, Egoismus vorwirft. Jörg Thomann stellt die Männerzeitschrift Amico vor. Gemeldet wird, dass Marcel Reich-Ranicki in einer Reihe des ZDF die Romane seines Kanons einzeln vorstellen wird.

Besprochen werden eine Ausstellung über "Die hohe Kunst des Steinschnitts" in Wien (wunderschönes Bild), Wolfgang Beckers neuer Film "Goodbye Lenin" (mehr hier), Lucinda Childs ' Choreografie von "Daphnis und Chloe" in Genf, Wolfgang Rihms Oper "Oedipus" in Mönchengladbach.