Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.03.2003. Irakkrieg und kein Ende: In der FAZ erklärt der britische Historiker Norman Stone das Dilemma der Türken. In der NZZ erklärt der rumänische Schriftsteller Mircea Cartarescu das Dilemma der Osteuropäer. In der taz klagt der Historiker Norman Birnbaum über die Grobiane in der amerikanischen Politik. In der FR erklärt der Politologe Benjamin Barber, warum man mit einem Irakkrieg keine Terroristen fängt. Nur die SZ schert aus: hier singt Günter Gaus ein Loblied auf den Kleinbürger.

FAZ, 08.03.2003

Der britische Historiker Norman Stone, seit 1997 Professor für Internationale Beziehungen an der Bilkent-Universität in Ankara, erklärt, warum die Irak-Frage für die Türkei ein Albtraum ist. Der Hauptgrund für das türkische Nein sei ganz einfach: "Es gibt einen Präzedenzfall. Der Golfkrieg ging für die Türkei nicht gut aus." Ministerpräsident Turgut Özal hatte sich damals über alle Bedenken hinweggesetzt und die USA unterstützt. Bagdad wurde jedoch "nicht besetzt, Saddam überlebte und ging brutal gegen seine Feinde im Innern vor, namentlich gegen die Kurden im Nordirak, an der Grenze zur Türkei. Eine Flüchtlingswelle setzte ein. Die Bilder von Soldaten, die Hunderte verzweifelter Frauen und Kinder daran hinderten, sich jenseits der Grenze in Sicherheit zu bringen, waren für das Image der Türkei nicht gut." Vor allem fürchte die Türkei jedoch einen wiederaufflammenden Krieg mit den Kurden, vor allem mit der PKK. Der Brite Stone zeigt in seinem Artikel eine recht distanzierte Haltung gegenüber den Kurden. "Aus Sicht der meisten Türken dürfte es aber sehr viel besser sein, wenn die Kurden abwandern, eine Ausbildung absolvieren, gemischte Ehen schließen und sich assimilieren, statt "als halbwilde Überbleibsel vergangener Zeiten auf ihren Felsen zu schmollen", wie John Stuart Mill über die Bretonen und Schotten schrieb."

Weitere Artikel: Werner Spieß stellt die Künstlerin Sophie Matisse vor, Urenkelin von Henri und Stiefenkelin von Marcel Duchamp. Im Wettstreit "Picasso - Matisse" hat sie gerade für die Familie gepunktet, indem sie Picassos "Guernica" neu gemalt hat - in Farbe. Eberhard Rathgeb skizziert noch einmal den Streit um Hamburgs Kulturpolitik. Dietmar Polaczek hat im Vatikan einer Lesung von Karol Wojtylas "Römisches Triptychon" zugehört. Christian Geyer gratuliert Wolf Singer zum Sechzigsten. Andreas Platthaus gratuliert Walter Jens zum Achtzigsten. Gerhard R. Koch schreibt den Nachruf auf den Komponisten Gerhard Rosenfels.

Auf der Medienseite stellt Rainer Hermann den neuen arabischen Nachrichtensender "Al Arabiyya" vor, mit dem die Saudis dem in Qatar staionierten Sender "Al Dschazira" Konkurrenz machen wollen. 300 Millionen Dollar hat er bis jetzt gekostet. Hauptaktionär ist Walid al Ibrahim, "ein Onkel des gleichaltrigen Abdalaziz Bin Fahd, des wohl einflußreichsten Sohns von König Fahd".

Besprochen werden der Film "Frida" mit Salma Hayek, die Uraufführung von Rene Polleschs "Freedom, Beauty, Truth & Love. Das revolutionäre Unternehmen" an der Berliner Volksbühne, ein Konzert von Brigitte Mira in Frankfurt, die Ausstellung "A Patriots Mecca" in der Hamburger Kunsthalle und Bücher, darunter Patricia Dunckers Roman "Der tödliche Zwischenraum" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr). Auf der Schallplatten- und Phono-Seite werden die neuen CDs der Ärzte und Ben Harpers vorgestellt, außerdem Noel Cowards Complete Recordings und Haydn-Konzerte für Orgel und Orchester.

In den Ruinen von Bilder und Zeiten stellt Julia Spinola uns den besten Flügel der Welt vor: den Steinway. Und Hans Ulrich Gumbrecht (mehr hier) denkt über die Zukunft der Hispanistik nach: "Entgegen einer weitverbreiteten Überzeugung kann und sollte es Bestands- oder gar Ewigkeitsgarantien für Universitätsdisziplinen nicht geben. "Was einen Anfang gehabt hat, muss auch aufhören können", pflegte Niklas Luhmann zu sagen, der ein unvergleichliches Talent hatte, seine Kollegen durch aphoristisch angespitzte Trivialitäten in Unruhe zu bringen. Mit dieser Wahrheit im Nacken haben die, wie der trockene Erich Auerbach einmal formulierte, "vom Baum der deutschen Romantik gefallenen Philologien" nun schon mehrere, meist sogar opulente Jahrzehnte überlebt - ein wenig wie jene Rentner, deren Gesichter beim Sprechen vom eigenen Tod immer rosiger werden. Doch so wie ihr glückliches Naturell die rosigen Rentner nicht ewig vor der Wirkung von Cholesterin oder von Wein-Exzessen schützt, könnte es auch geschehen, dass die Philologien und Literaturwissenschaften des frühen 21. Jahrhunderts sich in ihr Grab reden."

In der Frankfurter Anthologie stellt Jan Philipp Reemtsma ein Gedicht von Goethe vor: "Keinen Reimer wird man finden".

"Keinen Reimer wird man finden
Der sich nicht den besten hielte,
Keinen Fiedler, der nicht lieber
Eigne Melodien spielte.

Und ich konnte sie nicht tadeln;
Wenn wir andern Ehre geben
Müssen wir uns selbst entadeln,
Lebt man denn, wenn andre leben? ..."

NZZ, 08.03.2003

"Europa darf sich nicht im transatlantischen Widerspruch definieren", fordert der rumänische Schriftsteller Mircea Cartarescu und schildert das Dilemma, in das die osteuropäischen Länder durch den Streit um den Irakkrieg geworfen wurden. "Die am meisten benachteiligten Staaten in diesem Beitrittswettlauf, Rumänien und Bulgarien, sind durch die vom amerikanischen Staatssekretär getroffene Unterscheidung einem falschen Dilemma ausgesetzt worden. Wem gebührt ihre Loyalität, den Vereinigten Staaten (die sie bereits in die Nato aufgenommen haben) oder Europa (welches sich anschickt, sie aufzunehmen)? Welche Folgen wird ihr politisches Verhalten im Zusammenhang mit dem Krieg, der dem Anschein nach unausweichlich ist, nach sich ziehen? Ein sonst eigentlich gewiefter Politiker wie Jacques Chirac hat Rumsfelds Polemik auf eher perfide Weise weitergesponnen und verschärft, indem er die Staaten des Ostens für ihre 'Untreue' gegenüber Europa in gekränktem Ton und mit verdeckter Drohung 'tadelte'. So entstand der peinliche Eindruck einer möglichen politischen Erpressung: Schlagt euch jetzt nur auf die Seite der Amerikaner, das wird nicht ohne Folgen bleiben, was die europäische Integration angeht . . ."

Andreas Breitenstein erklärt, wie Osteuropa "im Irak-Streit die eigene Geschichte" wiedererkennt: "Es waren die Amerikaner und Engländer, denen die Länder des Ostblocks nach fast fünfzig Jahren Knechtschaft 1989 in der Hauptsache die Freiheit zu verdanken hatten. Ohne die ideelle Festigkeit der Angelsachsen, ohne ihre langfristige Strategie und ihre militärisch gestützte Machtpolitik gäbe es - siehe Nordkorea - das marode Sowjetreich womöglich heute noch. Ohne den dialektischen 'Irrsinn' konsequenter militärischer Abschreckung und Nachrüstung wäre das Imperium nicht entkräftet in sich zerfallen, hätte es kein Ende des Kalten Krieges und keine als Perestroika deklarierte Selbstauflösung des kommunistischen Systems gegeben. In Westeuropa haben in dieser Sache nur wenige Ruhm erworben. Es gab viele, die sich nicht nur desinteressiert mit der Tyrannei im Osten abgefunden hatten, sondern das Sowjetsystem innerlich gar als ideellen Gegenentwurf zum eigenen todgeweihten 'Spätkapitalismus' hochhielten."

Weitere Artikel: Rainer Moritz meditiert über "Deutschland sucht den Superstar". Klaus Witzeling berichtet über ein Privattheater-Karussell in Hamburg: Von den Hamburger Kammerspielen ins St.-Pauli-Theater. Georges Waser meldet, dass Michael Moores "Stupid White Men" in Großbritannien mit dem Book of the Year Award ausgezeichnet wurde. Und "ii." meldet die Eröffnung des "Fotobot"-Foto-Online-Archivs.

Besprochen werden die Ausstellung "Joe Plenik und Ljubljana. Der Architekt und seine Stadt" (mehr hier) im Grazer Stadtmuseum und Bücher, darunter Raymond Geuss' Studie über "Privatheit", Emmanuele Bernheims Roman "Stallone" und Peter Esterhazys Erstling "Fancsiko und Pinta" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In der Samstagsbeilage Literatur und Kunst denkt Franz Haas über die "diskrete Germanistik" nach, die sich im Fall von Ingeborg Bachmann und Max Frisch davor scheut, die Beziehung der beiden bei der Interpretation ihrer Texte zu berücksichtigen. Stephan Krass beschreibt Max Frischs Auftragsarbeiten für das Schweizer Radio aus den fünfziger Jahren. Und Roman Bucheli meldet, dass der "Stiller" in der Manesse-Bibliothek der Weltliteratur erscheint - als erstes Buch aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Stanislaus von Moos wirft einen "neuen Blick" auf das Amerika-Erlebnis des Architekten Le Corbusier in den dreißiger Jahren. Andre Bideau schildert die neue Aktualität des Architekten Claude Parent. Und Claudia Wenner stellt in einem ausführlichen Porträt den indischen Psychoanalytiker Sudhir Kakar (mehr hier) vor.

TAZ, 08.03.2003

Christian Semler ärgert sich über die "einst kritischen Intellektuellen" Vaclav Havel, Adam Michnik und György Konrad, die allesamt für einen Krieg gegen den Irak plädieren: "In den Stellungnahmen von Havel, Konrad und Michnik ist die Berufung auf Freiheit und Demokratie zu einer ideologischen rhetorischen Figur herabgesunken. Der Stachel der Irritation ist gezogen, die Beunruhigung darüber, dass auch demokratische Systeme auf die schiefe, totalitäre Bahn geraten können, verschwunden. Die einst kritischen Intellektuellen verbrämen mit der Beschwörung des transatlantischen Wertekonsenses zugleich eine vorgebliche Staatsräson ihrer Länder. Plötzlich ist vom 'euro-atlantischen Block' die Rede und geopolitische Doktrinen, noch immer die Domäne des nationalistischen Diskurses, beherrschen das Feld. Die unbestechlichen Kritiker von einst posieren als organische Intellektuelle des 'Neuen Europa', das sich auf die Seite der Sieger stellen will. Noch ein Kapitel aus der trahison des clercs."

Norman Birnbaum (mehr hier) beklagt den Verfall der politischen Kultur, zuvorderst auf amerikanischer Seite. Nur noch Grobiane seien da am Werk, schimpft er auf der Meinungsseite. "Die meisten Politiker, die jetzt Europa verdammen, gehören nicht zur ersten Reihe; niemand wird das Kongressmitglied Lantos mit dem alten Senator Fulbright verwechseln. Aufrufe zum Boykott europäischer Waren kommen von Abgeordneten, die niemand der Fähigkeit verdächtigt, besonders gut mit komplexen Zusammenhängen umgehen zu können. Auch die Publizisten und Gelehrten, die sich derart äußern, werden wohl vergessen sein, wenn die intellektuelle Geschichte unserer Epoche geschrieben wird. Sie handeln mit gebrauchten Ideen. Dr. Wolfowitz hat vielleicht Carl Schmitt gelesen, Richard Perle hat Oakeshotts Vorlesungen am LSE gehört; die Gedanken ihrer Gefolgsleute eigenen sich gerade mal als Aufkleber für den Kofferraumdeckel."

Weitere Artikel: Die Belgrader Dramatikerin Biljana Srbljanovic (hier mehr, allerdings auf Französisch) hat den Bosnien-Krieg noch gut im Gedächtnis und weilt derzeit in New York. Im Interview jedenfalls findet sie klare Worte über ihr Gastland. "In Diktaturen, wie Serbien eine hatte, kontrolliert die Regierung alles. In Amerika kontrolliert nicht die Regierung alles. Hier kontrolliert das Geld alles, inklusive der Regierung." Auf der Medienseite präsentiert die taz anlässlich des "Superstar"-Finales ein Potpourri aus Bonmots zur Show, erstellt aus den Feuilletons der vergangenen Monate.

Besprochen werden Steven Soderberghs Science-Fiction Film "Solaris", R. Kellys neues Album "Chocolate Factory" sowie die vierte Version des Strategieklassikers am Computer Sim City.

Heute ist Weltfrauentag, und das tazmag sorgt dafür, dass wir das nicht vergessen: Jürgen Neffe sinniert zum Aufwärmen über den Risikofaktor Mann (hier der statistische Unterbau dazu), der mit seiner Agressivität den gesellschaftlichen Frieden, ach was, den Weltfrieden unmöglich macht. "Seine Spur durchzieht den gesamten Zivilisationsprozess, nistet mehr oder weniger tief im Gewebe aller Gesellschaften. Krieg, Bürgerkrieg und Terrorismus bilden nur die spektakuläre Spitze eines ewigen Eisbergs, der ohne männliche Aggression längst dahinschmelzen würde."

Außerdem hat die taz eine Umfrage unter Männern von 4 - 90 gestartet, mit der Frage "Was ist ein Mann?". Die Antworten gibt's hier, hier, hier, hier, hier, hier und hier.


Und natürlich Tom.

FR, 08.03.2003

Der Wiener Schriftsteller Franzobel (mehr hier) fragt sich, ob man Bush vielleicht besser verstehen kann, wenn man weiß, was hinter seinem Namen steckt. Bei anderen funktioniert das ja auch: "War einer groß, dann nannte man ihn Langer, einen Teichanleger hieß man Beckenbauer, Lichtblau den, der am helllichten Tag besoffen war. Basler, den, der von dort kam, ging einer wippend oder wiegend, dann war Federer das Richtige, während Polster sich vielleicht einem legasthenischen, Postler schreiben wollenden Beamten verdankt. Powell könnte guter Beller heißen, während Ammann vielleicht der Euphemismus für eine fleißige Prostituierte ist, Castro bedeutet Sauschneider, Merkel ist der kleine Spickzettel, Grass der dicke Italiener, und Zidane kommt womöglich von Gitane, Zigeuner also, während Rominger den bezeichnet, der sich dauernd auf den Papst beruft."

Der amerikanische Politikwissenschaftler Benjamin Barber (mehr hier) erinnert noch einmal daran, wie wenig ein Krieg gegen den Irak mit dem Krieg gegen den Terror zu tun hat. "Das Zerschlagen von Schurkenstaaten wird uns nicht von Terroristen befreien. Die Taliban sind weg, aber Osama lebt und feuert die Gläubigen in Irak an. Besiege einen Staat in Kabul oder Bagdad, der Terrorismus 'sponsert' - und die Terroristen tauchen ab, um wieder in Kenia, Bali, Hamburg, London oder Buffalo aufzutauchen."

Weiteres: Corinna Harfouch und Christina Paulhofer erzählen im Interview alles über Achselhaare, Gummipenisse und den ewigen Kampf zwischen den Geschlechtern. Anlass: Harfouch spielt die Hauptrolle in "Phaidras Liebe" von Sarah Kane, das heute an der Berliner Schaubühne Premiere hat, Paulhofer führt Regie. In ihrer Zimt-Kolumne denkt Renee Zucker an die Mode dieses Frühlings, oder besser, dieses Krieges. Harry Nutt schickt Grüße an den nun achtzigjährigen Walter Jens. Ulrich Clewing hat in Berlin eine Tagung über Europa als Heimat besucht. Gemeldet wird, dass am Broadway wegen geplanter Entlassungen ein Musikerstreik droht.

In Zeit und Bild druckt die FR Fritz W. Kramers recht eigenwilligen, literarisch angehauchten Essay über das Alter, der auch im neuen Kursbuch erscheinen wird.

Besprochen werden das Stück "Freedom, Beauty, Truth & Love. Das revolutionäre Unternehmen" von Rene Pollesch an der Berliner Volksbühne, und Bücher, darunter Maxim Billers bewegender, aber derzeit aufgrund einer gerichtlichen Verfügung einstweilen nicht erhältlicher Roman "Esra", Charlotte und Peter Fiells Standardwerk über "Skandinavisches Design" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Im Magazin erzählt uns Niki Lauda von den Wonnen des Berühmtseins. "Ich genieße, wenn ich mich auf der Autobahn mühsam an ein Polizeiauto heranschleiche, das mit 130 Stundenkilometern fährt. Ich nähere mich also mit 131, 132 Stundenkilometer langsam an, setze irgendwann zum Überholen an und dann schaue ich rüber zu den Beamten. Meistens lachen die Polizisten. Dann schüttle ich meinen Kopf und deute die Frage an: Wie geht's weiter? Und dann lassen mich die Beamten fahren. Das würden sie bei einem Unbekannten nie machen." In Österreich werden Volkshelden noch angemessen verehrt!

Außerdem stellt Petra Mies Francoise Rudetzki und ihre Organisation S.O.S. Attentats vor, die den Überlebenden von Terror-Anschlägen Gerechtigkeit verschaffen will. Hans Meierle hat sich in Madonna di Campiglio auf die Fersen von Michael Schumacher geheftet, der auch ohne Ferrari recht flott auf der Piste war. Und Alexander Musik schreibt von den Chungking Mansions, ein legendenumwobener Hochhaus-Komplex in Hongkong, die ihr negatives Image loswerden wollen.

SZ, 08.03.2003

In Island läuft seit einigen Jahren ein gigantisches Forschungsprojekt. Die Firma DeCode hat die Rechte an allen genetischen und medizinischen Daten der Bevölkerung erworben und will so Ursachen für Krankheiten ausfindig machen. Achim Zons stellt Arnaldur Indridason vor, der aus dieser Steilvorlage einen Krimi gemacht hat, "Nordermoor" (Leseprobe), der nun von der Realität eingeholt zu werden droht. Arnaldur "stellte sich vor, wie jede Operation, jede Depression, jede Diagnose und jedes verschriebene Medikament in einem Computer erfasst wird. Ein uneheliches Kind? Wird sofort entdeckt. Ein Alkoholiker? Kommt sofort auf eine extra Liste. Eine Erbkrankheit? In Sekunden verzeichnet. Es machte ihm Angst. Und er fragte sich, was mit all den Daten wohl passieren könnte, wenn jemand den Sicherheitscode knackt. Woraufhin Arnaldur seinen Kommissar stellvertretend hinschickte, um unangenehme Fragen zu stellen."

Der Publizist Günter Gaus, erhebt seine Stimme für den Kleinbürger. Sonst tue es ja keiner, und dabei brauchen wir ihn genauso dringend wie soziale Reformen: "Die schrittweise Auflösung des Bürgertums beginnt mit der Zerstörung des Kleinbürgerstandes. Diese Zerstörung wird über einige Zeit von der Gesellschaft mehrheitlich als ein Fortschritt angesehen werden, denn sie erscheint als ein Teil notwendiger Sozialreformen. Für die meisten Intellektuellen im Land wird der Vorgang, so bedeutend er ist, unterhalb ihres Wahrnehmungshorizonts bleiben. Und das liegt keineswegs daran, dass die Intellektuellen derzeit Präsident Bush im Auge behalten. Die Schriftsteller, die bildenden, darstellenden, singenden Künstler, die Professoren, die als Engagierte politisch dilettieren und ohne Ansehen ihrer Intellektualität als Einzelne gewöhnlich unter der Sammelbezeichnung 'Intellektuelle' in der Öffentlichkeit vorkommen, besitzen auch sonst nicht viel Sinn für soziale Fragen. Schon der Gedanke eines öffentlichen Appells der Intellektuellen für die Freiheit der Kleinbürger wirkt lächerlich.

Weitere Artikel: Gottfried Knapp schreibt zum "Superstar"-Finale und prophezeit: " Was bleibt dem Volk in der Mitte am heutigen Samstagabend anderes übrig, als Alexander zu wählen?" Susan Vahabzadeh berichtet von den Sorgen des Fernsehsenders ABC um die Quote bei den Oscar-Verleihungen - denn ein Krieg gilt als sicher. Momme Brodersen kommentiert in der Reihe Briefe aus dem 20. Jahrhundert ein Schreiben von Hans Sahl an Lotte Goslar aus dem Jahr 1938. Albert von Schirnding huldigt Walter Jens, der achtzig Jahre alt wird, aber "schon in jungen Jahren ein Herr Meister" war. Rebecca Casati gratuliert dem Modeschöpfer Andre Courreges, ebenfalls zum Achtzigsten (wer das nötige Kleingeld hat, kann hier Werke des Meisters bestellen). Volker Breidecker ist voll des Lobes über das neue Museum am Dom in Würzburg, das die die größte kirchliche Sammlung zeitgenössischer Kunst nördlich der Alpen beherbergt. "eye" räumt den Broadway-Musikern bei den Verhandlungen um ihre Zukunft keine große Chance ein. Und Hans Leyendecker zitiert "Alice im Wunderland", um zu zeigen, dass der Stärkere immer Recht hat.

Auf der Medienseite bringt Hans-Jürgen Jakobs uns im Fall Kirch und die Schweiz auf den neuesten Stand und berichtet. Benjamin Henrichs hat sich vergangenen Samstag 17 solide wie abwegige Zeitungen gekauft und resümiert die Highlights dieses "Abenteuers".


Besprechungen widmen sich dem Aschenputtel-Drama "Manhattan Love Story" mit Jennifer Lopez, Patrick Schlössers Inszenierung von Ibsens "Gespenstern" in Hamburg, Cherubinis F-Dur-Messe in München, dirigiert von Riccardo Muti, und Büchern, darunter John Barths Roman "Tage ohne Wetter", Jürgen Lodemanns voluminöse Neuerzählung der Nibelungensage "Siegfried und Kriemhild" und Hartwin Brandts Studie zum Umgang mit den Alten in der Antike (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In der SZ am Wochende lehrt uns uns Alexander von Schönburg, wie man stilvoll verarmt. Er weiß es, da Familien wie seine "jahrhundertelang Erfahrung mit dem stetigen sozialen Abstieg machen konnten." Unübertroffenes Stilgefühl beweisen die Briten - auch in schwierigen Zeiten. "Eines Tages beschloss mein Freund, dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen und sein eigener Diener zu werden. Er putzt sich selbst die Schuhe bis zur Perfektion, wenn er Zigaretten braucht, schickt er sich zum Tabakladen an der Ecke, bevor er zum Essen Platz nimmt, serviert er sich es erst. Er isst von selbst poliertem Silberbesteck. Sein Briefpapier ist von Smythsons. Seine winzige Wohnung in Hammersmith (einem scheußlichen Teil Londons) ist stets sehr aufgeräumt. Seine Kleidung ist makellos, obwohl sie fast so alt ist wie er selbst. Auf seinem Schreibtisch, einem Erbstück, stapeln sich Mahnungen von British Gas, die ihm drohen, den Strom abzustellen. Zuweilen ist sein Telefon gesperrt. Abgesehen von diesen Kalamitäten bewahrt er stets die Fassade eines wohlhabenden Abkömmlings der Oberklasse."

Günter Herburger (Bücher) erzählt in seiner Kurzgeschichte von einer Reise mit Friedrich Wilhelm Fruktus und dessen Silberpfeil, hinauf in den Bregenzer Wald zum Gleitschirmfliegen. Robin Detje hat herausgefunden, warum er sich nicht mal zum virtuellen Kriegsherrn eignet - seine Skrupel verbieten ihm, die Selbstmordattentäter loszuschicken. Christopher Keil feiert den fünften Jahrestag der legendären Trappatoni-Rede. Aus dem Interview mit Schauspieler Heino Ferch erfahren wir zum einen von dessen Pünktlichkeit, und dass sich die Interviewten ihr Motto offensichtlich selbst aussuchen dürfen - Ferchs Wahl fiel auf Gravitation.