Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.03.2003. Die Zeit feiert im Aufmacher ihrer Literaturbeilage die Wiedergeburt des Berlin-Romans in Gestalt von Andre Kubiczeks Roman "Die Guten und die Bösen". Die FR sagt "Empire" zu Amerika. Die SZ sagt "Servus" zum Völkerrecht. In der taz beharrt der israelische Historiker Tom Segev, dass "Oslo" im Prinzip richtig war. In der FAZ bekennt A.L. Kennedy ihre Verzweiflung: Niemals seit dem Burenkrieg sei Großbritannien so tief gesunken.

Zeit, 20.03.2003

Werner Bloch hat sich anlässlich des bevorstehenden Berliner Film- und Kunstfestivals "DisORIENTation" in Beirut umgesehen: "Gut versteckt und etwas entfernt liegt das BO18, die größte der In-Diskotheken, errichtet auf dem Gelände eines Massakers an Palästinensern. Särge, die man aufklappen kann, fungieren hier als Sitzbänke, weiß livrierte Kellner präsentieren Drinks in einer Art Totentanz, das Dach lässt sich öffnen und bietet einen durch Spiegel verfremdeten Einblick in den Beiruter Nachthimmel, während man unten zum Techno tanzt. Vom Gedanken an das Massaker auf diesem Boden lässt sich niemand stören. 'Massaker hat es hier doch überall gegeben', meint ein Partygast schulterzuckend."

Die amerikanische Schriftstellerin Francine Prose beklagt den Patriotismus in den amerikanischen Medien und seine Folgen. "Nach einer Statistik, an die ich glaube, obwohl sie allgemein verbreitet wurde, ist ein großer Prozentsatz (manche sagen, über 40 Prozent) der Amerikaner überzeugt, es gebe eine direkte Verbindung zwischen Saddam Hussein und dem 11. September. In Interviews bestätigt der Schriftsteller Gore Vidal, was viele von uns schon lange vermuten: dass wir jetzt den Preis bezahlen für die unwillentlich oder systematisch schlechte Ausbildung unserer Bevölkerung während der letzten Jahrzehnte. Wer nie gelernt hat, was in unserer Verfassung steht, wird sich kaum daran stören, wenn die Verfassung verletzt, übersehen und ignoriert wird."

Im Aufmacher der Literaturbeilage der Zeit freut sich Iris Radisch, wie Andre Kubiczek (mehr hier) in seinem zweiten Roman "Die Guten und die Bösen" den literarischen Ost-West-Vergleich "aus dem Ghetto der allgegenwärtigen Pubertätsliteratur" hinausführt und den "totgesagten Berlin-Roman im Breitwandformat reaktiviert". Radisch findet "eine intelligente Vulgarisierung der literarischen Mittel, die - fände sie auf dem Theater statt - das zahlende Bürgertum aus dem Operettenteil der Welt kaum tolerieren würde. Abgesehen von den rasierten Eiern, an denen sich der Ostler gerne kratzt, sind es aber gerade die ungebremste Aggression und die irrlichternde soziale Kolportage, die dieser hohen primitiven Kunst Kraft und Farbe geben." (Wir werten die Beilage in den nächsten Tagen aus.)

Weitere Artikel: Der Schriftsteller Günter Kunert macht sich Gedanken über die Hilflosigkeit pazifistischer Lyrik in Zeiten des Krieges. Hanno Rauterberg beschreibt einen neuen Trend der Kunst im öffentlichen Raum: "In vielen Städten tauchen in jüngster Zeit grellbunt angemalte Tierskulpturen auf. In Gelsenkirchen zum Beispiel wurden 125 Kunstpferde gesichtet, in Bad Oeynhausen 50 Kunstschweine, in Berlin trieb eine riesige Bärenbande ihr ästhetisches Unwesen." Abgedruckt ist Joachim Fests Dankesrede zur Verleihung des Einhard-Preises für herausragende Biografik. Georg Seeßlen schreibt eine kleine Geschichte der Oscar-Verleihung. Claudia Herstatt berichtet von der Tefaf (The European Fine Art Fair) in Maastricht. Und Michael Naumann kondoliert der SZ: "Jahrzehntelang hatten die SZ-Besitzer das Lizenz-Geschenk der Amerikaner als das verstanden, was es war: ein täglicher Lottogewinn." Vorbei! Jetzt werde praktiziert, "was das Wirtschaftsressort der SZ seit Jahren predigte: Marktwirtschaft mit beschränkter kultureller Haftung."

Besprochen werden Gert Voss' Inszenierung von Neil Simons Komikerkomödie "The Sunshine Boys" am Wiener Akademietheater und Thomas Vinterbergs Film "It's All About Love".

Hingewiesen sei noch auf Rosemarie Noacks Artikel im Wissen über die Gefährdung antiker Stätten durch einen Irak-Krieg und auf eine Reportage von Martin Buch im Dossier über den Gerichtsprozess gegen den Mörder einer alten Frau in Ruanda.

SZ, 20.03.2003

Christian Kortmann beschreibt, wie er als Fernsehzuschauer apathisch den Vorabend eines Krieges erlebt. "Man ist irgendwie auf der richtigen, der sicheren, der sonnigen Seite. Es gibt sogar Menschen in Deutschland und anderswo, die sich über diesen Krieg freuen und schon jetzt von ihm profitieren: 'Kaufe, wenn die Kanonen donnern!' referiert etwa der ARD-Börsenmann eine Aktionärsweisheit, ohne eine Miene zu verziehen. Später am Dienstagabend lauscht man dem Konzert der internationalen Ja- und Nein-Stimmen zum Krieg, die die Regierungsvertreter in ihren Heimatländern in die Kameras flöten. In seiner Nutzlosigkeit wirkt dieses Votum nur noch wie eine grausige Parodie der Punkte-Übermittlung beim Grand Prix Eurovision de la Chanson."

Thomas Steinfeld konstatiert das Ende einer internationalen Hoffnung: "Die Hoffnung auf den eigenständigen Wert des Völkerrechts gründet auf der Trennung von Macht und Recht. Sie setzt voraus, dass sich lauter staatliche Souveräne zu einer frei gewählten Verbindlichkeit zusammenschließen, der sie für den Zweifels- und Konfliktfall eine Macht auch über sich selbst gewähren.... Was ist künftig ein Veto im Sicherheitsrat noch wert, wenn es einen Staat auf der Welt gibt, der die Vereinten Nationen nur noch als Formalisierung seiner eigenen Rechtsvorstellungen betrachtet?" 

Weitere Themen: Petra Steinberger gibt Arbeitshypothesen aus, wie man mit dem Schlimmsten rechnet, Susan Vahabzadeh und Fritz Göttler blicken etwas wehmütig auf fünf Filme zurück, die Ende des vorigen Jahres spontan als mehr oder weniger sichere Oscar-Kandidaten gehandelt wurden ­ und bei der Nominierung plötzlich verschwunden waren (eine Reportage über die kommende Oscar-Verleihung befindet sich auch auf Seite 3). Anke Sterneborg und Fritz Göttler haben mit Thomas Vinterberg über seinen Film "It?s All About Love" (mehr hiergesprochen, Kristina Maidt-Zinke gratuliert Raph Giordano zum Achtzigsten.

Besprochen werden Mark Steven Johnsons Filmadaption von Stan Lees und Bill Everetts Marvel-Comics "Daredevil", die März-Ausgabe der Cahiers du Cinema, die sich mit der Situation des US-Kinos befasst, ein Konzert von Kurt Masur und dem London Philharmonic Orchestra mit Mendelssohn und Mahler in der Münchner Philharmonie, die dritte Folge von Matthias von Hartz' monatlicher Globalisierungs-Show im Hamburger Schauspielhaus, "go create TM resistance", eine Tagung der Evangelischen Akademie der Pfalz zu den europäischen Dimensionen der Bioethik in Landau und Bücher, darunter eine weitere Hymne an Jonathan Safran Foers Roman "Alles ist erleuchtet" (mehr in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

FR, 20.03.2003

"Amerika, dürfen wir schon 'Empire' zu dir sagen?" fragt eine zornige Marcia Pally im Flatironletter Nr. 28. "Wenn wir Empire sagen dürfen, muss die Regierung Bush wenigstens nicht länger Ari Fleischers Zeit verschwenden oder die von Hans Blix, Mohamed el Baradei, der UN und all jener Reporter, die schon einen Krampf im Arm haben vom ständigen Wiederauftragen der Bushschen Moraltünche, die einen Krieg entschuldigen soll... Es handelt sich dabei um einen Krieg gegen ein Land, das weder die Twin Towers zu Fall gebracht hat (wie bin Laden), noch US-Flugzeuge abfängt (wie Nordkorea), noch Al Qaida unterstützt (wie Saudi-Arabien), noch bin Ladens Mannschaft Unterschlupf gewährt (wie Pakistan), auch nicht offiziell und offen Terrorgruppen unterstützt (wie Iran, Libanon und Syrien es tun)... Ein Krieg in Irak wird jeden stocksauren 19-jährigen Islamisten mit Sprengstoff für 15 Cent in der Tasche schwer inspirieren."

Weitere Artikel: Arno Lustiger sagt "Mazel tov" zu seinem Freund, dem achtzigährigen Geburtstagskind Ralph Giordano, Verena Mayer beschreibt das Verfahren gegen einen jungen Mann, den ein leicht ungesetzlicher Übereifer beim Verteilen von Otto-, Neckermann-, Quelle- und Obi-Katalogen vor Gericht brachte, als Präzedenzfall einer Sachbeschädigung in Zeiten der Ich-AG, auf der Medienseite berichtet Gerti Schön, dass US-Schauspieler, die sich gegen Krieg engagieren, eine neue Schwarze Liste befürchten und die Kolumne Times Mager präsentiert aus gegebenem Anlaß ein ABC der Freiheit.

Besprochen werden: Mark Steven Johnsons Comic-Adaption "Daredevil" und eine Ausstellung "kalter Sitzmaschinen und cooler Stuhlschönheiten" im Vitra Design Museum Berlin.

TAZ, 20.03.2003

"In den letzten Wochen sind fast alle, die ich kenne, zu Verbal-Generälen avanciert", schreibt Ulrike Herrmann auf der Meinungsseite. "Das erinnert verdammt an Fußballweltmeisterschaften, wo man nur noch Verbal-Trainern begegnet." Beispiel: "Diesmal sollen nicht nur Cruise Missiles einschlagen, sondern auch 'Geräuschbomben', wie mir ein Freund erklärt. 'Eine superneue Entwicklung der Amerikaner!' Sie sollen angeblich nicht töten, 'aber durch ihren Krach betäuben die Bomben für mehrere Tage'."

"Das Prinzip von Oslo war richtig, das Management falsch", sagt der israelische Historiker Tom Segev in einem Interview mit Tzafir Cohen und Stefan Reinecke, "Arafat hat viel Geld bekommen, und es hat niemanden interessiert, ob er damit Computer oder Waffen kauft. Und Israel hat einfach weiter Siedlungen gebaut, als ob es keine Friedensgespräche gab. Nur ganz wenige Israelis haben verstanden, dass Oslo für die überwiegende Mehrheit der Palästinenser überhaupt keine Verbesserung bedeutete. Wir haben gedacht: Der Oslo-Prozess läuft von alleine. Netanjahu und Barak haben ihre persönlichen Rechtsanwälte mit den diplomatischen Fragen beschäftigt - dieselben, die ihre Scheidung arrangieren würden. Wir haben an diese Illusion geglaubt, weil wir daran glauben wollten: Eigentlich ist alles geregelt, den Rest machen die Anwälte. In Wirklichkeit gab es eine endlose Kette handwerklicher, politischer Fehler - bis hin zu Baraks napoleonischer Idee, Arafat einen Friedensvertrag aufzuzwingen. Aber: Das Prinzip von Oslo war richtig."

Weitere Themen: Kolja Mensing beschreibt die Stimmung vor der Leipziger Buchmesse und spekuliert, dass man dort vor allem über die Zukunft Frankfurts reden und auf den Irakkrieg warten wird, auf der Medienseite gibt Roland Hofwiler einen Überblick über Diskussionen und Propaganda zum Irakkrieg im Web.

Besprochen werden Rabah Ameur-Zaimeches Debütfilm "Wesh, Wesh, qu'est-ce qui se passe?", Mark Steven Johnsons Verfilmung des Marvel-Comic "Daredevil" und Thomas Vinterbergs Cinemascope-Film mit Studio-Settings und Hollywood-Stars "It's All About Love".

Und Tom.

Auch die taz bringt heute eine Literaturbeilage: Aufmacher ist Kolja Mensings Besprechung von Chuck Palahniuks neuem Roman "Flug 2039". Wir können nicht verlinken, weil die Homepage der taz heute morgen nicht funktionierte.

NZZ, 20.03.2003

Die NZZ bringt heute vor allem Buchbesprechungen - am ausführlichsten Andreas Breitenstein zu David Albaharis Roman "Götz und Meyer", der von der Ermordung der serbischen Juden handelt und offensichtlich eine beeindruckende Lektüre darstellt: "Wie ein geprügelter Hund kommt man heraus aus Albaharis Romanen. Eine unerbittliche Bewegung des Zermahlens von Gewissheit ist hier am Werk, an deren Ende die Implosion des Sinns steht."

Besprochen werden außerdem Nick Hornbys Aufsätze über die Ästhetik der Popmusik "31 Songs" (Leseprobe), eine Monografie über den Pianisten Hans von Bülow, Evelyn Grills Erzählung "Ins Ohr", Alexej Slapovskys Roman "Der heilige Nachbar" (mehr hier), Bruno Richards apokalyptischer Berlin-Roman "Desaster" (mehr hier) und Alain Robbe-Grillets später Roman "Die Wiederholung" (mehr hier) - die NZZ braucht wahrlich keine Beilagen, um viele Bücher zu besprechen!

Aber auch nicht literarische Kulturmanifestationen werden gewürdigt. Besprechungen gelten etwa einer Ausstellung zu Polens Aufbruch in die Moderne in Wien, 2 CDs von Geir Lysnes Big Band "Listening Ensemble" (Hörproben) und einem Auftritt des Pretty Ugly Ballet in Luzern .

Und ferner berichtet Hanspeter Künzler, dass die bis vor kurzem so beliebte Country-Band Dixie Chicks bei den Amerikanern in Ungnade fiel, weil sie sich gegen den Krieg äußerte. Hier denn auch gleich ihre Entschuldigung.

FAZ, 20.03.2003

So schnell ist die Ruhe vor dem Sturm vorbei, zum Glück hat die FAZ den Moment festgehalten und umweht uns mit einem Hauch von Erhabenheit. Sie zitiert auf ihrer gesamten ersten Feuilleton-Seite "Stimmen der Geschichte am Vorabend des Krieges". So lesen wir Worte eines kühl entschlossenen Friedrich des Großen, eines mitfühlenden Goethe, eines euphorischen Ernst Jüngers, und und und. 

Niemals seit dem Burenkrieg dürfte Großbritannien so tief gesunken", wütet die britische Schriftstellerin A.L. Kennedy ("Alles, was du brauchst") gegen ihre Regierung, die dem Land gleich zwei Kriege aufzwinge: "Ein unnötiger Krieg in den Städten und auf den Ölfeldern des Iraks, ein zweiter, länger andauernder bei uns zu Hause, in meinem eigenen Zuhause, das ich immer noch liebe, und überall in der Welt. Dieser Krieg wird ein Kampf zwischen kommerziellen Interessen und der Durchsetzung weltweiter Gerechtigkeit sein, zwischen der Zukunft unseres Planeten und dem Drang, Konsumentenkredite und selbstmörderischen Konsum zu steigern, zwischen Demokratie auf der einen, Bigotterie, Angst und Neid auf der anderen Seite.

Weitere Artikel: Der Autor und Exiliraker Hussain Al-Mozany ("Mansur oder der Duft des Abendlandes") träumt von einem Ende Saddam Husseins. Frankfurts Oberbürgermeisterin Petra Roth wehrt sich im Interview gegen Vorwürfe, die Stadt habe nicht genug getan, um die Buchmesse zu halten: "Die Buchmesse ist für mich die schönste Messe im ganzen Jahr, und ganz Frankfurt vibriert eine Woche lang, wenn sie stattfindet. Deshalb sage ich: Wenn man uns diese Messe wegnehmen will, und zwar mit zum Teil unlauteren Mitteln, dann kämpfe ich wie eine Löwin."

Regina Mönch erzählt von den ersten erbeuteten Kulturgütern, die Russland freiwillig zurückgegeben hat: "Vier Tonnen historischer Zeitungen aus drei Jahrhunderten, die kein deutscher Bibliothekar bisher gesehen hat". Siegfried Stadler zeichnet ein kurzes Profil von Birgit Peter, die den Gustav Kiepenheuer Verlag verlässt und neue Geschäftsführerin des Haus des Buches in Leipzig wird. Ilona Lehnhart war bei der Eröffnung des Instituto Cervantes in Berlin. Doris Meierhenrich berichtet von einer Tagung zu Erinnerung an Gewaltverbrechen.

Michael Althen weiß, dass bei der Oscar-Verleihung - so sie denn überhaupt stattfindet - die Sterne und Sternchen auf das Defilee über den roten Teppich verzichten werden. Bert Rebhandl liefert den Nachruf auf den Experimentalfilmer Stan Brakhage nach, der in der vergangenen Woche gestorben ist.

Auf der Medien-Seite meldet Michael Martens, dass die neue serbische Regierung die ersten Zeitungen schließen lässt, was er allerdings für keinen großen journalistischen Verlust hält, da es sich dabei meist um aggressiv nationalistische Boulevardblätter handele. Matthias Rüb erklärt den Kampf des Pentagons um eine gute Presse zum ersten Cyber-Krieg des 21. Jahrhunderts.

Besprochen werden Thomas Vinterbergs Film "It's all about love", mit dem sich Vinterberg vom "Dogma" verabschiedet, John Dews klinisch-kühle "Elektra"-Inszenierung in Halle, eine Schau der Sammlung Ruppert im Würzburger Kulturspeicher, ein "großartiges" Konzert der New Yorker Band Nada Surf in Frankfurt sowie Frank Goosens Roman "Pokorny lacht".