Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.03.2003. Die Welt interviewt Jonathan Franzen zum Krieg. Die SZ prophezeit den Amerikanern schlimme Traumata als Folge des Kriegs. Die taz sagt einen irakischen Bürgerkrieg voraus. Die NZZ sorgt sich um die archäologischen Schätze des Irak. Die FR empfand auf der Leipziger Buchmesse ein Carpe-Diem-Gefühl. In der FAZ träumt der Kurde Kendal Nezan von einem geeinten Europa.

SZ, 24.03.2003

Die große Schlacht könnte schon bald zu einem Trauma für die USA und Großbritannien werden, glaubt der Politikwissenschaftler Ferhad Ibrahim. Warum? Weil Amerika fast keine Verbündeten gewinnen konnte, weil die irakische Opposition zerstritten ist und weil die Zusammenarbeit der inneramerikanischen Institutionen nur als "dilettantisch" zu bezeichnen sei. Bis zuletzt zeigten sich "unüberwindbare Differenzen zwischen dem State Department und der CIA einerseits und dem Pentagon und dem Kongress andererseits. Während die zuletzt genannten Institutionen eine engere Zusammenarbeit mit der irakischen Opposition favorisierten, ignorierte das Außenministerium die Opposition fast völlig. Anscheinend lebt Colin Powell immer noch in der Hoffnung, dass man die irakischen Militärs für eine Palastrevolte gewinnen könne."

Auf der Dritten Seite machen sich Peter Münch, Wolfgang Koydl und Heiko Flottau lange Gedanken über die Bataillone der Bilder, "eingebettete" Journalisten und den Irrglauben der Weltbevölkerung, gut informiert zu sein. " 'Mich erinnert das ein wenig an gesalzene Nüsse', meint denn auch Alex Jones vom Shorenstein-Pressezentrum der Harvard-Universität zu dieser Art der Live-Berichterstattung. 'Sehr lecker, aber fast vollständig bar jeden Nährwertes.' "

Weiteres zum Krieg: Julia Encke stellt uns den Gentleman-Soldaten vor, mit Benimmbuch in der Tasche. Andrian Kreye stellt fest, dass sich die amerikanische Friedensbewegung langsam als gesellschaftliche Strömung etabliert hat. Auf der Medienseite erregt sich Hans Hoff über den Stil der Sportreportage, in den CNN seine Kriegsberichte fasst. Claudia Tieschky bewundert die deutschen Korrespondenten von Bagdad. Franziska Augstein stellt in der Serie Große Journalisten des 20. Jahrhunderts den katholischen Publizisten Joseph von Görres vor.

Weitere Artikel im Feuilleton: Reinhard J. Brembeck befürchtet, dass Christian Thielemann wegen Differenzen um seine Ausstiegskausel nun vielleicht doch nicht an die Münchner Philharmonie kommen wird. "Midt" berichtet von der breiten Front an Hamburger Künstlern und Kulturschaffenden, die die Entlassung der umstrittenen Kultursenatorin und ehemaligen Bild-Redakteurin Dana Horakova fordern. Thomas Meyer war auf einer Leipziger Tagung über die Rechtspraxis im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Ijoma Mangold freut sich über die schwarzen Zahlen der Leipziger Buchmesse. "Alex" empfiehlt Niels Werbers Aufsatz zur Geschichte des deutschen Antiamerikanismus im neuen "Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften".Gottfried Knapp beschreibt den Neubau für die Grafische Sammlung in Stuttgart sowie die erste Ausstellung mit Fotokunst und Dürer. Eine Meldung informiert uns über Kriegskritik auf der Verleihung des "Independent Spirit Awards" in Hollywood.

Besprochen werden Pina Bauschs mitreißendes Tanzstück in Wuppertal, ein tobender Musikabend mit dem Pianisten Grigorij Sokolov in München, Stephan Kimmigs fade Variante von Schnitzlers "Komödie der Verführung" in Berlin, Manfred Trojahns Operntriptychon "Limonen aus Sizilien" an der Kölner Oper, die Uraufführung von Sibylles Bergs Auftragsstück "Schau, da geht die Sonne unter" in Bochum, und Bücher, darunter zwei amerikanische Studien zur Geschichte der Zoologischen Gärten, Markus Orths' Schulroman "Lehrerzimmer", Michael Mandelbaums "The Ideas that conquered the World", eine Hommage an die nun durch Amerika bedrohten Ideen des Völkerbundes, sowie die erste und etwas seltsame Biografie der "Margot Honecker" von Ed Stuhler (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 24.03.2003

Cristina Erck sorgt sich um die archäologischen Schätze des Iraks (mehr hier oder hier), die unter einer Bombardierung doch mehr leiden könnten als unter Saddams Kulturpolitik: "In der Regierungszeit Saddam Husseins, der sich gern auf den Babylonierkönig Nebukadnezar bezieht, ist Babylon rekonstruiert worden, so dass es wie die orientalische Ausgabe eines Disneyland wirkt. 'Macht nichts', meint dazu die irakische Archäologin Selma ar-Radi, 'was neu gebaut ist, lässt sich leicht wieder beseitigen'. Aber ließe sich Authentisches wie das antike Ischtar-Tor oder das in seiner Abstraktion geradezu modern wirkende Löwenmonument retten, falls hier Bomben fielen?... Die Tatsache, dass Uruk und Abrahams Geburtsort Ur in der südlichen Flugverbotszone gelegen sind, hat ohnehin schon dazu geführt, dass im näheren Umfeld der Grabungsstätten Treffer von Kampfflugzeugen der amerikanischen und der britischen Luftwaffe niedergingen. "

In seinem Abschlussbericht zur Leipziger Buchmesse lässt es sich Joachim Güntner nicht nehmen, ein Wort über den "schönsten Stand der Messe" zu verlieren, der ihn mehr überzeugt hat als all die Kriegsdebatten und Tribunale: "Der Schweizer Buchhändler- und Verlegerverband hat mit der 'Swiss Lounge' einen viel bewunderten Auftritt hingelegt, der helvetische Imagepflege und ein Bekenntnis zur Buchmesse Leipzig glücklich verband... und vor allem die von Nicolas Hünerwadel entworfene Architektur der Lounge weckte helle Begeisterung." Catherine Silberschmidt entfaltet vor unserem geistigen Auge all den kulturellen Reichtum, den die armen kapverdischen Inseln zu bieten haben.

Besprochen werden Sibylle Bergs Spaß ab 40 "Schau, da geht die Sonne unter" in Bochum, Manfred Trojahns Oper "Limonen aus Sizilien" in Köln sowie Ponchiellis Oper "La Gioconda" im Opernhaus Zürich.

TAZ, 24.03.2003

Die taz bringt neun Seiten zum Krieg, darunter ein Interview mit dem irakischen Exilpolitiker Abdul al-Rekabi, der als Ministerpräsident einer Übergangsregierung gehandelt wird. Er ist davon überzeugt, dass es nach dem Krieg zu einem Machtkampf zwischen den USA und der irakischen Opposition kommen wird: "Ein Teil dieser Opposition wird gegen die Amerikaner antreten, die werden sich gegen die US-Besatzung formieren. Die werden eine Art nationalen Widerstand gegen die Amerikaner etablieren - das kann ich Ihnen versichern. Und Sie müssen wissen, die irakische Gesellschaft ist eine absolut hochgerüstete Gesellschaft. Hier sind privat mehr Waffen im Umlauf, als Leute in diesem Land leben."

Salam Nessib setzt seine lesenswerte Kolumne über die Kriegsberichterstattung bei Al Dschasira fort: "Nichts in den Kommentaren von al-Dschasira lässt auf eine besondere Sympathie für Saddam Hussein und sein Regime schließen. Aber die irrealen Bilder der sandfarbenen Panzer, die in großer Schnelligkeit durch die Wüste bewegt werden, scheinen kompakte, lebendige Mengen von Arabern, Muslimen, Amerikanern und Europäern zu gebären, die gegen den Krieg protestieren."

Weitere Artikel: Cristina Nord hat zugehört , als sich in Berlin Lehrer, Politiker und Filmwirtschaft unter dem Titel "Schule macht Kino" Gedanken darüber machten, wie man dem Nachwuchs beibringt, die guten von den schlechten Filmen zu unterscheiden. Besprochen werden das Konzert des ägyptischen Popsängers Mohammed Mounir in Berlin und Stefan Kimmigs enttäuschende Schnitzler-Inszenierung am Deutschen Theater in Berlin.

Schließlich Tom.

FR, 24.03.2003

Die kleine Jahreshauptversammlung der Buchbranche ist vorbei, und Ina Hartwig lässt Leipzig noch einmal vor ihrem geistigen Auge Revue passieren: "Tagsüber strahlte die Sonne über Leipzig, und nachts schien die Stimmung auf den Parties besonders ausgelassen zu sein. Tanz auf dem Vulkan? Es hatte etwas davon. Autoren, Verlagsleute und Journalisten verband ein Carpe-diem-Gefühl, wer weiß, was nächstes Jahr ist? In doppelter Hinsicht waren die Leipziger Buchmessetage in die Zukunft hin offen; das weltpolitische Unsicherheitsgefühl wurde flankiert durch die Krise der Buchbranche. Für die Verlage ist es schon bedrückend, wenn trotz ausgezeichnet besuchter Lesungen, trotz eines für seine unzynische Neugier gelobten Publikums, so gut wie nichts verkauft wird. Geschäftlich läuft für die Verlage rein gar nichts auf der Leipziger Messe. Der Programmdirektor des SuhrkampVerlags Rainer Weiss bezeichnete diese Messe denn auch als 'moralische Anstalt' (die Auszeichnungen der vergangenen Woche)."

Weitere Artikel: Elke Buhr räsoniert in Times mager über Oskars, Goldene Himbeeren und warum Dustin Hoffmann nicht in die deutsche Villa Aurora kommt. Adam Olschewski porträtiert den Soundbastler Holger Czukay (seine Seite), denn der wird fünfundsechzig und hat eine neue Platte herausgebracht.

Auf der Medienseite sieht Markus Brauck es nicht gerne, wie das Fernsehen in diesen gewalttätigen Tagen wieder einmal der Faszination der Macht erlegen ist. Mechthild Zschau nennt uns die Grimme-Preisträger.

Besprochen werden Dimiter Gotscheffs jenseitige Tschechow-Inszenierung am Schauspiel Frankfurt und Pina Bauschs neues Tanzstück in Wuppertal.

FAZ, 24.03.2003

Joseph Hanimann führt ein instruktives Gespräch mit Kendal Nezan, dem Leiter des Institut Kurde in Paris, der im Fall der kriegswilligen Türken an die Europäer appelliert: "Wäre Europa geeint, könnte es in diesem Punkt eine wichtige Rolle spielen. Es könnte die Türkei zur Ordnung rufen mit handfesten politischen und wirtschaftlichen Argumenten von der Art, eine eventuelle EU-Mitgliedschaft mit Geldern aus Brüssel sei absolut unvereinbar mit der Aufrechterhaltung von militärischen Vormachtstellungen außerhalb der Landesgrenzen. Leider habe ich bisher keine solche Mahnung gehört, selbst nicht aus dem gespaltenen Europa."

Weitere Artikel: Patrick Bahners antwortet auf den langen kriegsbefürwortenden Artikel des Soziologen Karl-Otto Hondrich aus der NZZ am Samstag ("Hondrich wird es womöglich als Kompliment empfinden, wenn man seine Logik gewaltsam nennt.") Niklas Maak schreibt eine hübsche Hymne auf den einst gefürchteten Porträtisten Jean-Etienne Liotard, der zur Zeit in Amsterdam ausgestellt wird: "Wer eine dicke Nase hatte, bekam eine dicke Nase gezeichnet. Sogar Maria Theresia von Österreich porträtierte er, als bestehe sie aus aufeinandergetürmten Würstchen." Jordan Mejias schickt einen atmosphärischen Bericht über die Sicherheitsmaßnahmen in New York. Richard Kämmerlings resümiert die im Pazifismus einige Leipziger Buchmesse. Hans-Jörg Rother stellt ein paar neue israelische Filme vor, ohne den Anlass zu nennen, wo er sie gesehen hat.

Auf der letzten Seite ergeht sich der russische Schriftsteller Anatoli Pristawkin in allgemeinen Erwägungen über den Krieg. Renate Schostak freut sich über das wiedereröffnete Schauspielhaus der Münchner Kammerspiele. Theo Stemmler macht uns mit der Dichterin Elisabeth I. bekannt - eines ihrer Gedichte ziert, von Stemmler übersetzt, auch die Seite 1 des Feuilletons. Auf der Medienseite unterhält sich Michael Hanfeld mit Chris Cramer, dem Chef von CNN International, der seine Jungs lobt, aber auch nicht mit Fragen zu den nach Behauptung der Tagesthemen manipulierten Bildern behelligt wird.

Besprochen werden Dramatisierungen des "Zauberbergs" und des "Törleß" in Dresden und Wiesbaden, Tschechows "Platonow" im Schauspiel Frankfurt, Manfred Trojahns Oper "Limonen aus Sizilien" in Köln und ein Konzert der Ärzte.

Weitere Medien, 24.03.2003

Die Welt bringt ein ausgesprochen lesenswertes Interview mit Jonathan Franzen, der im Irakkrieg weniger eine "Korrektur" als eine eine "Vertiefung von Wahnsinn, Irrglauben und Verzauberung" sieht: "Rein realpolitisch betrachtet, glaube ich nicht, dass dieser Krieg hätte vermieden werden können, weil es seit dem letzten Sommer klar war, dass George Bush entschlossen war, Krieg zu führen. Er hatte ein oder zwei gute Gründe, im Irak einzumarschieren, und massenweise schlechte. Es stellt Herrn Schröder gewissermaßen auf den Kopf, der, in der Wahl des vergangenen Jahres, ein oder zwei schlechte politische Gründe hatte, den Krieg abzulehnen, und massenweise gute. Seit vielen Wochen war es nun klar, dass es, sollte Saddam Hussein nicht überraschend zurücktreten, unmöglich sein würde für Bush, keinen Krieg zu beginnen in diesem Frühjahr. Sein wichtigstes Argument für einen Krieg war, dass es einen Krieg geben würde."