Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.03.2003. In der SZ fragt Timothy Garton Ash nach der Zukunft der Kurden im Irak. In der NZZ beschreibt der iranische Autor Faraj Sarkohi Hoffnungen und Ängste seines Landes angesichts des Krieges. In der taz betrachtet Peter Fuchs den Irak-Krieg aus systemtheoretischer Sicht. In der FAZ berichtet Hans-Christoph Buch über die traurige Lage in Haiti.

SZ, 31.03.2003

Der Historiker Timothy Garton Ash setzt keine besonderen Hoffnungen in den Irakkrieg, was die Lösung der Kurdenfrage angeht, eine Frage, die zweifellos die "größte Bombe" sei, "die im Irak tickt". Soll der Westen sich für eine Autonomie der irakischen Kurden einsetzen (was er ja auch für die Kosovo-Albaner getan hat), obwohl "verschiedene benachbarte Länder" wie die Türkei dadurch destabilisiert werden könnten? "Kluge Köpfe entwerfen bereits Pläne für eine 'Föderation', einschließlich eines autonomen Irakisch-Kurdistan und Sonderrechte für Kurden in ganz Irak. Doch ein Irakisch-Kurdistan in welchen Grenzen? Mit oder ohne die Ölfelder von Kirkuk? Wie lassen sich solche Sonderrechte für Kurden in anderen Teilen eines chaotischen, geteilten, besetzten Landes oder für irakische Araber in Kurdistan garantieren? ... Was wäre, wenn die Mehrheit aller irakischen Wähler die Wünsche einer kurdisch-irakischen Mehrheit nicht akzeptiert?"

Andrian Kreye hat ein ernüchterndes Gespräch mit dem Ex-Marine Anthony Swofford, dem Autor des Irakkrieg-Bestsellers "Jarhead" (Leseprobe), über den Krieg und die Begegnung mit dem Tod  geführt: "Ein kleiner Konvoi. Ein paar Truppentransporter. Und alle waren tot. Die Ausdünstung der Leichen im Mund war widerwärtig. Ich wusste, dass ich da etwas gesehen hatte, was ich nie sehen wollte und hoffentlich nie mehr sehen muss. (...) Ich habe mich in den Kreis dieser Männer gesetzt. Das war ein ganz schauriger Moment. Ich habe mich irgendwie sehr lebendig gefühlt, weil ich dem Tod so nah war und es nicht mein eigener war." Auf die Frage, ob er sich immer noch als Patriot fühle, antwortet Swofford: "Patriotismus bringt einen vielleicht zum Militär. Aber wenn wirklich gekämpft wird, bringt einen der Patriotismus nicht sonderlich weit. Die ganzen Flaggenschwenker, Schleifenträger - die stehen ja nicht mit dem Gewehr hinter dir, um dir zu helfen."

Weitere Artikel: Johannes Willms meldet eine kleine Sensation, nämlich dass in Paris der Nachlass der surrealistischen Galionsfigur Andre Breton versteigert wird. Henning Klüver berichtet, wie sich Genua auf sein Jahr als europäische Kulturhauptstadt (Ge-nova-04) vorbereitet. Regula Freuler war auf einer Tagung in Bern zum Thema Biografien, wurde aber aus den Beiträgen nicht recht froh. Fritz Göttler wundert sich, warum man auf einer Tagung beschließt, dass man nirgendwo besser lernt, als im Kino, leider aber feststellt, dass kaum jemand die nötige "Filmkompetenz" dazu besitzt, und dann ausgerechnet Parlamentarier ins Kino lädt, und ausgerechnet zu "Good bye Lenin!". "Aber" stellt Kontinuität bei den Boulevard-Blättern fest: Nun bekommt auch die Anti-Kriegs-Bewegung ihren Superstar. Außerdem wird der Tod des Ordensarchivars Pater Laurentius gemeldet.

Besprochen werden Luk Percevals "Othello"-Inszenierung an den Münchner Kammerspielen, Jan Bosses Inszenierung von Kleists Schauertragödie "Die Familie Schroffenstein" am Schauspielhaus Zürich, Nigel Lowerys Innsbrucker Operninszenierung von Rossinis "Turco d'Italia", eine Frankfurter Ausstellung über die "Buchgestaltung des Exils", die Ausstellungen in Zürich und München des belgischen Künstlers Francis Alys, Luis Mandokis neuer Film "24 Stunden Angst", Bücher - der Gedichtband "Aller Ding" von Bachmann-Preisträger Michael Lentz und ein Sammelband mit Aufsätzen über die (Un-) Ordnung der Geschlechter - und ein Hörbuch mit Reportagen von Günter Wallraff, vom Autor selbst gelesen (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 31.03.2003

In einem sehr interessanten Artikel denkt der Soziologe Peter Fuchs - systemtheoretisch - über die Verschwisterung von Krieg und Technik nach. Beide, Krieg und Technik, seien "große Simplifikatoren", und die Gut-oder-Böse-Unterscheidung des Krieges, wie die Rhetorik des chirurgischen Eingriffs beweise, sei dem Heil-oder-Kaputt-Denken der Technik sehr ähnlich, da sie Komplexitäten zusammenschnurren lasse und die Welt als Feld der Fehlerbehebung begreife. "Dabei schafft es der Krieg, dass die Leitunterscheidung der Technik, heil/kaputt, eine seltsam paradoxe Form annimmt. Die Technik muss, wenn man so will, heil sein, sie muss funktionieren, damit etwas kaputt geht, nicht mehr funktioniert. Und das, was kaputt gemacht wird, war im eigentlichen Sinne schon kaputt, so dass die Technik durch Kaputtmachen im Dienst des Heilmachens steht, im Dienst der Herstellung eines Zustandes, der dann wieder so funktionieren wird, wie die Kaputtmacher es wünschen."

Selim Nassib beobachtet weiter für uns die Kriegsberichterstattung des arabischen Fernsehsenders al-Dschasira: "Auf al-Dschasira entdeckt das irakische sunnitische Klansystem, vom Laizismus geprägt, plötzlich die patriotischen Tugenden der Schiiten, die es seit Beginn grausam unterdrückt hat. Jetzt, wo die britische Armee einen Teil des schiitischen Südens besetzt hält und einen Aufstand der Menschen gegen Saddam Hussein zu erreichen versucht, wird nichts ausgelassen, um dieser Gemeinschaft zu schmeicheln, die über 50 Prozent der irakischen Bevölkerung umfasst."

Auf der Medienseite berichtet Georg Blume von dem "doppelten Bilderschock", der auf die Chinesen niedergeht: der Schock des Irakkrieges selbst, aber vor allem die erstmalig umfassende Medienberichterstattung über ein außerchinesisches Ereignis.

Besprochen werden das erste Berliner Gastspiel des irakischen Sängers und Gitarristen Illham Al-Madfai im Rahmen des Festivals "DisORIENTation" und Caryl Curchills "Die Kopien" an der Berliner Schaubühne,

Schließlich TOM.

FR, 31.03.2003

Findet erst in der Polemik der Intellektuelle zu sich selbst? Ist gar die intellektuelle Kontroverse "der Kreissaal des engagierten Theoretikers"? Über diese Fragen wollte eine Tagung im Pariser Heinrich-Heine-Haus Aufschluss geben und Roman Luckscheiter war dabei. Das einhellige Fazit sei allerdings eher zu Lasten der Polemik ausgefallen. "So erwies sich die Polemik als potentielle Falle, zumindest als problematische Grundlage öffentlichen Disputs. Der friedliche Beobachterton der Referenten hatte darüber hinaus etwas Erschreckendes: Mit der Historisierung von Kontroversen verschwindet auch ihre Dramatik, ihr Gehalt."

Weitere Artikel: Ina Hartwig erklärt, dass die zurückgewonnene Unabhängigkeit des Berlin Verlags wohl nur eine Fiktion ist, denn neue Investoren schaffen auch "neue Abhängigkeiten". In Times mager versucht sich "ChTh" an einer Poetik des Bindestrichs. Schließlich wird gemeldet, dass Michael Moore einen Dokumentarfilm über den 11. September plant.

Auf der Medienseite verweist Jenny Niederstadt auf das traurige Los des journalistischen Nachwuchses angesichts der Zeitungskrise und berichtet, dass der Jugendschutz über die Zumutbarkeit der Fernseh-Kriegsberichterstattung berät.

Besprochen werden Luk Percevals "Othello" zur Wiederöffnung der Münchner Kammerspiele und Stefan Bachmanns Inszenierung von Paul Claudels "seidenem Schuh" am Theater Basel.

NZZ, 31.03.2003

Der exil-iranische Schriftsteller Faraj Sarkohi (mehr hier) beschreibt, was die Menschen im Iran denken, nun, da der eine der beiden einstigen Erzfeinde, der "große Satan", dabei ist, den anderen Erzfeind, Saddam Hussein, den Garaus zu machen. "Nach Berichten von Journalisten befürwortet die Mehrheit der Menschen offen einen Machtwechsel im Irak. Nicht zuletzt hoffen die gläubigen Muslime darauf, dass die Nachfolgeregierung im Irak es ihnen ermöglichen werde, bald wieder ungestört die Pilgerfahrt nach Najaf und Kerbela zu den Grabmälern der beiden schiitischen Imame Ali und Hussein unternehmen zu können. Hinter den Aussagen vieler Menschen verbirgt sich auch die Hoffnung auf einen Regimewechsel in Iran mit Hilfe Amerikas, auch wenn dies fern der Realität sein mag. Diese Hoffnung offenbart Wut, Angst, Desillusionierung und Hoffnungslosigkeit. Wut auf die Regierung, Angst vor der Unterdrückung durch das Regime, Desillusionierung angesichts des Scheiterns der religiösen Reformer, Verlust der Hoffnung, selbst etwas ausrichten zu können."

Weitere Artikel: Maike Albath nimmt uns mit auf Besuch zu Antonio Tabucchi (zuletzt "Es wird immer später") ins toskanische Vecchiano. Stephan Templ weist darauf hin, dass es sich bei Oskar Kokoschkas Porträt des finnischen Sängers Alexis Af Enehjelm, das sich im Besitz der Hamburger Kunsthalle befindet, um ein "arisiertes" Gemälde handeln soll. Klaus Bartels erklärt, woher der Begriff "Kandidat" rührt.

Besprochen werden Feridun Zaimoglus und Günter Senkels glanzvolle "Othello"-Version in München (auch die Empörung des Publikums hat der Rezensentin gefallen: "Einen solchen Buh-Chor traute man der dezenten Eleganz dieses Publikums gar nicht zu"), Paul Claudel Stück "Der Seidene Schuh" in Basel sowie ein Konzert mit Vladimir Ashkenazy und Mikhail Pletnev in Zürich, die Rachmaninow Gerechtigkeit widerfahren ließen.

FAZ, 31.03.2003

Der Schriftsteller Hans-Christoph Buch hat kurz vor dem 200. Jahrestag der Revolution die zweitälteste Republik der Neuen Welt besucht. Haiti gilt wegen der Verwicklung in den Drogenhandel bei den USA als Schurkenstaat, und auch sonst steht es um das Land nicht zum besten: "Ein Dollar kostet fünfzig Gourdes, zehnmal soviel wie unter Baby Doc, die Arbeitslosigkeit liegt bei siebzig Prozent, und Grundnahrungsmittel sind für die meisten unbezahlbar geworden. Seit 1997 haben sich die Lebenshaltungskosten verdoppelt, während die Staatsausgaben durch die Geldentwertung auf die Hälfte zusammengeschmolzen sind. Der Dauerstreit zwischen Regierung und Opposition blockiert fünfhundert Millionen Dollar Hilfsgelder, weil beide sich nicht auf einen Minimalkonsens einigen können."

Weitere Artikel: Dietmar Dath weist der Friedensbewegung die Aufgabe zu, "den negativen, den gegenkulturellen Westen zu erschaffen, wo der positive zerfällt". Der Militärexperte Andreas Kilb teilt mit: "Der Irak-Feldzug ist, anders als der Golfkrieg von 1991, ein Flächenkrieg mit sich verschiebenden Fronten, und deshalb ähnelt seine Ikonografie jener des Zweiten Weltkriegs." Christian Geyer findet im Kommentar ein paar schnippische Worte für folgenden Satz des Bahnchefs Mehdorn zum neuen Preissystem aus einem Spiegel-Interview: "Im übrigen beschneiden wir einem Bahnreisenden ja nicht das Recht, sich für viel Geld als 136. Hering in den Flur eines voll besetzten ICE zu quetschen. Er weiß das jetzt aber vorher." Dieter Bartetzko annonciert den Wiederaufbau der Frankfurter Gerbermühle. Angelika Heinick meldet, dass der Spiegelsaal von Versailles und das Musee de l'Orangerie in Paris, auch mit Hilfe von Sponsorengeldern, renoviert werden sollen. Christian Schwägerl begrüßt in einer Glosse die südpazifische Inselgruppe Palau in der "Koalition der Willigen".

Für die Medienseite besucht Michael Hanfeld zum 40. Geburtstag des Senders das ZDF in Mainz und schildert, wie die Irak-Berichterstattung des Senders koordiniert wird. Gina Thomas schildert den Aufwand britischer Sender, zumal der BBC in der Kriegsberichterstattung. Auf der letzten Seite berichtet Erna Lackner über den den Fund einiger Pergamentblätter im Zisterzienserstift Zwettl, die die "ältesten Texte zum Nibelungenstoff" enthalten könnten . Und Katja Gelnsky porträtiert den Richter Miguel Estrada, der möglicherweise zum ersten hispanischen Richter am Obersten Gerichtshof der USA ernannt werden wird.

Der Montag hat das Gute, dass man nicht selten eine Theaterkritik von Gerhard Stadelmaier lesen darf. Heute besingt er anlässlich der Basler Inszenierung von Paul Claudels "Seidenem Schuh" Gottes trauriges Karriere-Ende: "Man vertrieb ihn (zusammen mit dem Dramatiker) vom Schöpferthron. An seine Stelle setzte sich der Regisseur. Es gab von nun an nichts Höheres mehr. Vor allem nicht in Basel."

Besprochen werden im übrigen Jean-Philippe Rameaus Oper "Les Boreades" in Paris, ein "Othello" unter Luc Perceval in München, das Berliner Festival Maerzmusik, welches durch die Anwesenheit der Bundeskulturministerin beehrt wurde und Peter Sehrs neuer Film "Love the Hard Way".

Weitere Medien, 31.03.2003

In der Welt fürchtet der Schriftsteller Mike Heppner ("The Egg Code" ), dass die Schlacht um den Irak niemals enden könnte, was den Durchhaltewillen an der der Heimatfront arg strapazieren würde: "Jetzt sehen wir uns mit der Realität eines Krieges konfrontiert, der Wochen, Monate oder, Gott verhüte, Jahre dauern könnte. In jenem Sinn, dass Konflikte wie dieser per se nicht einfach gelöst werden, könnte dieser Krieg sogar niemals enden. Man stelle sich vor: Was würde ein absolutes Ende mit sich bringen? Saddams Kopf auf einem Pfahl? Damit wäre nichts zu Ende. Genau so wenig wie mit dem Sturz des derzeitigen Regimes im Irak oder der Verhaftung aller al-Quaida-Mitglieder einschließlich Bin Ladens etwas zu Ende wäre. Das wären zwar Ereignisse, aber keine Lösungen. Stattdessen ist der Konflikt epochal und die Idee eines echten und beständigen Sieges absurd. Der Tod Saddams, der Sturz seines Regimes wären etwa so aussagekräftig wie ein Friedensvertrag im Mittleren Osten."
Stichwörter: Irak